Hyperinflation in den 1920ern - Warum am 6. Januar 1923 den Berlinern nicht nur der Kohl ausging

Do 05.01.23 | 18:08 Uhr | Von Matthias Schirmer
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Archivbild: Menschen während der Hyperinflationszeit versuchen in Berlin an Grundnahrungsmittel zu kommen. (Quelle: dpa/AP)
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Audio: rbb24 Inforadio | 06.01.2023 | Harald Asel und Matthias Schirmer | Bild: dpa/AP

Die Händler in der Zentralmarkthalle am Alex treten am 6. Januar 1923 in einen wilden Streik. Der Berliner Magistrat hatte die Standmieten auf 29.800 Mark erhöht. Die Straßenschlacht wird zum Paukenschlag für das Jahr der Hyperinflation. Von Matthias Schirmer

Die Morgenausgabe der "Berliner Volkszeitung" fragt am 6. Januar 1923: "Tumultszenen ... Gewalttätigkeiten der streikenden Händler. Ist die Polizei machtlos?" Das Boulevardblatt hat seinen Frühreporter zum Alexanderplatz geschickt, zur Zentralmarkthalle 1 an der Dircksenstraße in Berlin-Mitte.

Während die übrigen Großhändler sich weigern, Obst an Kleinhändler zum Weiterverkauf zu veräußern, hat es sich die Firma Plaumann Wand & Köppke dort am Morgen als Streikbrecher versucht. Und das ist ihr und der Straße schlecht bekommen.

Solange die Standmieten der Markthalle und die Gebühren der Bahn für die Anlieferung von Agrarprodukten so hoch sind, soll Schluss sein mit Lebensmitteln in den Berliner Läden. Das ist die Logik der streikenden Großhändler. Sie werfen die Pferdefuhrwerke mit Obst und Gemüse um. Sie zwingen Plaumann Wand & Köppke, ihr gerade eingenommenes Geld zurückzugeben an die Einkäufer, kleine "Grünzeughändler" und "Krauter" der Stadt.

Die aber wollen kein Geld zurück, sie wollen Kohl und Salat.

Nur ein paar staatliche Verkaufsstände haben geöffnet - unter Polizeischutz

Kein Zufall, dass an diesem 6. Januar ausgerechnet hier, am Alex, über 1.000 streikende Demonstranten die schmale Straße verstopfen. Denn die riesigen Markthallen, mit Güterbahn-Gleisanschluss und modernsten unterirdischen Kühlanlagen versehen, sind ein wichtiges Versorgungszentrum der Stadt. Hier im Großmarkt wird 1923 täglich tonnenweise Ware von Gemüsebauern aus ganz Deutschland umgeschlagen. Doch an diesem Tag machen es die Streikenden den Käufern schwer, in die Hallen zu kommen.

Drinnen haben ohnehin nur noch ein paar staatliche Verkaufsstände geöffnet - und das nur unter "Bedeckung", also mit massivem Polizeischutz. Der Magistrat plant, eigene 50 Gemüsewaggons aus Holstein zu organisieren - und scheitert damit, unter anderem durch "Sympathiestreiks" der Erzeuger.

Am späteren Abend kommt es in Berlin zu weiteren Tumulten. Diesmal in der Ackerstraße vor der Markthalle VI und im Scheunenviertel. Dort wird ein Obst-Großhändler in der Dragonerstraße 24 (heute Max Beer Straße) vom "Pöbel" gefangengenommen und im Keller eingeschlossen.

Hyperinflation - eigene Laderäume nur fürs Papiergeld

Der merkwürdige Großhändler-Streik kommt nicht sehr überraschend – schon vor Jahreswechsel war er angekündigt. Und er kommt nicht von ungefähr. Ein Blick nach rechts oben auf die Titelseite der "Berliner Volkszeitung" lässt den Grund erahnen: 20 Mark kostet das Boulevardblatt. So viel legen die Berlinerinnen und Berliner auch für eine Schrippe hin. Bald werden sich diese bereits erstaunlichen Preise ins Phantastische, in die Millionen und Milliarden hochschrauben.

Die Inflation hat bereits während des Ersten Weltkriegs, 1916, begonnen. Aber die Spirale dreht sich immer schneller. Berlin steht im Januar 1923 am Beginn der Hyperinflation. Das heißt: die Preise steigen nun monatlich über 50 Prozent. Ab Sommer wird die Entwertung explodieren.

Händler werden dann eigene Lagerräume nur fürs Papiergeld brauchen. Was sind da also im Januar schon 23 Mark, also drei Mark mehr, fürs Brötchen?

Archivbild: Papiergeld bis unter die Decke in einer deutschen Bank zur Zeit der Hyperinflation nach dem ersten Weltkrieg. 1923 war ein US-amerikanischer Dollar 800 Millionen deutsche Mark wert. (Quelle: dpa/Everett Collection)
Ganze Räume werden angemietet, um das Geld zu stapeln Bild: dpa/Everett Collection

Desaster mit Vorankündigung

Ende Dezember hatte die Berliner Börsenzeitung (50 Mark) bereits berichtet, dass "die Obst-, Gemüse- und Räucherwarengroßhändler in der Zentralmarkthalle beschlossen (haben), als Abwehrmaßnahme gegen die zum 1. Januar erfolgende beträchtliche Erhöhung der Eisenbahnfrachten und Standmieten ihre Betriebe zum 1. Januar zu schließen". Das Händlerargument: Früher habe hier ein Stand 67 Mark gekostet, jetzt verlange der Magistrat Berlins 29.800 Mark dafür. Die Händlermarge werde angesichts solcher staatlich verursachten Zusatzkosten unerträglich geschrumpft.

Es ist also eigentlich ein Streik von Großhändlern gegen die Stadtregierung, den Magistrat – also gegen Oberbürgermeister Gustav Böß und seinen Polizeipräsidenten Wilhelm Richter. Denn der Magistrat setzt die Standmieten in seinen Markhallen fest – und der Polizeipräsident hat mit der Marktpolizei für Ordnung zu sorgen.

Archivbild: Das Archivbild von 1923 zeigt ein Schild und einen sitzenden Mann in einem Wartezimmer des deutschen Arztes Dr.med.Wagner. Aufgrund der Kohlenknappheit während der Inflation im Jahr 1923 wurden die Patienten gebeten, bei ihrem Besuch ein Brikett mitzubringen, um das Wartezimmer zu heizen. Vor 75 Jahren stiegen in Deutschland die Preise rapide an. In Berlin kletterte der Preis für ein Kilogramm Butter von 2,60 Mark vor dem ersten Weltkrieg auf 5,6 Billionen Mark im November 1923. Mit dem rapiden Verfall des Geldwertes sank der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten dramatisch. (Quelle: dpa/Bildfunk)
Bild: dpa/Bildfunk

Zuviel städtische Bürokratie?

Der Magistrat fühlt sich gezwungen, die Mieten zu erhöhen: Er bezahlt für die Infrastruktur der Hallen. Strom- und Gaspreise klettern schließlich ständig höher. Die Standmieter hingegen fordern: Reduziert lieber den Beamten- und Angestelltenapparat radikal! Die "aufgeblähte" Hallenverwaltung muss entbürokratisiert werden. Der Polizeipräsident donnert am zweiten Streiktag schon mit einer amtlichen "Mahnung": Auch ein Großhändler habe patriotische Pflichten. Wer aber streike "setzt heute doppelt wertvolle Vorräte an Lebensmitteln der Gefahr des Verderbens aus und gefährdet bei längerer Dauer die Versorgung der Bevölkerung." Wer das tue – so seine Drohung – zwinge den Polizeipräsidenten zur "Handelsuntersagung" – also Berufsverboten für die Händler.

Der Kompromiss

Magistrat und Stadtverordnete, Großhändlerdelegierte und Polizei kommen nun fast täglich zu Krisensitzungen zusammen. Das Reichsinnenministerium wird eingeschaltet. Zusagen werden gemacht und wieder zurückgezogen. Schließlich zeichnet sich ein Kompromiss ab. Weitere Standmieterhöhungen will der Magistrat auf Eis legen.

Und er ist bereit, die fälligen Januarmieten bis in den Februar zu stunden. Allen ist klar: Wer später zahlt, zahlt deutlich weniger.

Die Berliner sind sauer

Die Berliner Bevölkerung reagiert auf den Streik allergisch. Für Otto Normalverbraucher sitzen die Schuldigen auf beiden Seiten: Die Stadt bekommt es wieder mal nicht hin, und die Großhändler sind nur am eigenen Profit interessiert. Außerdem ist Lebensmittelknappheit seit dem Hungerwinter 1916/17 sehr präsent in den Köpfen. Eines wollen die Berliner auf keinen Fall wieder erleben: endlos lange Schlangen vor Markthallen wie in der Kriegszeit ("Lebensmittelpolonaisen") und Schlägereien um ein paar Kartoffeln. Und dass Großhändler künstlich die Bevölkerung "aushungern", kommt nicht nur im SPD-Blatt Vorwärts gar nicht gut an.

Archivbild: Inflation / Warteschlange vor der Reichsbank, 1923, Weimarer Republik. (Quelle: dpa/akg)
Inflation in Berlin: Warteschlangen vor der ReichsbankBild: dpa/akg

Die Lage normalisiert sich. Langsam. Am 9. Januar 1923 machen die ersten Fleisch- und Fischhändler in der Zentralmarkthalle wieder auf. Doch wirklich befriedet ist die Lage noch nicht: Einige der Weiterstreikenden werfen an diesem Tag Stinkbomben zwischen Schnitzel und Koteletts.

Der 6. Januar 1923 ist ein Auftakt mit Paukenschlag für das Jahr der Hyperinflation. Es wird bestimmt sein von völlig unkalkulierbar gewordenen Preisen, von kleineren und größeren Revolten. Die Angst vor der Rückkehr des Hungers der Weltkriegsjahre wird die politische Landschaft der jungen Weimarer Republik weiter radikalisieren. Bis November, bis zur Einführung der Rentenmark, werden der kleinen Explosion an der Markthalle 1 noch so einige weitere folgen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 06.01.2023, Podcastserie "Heute minus 100"

Beitrag von Matthias Schirmer

13 Kommentare

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  1. 13.

    Aha. Und wo glauben sie einen Widerspruch zu entdecken?
    "Gaspreise und Inflation/Geldentwertung waren die Ursachen."

    Aber meine Kernaussage haben sie ignoriert.
    "Ich mache mir über den Hintergrund für den Artikel ernsthafte Gedanken.....Könnte sich ähnliches wiederholen?....... "
    Wie sehen Sie dass? Stehen die Zeichen der Zeit auf Wiederholung?

  2. 12.

    Nö, die hohen Strom- und Gaspreise waren eine Auswirkung der Hyperinflation, aber nicht die Ursache.

  3. 11.

    >"Mal hypothetisch: Was wäre denn jetzt, wenn Polen und Griechenland mit ihren Reparationsforderungen an Deutschland heute durchkommen würden?"
    Wirklich sehr hypothetisch. In unserem Leben wird das nicht passieren. Wann sind Forderungen verjährt? ;-))
    Da gabs schon reichlich Diskussion drüber und auch reichlich internationale Abkommen. Das ist auch ein ganz anderes Thema der heutigen Zeit.

  4. 10.

    Bin ich mir auch ganz sicher, daß dieser runse Jahrestag ausschlaggebend war, deswegen wurde ja auch so viel zum 100. Jahrestag von Versailles gemacht - Sie können sich sicher erinnern.

  5. 9.

    " reine Finanzkrise als Nachwirkung des 1. Weltkrieges" Nette Umschreibung, Sie meinen wahrscheinlich die Reparationszahlungen für Deutschland aus Versailles als Ursache, da bei Zahlungsstockungen an F/UK diese auch nicht ihre Zahlungen Richtung USA aufrechterhalten konnten. Mal hypothetisch: Was wäre denn jetzt, wenn Polen und Griechenland mit ihren Reparationsforderungen an Deutschland heute durchkommen würden?

  6. 8.

    der hunderte Jahrestag? Ja, da bin ich mir auch sicher, das der ausschlaggebend fprcden Artikel war.

  7. 7.

    Die wirtschaftlichen Verpflechtungen, Währungssysteme und Kontrollmechanismen sind heute andere. Und weil das Finanzwesen aus solchen Krisen immer was gelernt hat und Politik auch nachsteuert. Dies 1923 war eine reine Finanzkrise als Nachwirkung des 1. Weltkrieges. Gegenüber dem damals ist das bissl Inflation heute allenfalls ein wenig Sand im Getriebe.

  8. 5.

    "Unser Alltag heute ist zwar nicht mit dem 1923 zu vergleichen" Ja, moderner - aber ist der Alltag grundsätzlich so viel anders? Wie sieht es denn mit der Verleichbarkeit/Nichtvergleichbarkeit der Gesamtlage in Europa aus (UK,F,D,PL,RUS als europäische Hauptakteure + USA in Übersee als wichtiger Akteur seit dem, was wir heute 1.WK nennen)?

  9. 4.

    Na war ja fast wie heutzutage. Unsere Regierung bringt uns schon noch dahin.

  10. 3.

    Selbstständige,
    alleiverantwortliche Unternehmer,
    streiken gegen den Magistrat von Berlin ?
    Streik, ohne Unternehmergewerkschaft ?
    Echt jetzt ?
    War Das nicht eine Revolution ?
    Bürger gegen Obrigkeit?

  11. 2.

    Interessanter Artikel. Unser Alltag heute ist zwar nicht mit dem 1923 zu vergleichen, dennoch bleibt die Meinung des Volkes seinerzeit heute auch noch lebendig: "Die Stadt bekommt es wieder mal nicht hin, und die Großhändler sind nur am eigenen Profit interessiert."
    Wobei es heute zwei eigenständige Aussagen sind:
    - Die Stadt bekommt es wieder mal nicht hin.
    - Die Großhändler (Handelskonzerne) sind nur am eigenen Profit interessiert.
    Ein kausaler Zusammenhang zwischen der gefühlten Unorganisiertheit der Verwaltung bzw. Politik und dem Ausnutzen aller Nachfragepotenziale der Handelskonzerne besteht heute nicht so sehr.

  12. 1.

    Ich mache mir über den Hintergrund für den Artikel.
    Gaspreise und Inflation/Geldentwertung waren die Ursachen.
    Könnte sich ähnliches wiederholen? Wenn die gegenwärtige Entwicklung weiter geht, wird es auch zu Versorgungsengpässen führen?

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