Hyperinflation in den 1920ern - Warum am 6. Januar 1923 den Berlinern nicht nur der Kohl ausging
Die Händler in der Zentralmarkthalle am Alex treten am 6. Januar 1923 in einen wilden Streik. Der Berliner Magistrat hatte die Standmieten auf 29.800 Mark erhöht. Die Straßenschlacht wird zum Paukenschlag für das Jahr der Hyperinflation. Von Matthias Schirmer
Die Morgenausgabe der "Berliner Volkszeitung" fragt am 6. Januar 1923: "Tumultszenen ... Gewalttätigkeiten der streikenden Händler. Ist die Polizei machtlos?" Das Boulevardblatt hat seinen Frühreporter zum Alexanderplatz geschickt, zur Zentralmarkthalle 1 an der Dircksenstraße in Berlin-Mitte.
Während die übrigen Großhändler sich weigern, Obst an Kleinhändler zum Weiterverkauf zu veräußern, hat es sich die Firma Plaumann Wand & Köppke dort am Morgen als Streikbrecher versucht. Und das ist ihr und der Straße schlecht bekommen.
Solange die Standmieten der Markthalle und die Gebühren der Bahn für die Anlieferung von Agrarprodukten so hoch sind, soll Schluss sein mit Lebensmitteln in den Berliner Läden. Das ist die Logik der streikenden Großhändler. Sie werfen die Pferdefuhrwerke mit Obst und Gemüse um. Sie zwingen Plaumann Wand & Köppke, ihr gerade eingenommenes Geld zurückzugeben an die Einkäufer, kleine "Grünzeughändler" und "Krauter" der Stadt.
Die aber wollen kein Geld zurück, sie wollen Kohl und Salat.
Nur ein paar staatliche Verkaufsstände haben geöffnet - unter Polizeischutz
Kein Zufall, dass an diesem 6. Januar ausgerechnet hier, am Alex, über 1.000 streikende Demonstranten die schmale Straße verstopfen. Denn die riesigen Markthallen, mit Güterbahn-Gleisanschluss und modernsten unterirdischen Kühlanlagen versehen, sind ein wichtiges Versorgungszentrum der Stadt. Hier im Großmarkt wird 1923 täglich tonnenweise Ware von Gemüsebauern aus ganz Deutschland umgeschlagen. Doch an diesem Tag machen es die Streikenden den Käufern schwer, in die Hallen zu kommen.
Drinnen haben ohnehin nur noch ein paar staatliche Verkaufsstände geöffnet - und das nur unter "Bedeckung", also mit massivem Polizeischutz. Der Magistrat plant, eigene 50 Gemüsewaggons aus Holstein zu organisieren - und scheitert damit, unter anderem durch "Sympathiestreiks" der Erzeuger.
Am späteren Abend kommt es in Berlin zu weiteren Tumulten. Diesmal in der Ackerstraße vor der Markthalle VI und im Scheunenviertel. Dort wird ein Obst-Großhändler in der Dragonerstraße 24 (heute Max Beer Straße) vom "Pöbel" gefangengenommen und im Keller eingeschlossen.
Hyperinflation - eigene Laderäume nur fürs Papiergeld
Der merkwürdige Großhändler-Streik kommt nicht sehr überraschend – schon vor Jahreswechsel war er angekündigt. Und er kommt nicht von ungefähr. Ein Blick nach rechts oben auf die Titelseite der "Berliner Volkszeitung" lässt den Grund erahnen: 20 Mark kostet das Boulevardblatt. So viel legen die Berlinerinnen und Berliner auch für eine Schrippe hin. Bald werden sich diese bereits erstaunlichen Preise ins Phantastische, in die Millionen und Milliarden hochschrauben.
Die Inflation hat bereits während des Ersten Weltkriegs, 1916, begonnen. Aber die Spirale dreht sich immer schneller. Berlin steht im Januar 1923 am Beginn der Hyperinflation. Das heißt: die Preise steigen nun monatlich über 50 Prozent. Ab Sommer wird die Entwertung explodieren.
Händler werden dann eigene Lagerräume nur fürs Papiergeld brauchen. Was sind da also im Januar schon 23 Mark, also drei Mark mehr, fürs Brötchen?
Desaster mit Vorankündigung
Ende Dezember hatte die Berliner Börsenzeitung (50 Mark) bereits berichtet, dass "die Obst-, Gemüse- und Räucherwarengroßhändler in der Zentralmarkthalle beschlossen (haben), als Abwehrmaßnahme gegen die zum 1. Januar erfolgende beträchtliche Erhöhung der Eisenbahnfrachten und Standmieten ihre Betriebe zum 1. Januar zu schließen". Das Händlerargument: Früher habe hier ein Stand 67 Mark gekostet, jetzt verlange der Magistrat Berlins 29.800 Mark dafür. Die Händlermarge werde angesichts solcher staatlich verursachten Zusatzkosten unerträglich geschrumpft.
Es ist also eigentlich ein Streik von Großhändlern gegen die Stadtregierung, den Magistrat – also gegen Oberbürgermeister Gustav Böß und seinen Polizeipräsidenten Wilhelm Richter. Denn der Magistrat setzt die Standmieten in seinen Markhallen fest – und der Polizeipräsident hat mit der Marktpolizei für Ordnung zu sorgen.
Zuviel städtische Bürokratie?
Der Magistrat fühlt sich gezwungen, die Mieten zu erhöhen: Er bezahlt für die Infrastruktur der Hallen. Strom- und Gaspreise klettern schließlich ständig höher. Die Standmieter hingegen fordern: Reduziert lieber den Beamten- und Angestelltenapparat radikal! Die "aufgeblähte" Hallenverwaltung muss entbürokratisiert werden. Der Polizeipräsident donnert am zweiten Streiktag schon mit einer amtlichen "Mahnung": Auch ein Großhändler habe patriotische Pflichten. Wer aber streike "setzt heute doppelt wertvolle Vorräte an Lebensmitteln der Gefahr des Verderbens aus und gefährdet bei längerer Dauer die Versorgung der Bevölkerung." Wer das tue – so seine Drohung – zwinge den Polizeipräsidenten zur "Handelsuntersagung" – also Berufsverboten für die Händler.
Der Kompromiss
Magistrat und Stadtverordnete, Großhändlerdelegierte und Polizei kommen nun fast täglich zu Krisensitzungen zusammen. Das Reichsinnenministerium wird eingeschaltet. Zusagen werden gemacht und wieder zurückgezogen. Schließlich zeichnet sich ein Kompromiss ab. Weitere Standmieterhöhungen will der Magistrat auf Eis legen.
Und er ist bereit, die fälligen Januarmieten bis in den Februar zu stunden. Allen ist klar: Wer später zahlt, zahlt deutlich weniger.
Die Berliner sind sauer
Die Berliner Bevölkerung reagiert auf den Streik allergisch. Für Otto Normalverbraucher sitzen die Schuldigen auf beiden Seiten: Die Stadt bekommt es wieder mal nicht hin, und die Großhändler sind nur am eigenen Profit interessiert. Außerdem ist Lebensmittelknappheit seit dem Hungerwinter 1916/17 sehr präsent in den Köpfen. Eines wollen die Berliner auf keinen Fall wieder erleben: endlos lange Schlangen vor Markthallen wie in der Kriegszeit ("Lebensmittelpolonaisen") und Schlägereien um ein paar Kartoffeln. Und dass Großhändler künstlich die Bevölkerung "aushungern", kommt nicht nur im SPD-Blatt Vorwärts gar nicht gut an.
Die Lage normalisiert sich. Langsam. Am 9. Januar 1923 machen die ersten Fleisch- und Fischhändler in der Zentralmarkthalle wieder auf. Doch wirklich befriedet ist die Lage noch nicht: Einige der Weiterstreikenden werfen an diesem Tag Stinkbomben zwischen Schnitzel und Koteletts.
Der 6. Januar 1923 ist ein Auftakt mit Paukenschlag für das Jahr der Hyperinflation. Es wird bestimmt sein von völlig unkalkulierbar gewordenen Preisen, von kleineren und größeren Revolten. Die Angst vor der Rückkehr des Hungers der Weltkriegsjahre wird die politische Landschaft der jungen Weimarer Republik weiter radikalisieren. Bis November, bis zur Einführung der Rentenmark, werden der kleinen Explosion an der Markthalle 1 noch so einige weitere folgen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 06.01.2023, Podcastserie "Heute minus 100"