Zerstörte jüdische Plattenlabels in der Pogromnacht - "Die Musiker sollten nicht als Opfer, sondern als Künstler dargestellt werden"
Der Dokumentarfilm "I dance, but my heart is crying" erzählt die Geschichte von zwei jüdischen Plattenlabels aus Berlin, die in der Reichspogromnacht 1938 zerstört wurden. Ein Gespräch über die Wiederbelebung dieser Musik nach mehr als 80 Jahren.
rbb: Herr Weinert, wie sind Sie auf die Geschichte der zerstörten jüdischen Schallplattengeschäfte gestoßen?
Christoph Weinert: Der Schweizer Co-Produzent Yves Kugelmann hat mir eines Tages von einem gewissen Hirsch Lewin erzählt, der in Berlin in den dreißiger Jahren ein Plattenlabel hatte und während des Nationalsozialismus noch Aufnahmen machen konnte. Lewins Plattenladen ist samt Matrizen, Noten und Texten in einer Nacht, nämlich in der Pogromnacht am 9. November 1938, komplett zerstört worden.
Nach langen Recherchen bin ich auf zwei Plattensammler gestoßen, die die Schellacks aus der ganzen Welt zusammengetragen haben: von jüdischen Emigranten, die sie damals vor der Zerstörung mit ins Exil genommen haben in alle Erdteile der Welt. Anschließend bin ich auf das Semer Ensemble gestoßen, das diese Musik quasi nach Gehör nachgespielt hat. Es gab keine Noten, es gab keine Texte. Man musste das von den Schellackplatten rekonstruieren. Ich fand das so spannend, dass ich gesagt habe: Das muss ein Film werden.
Was hat sie am meisten überrascht bei der Recherche?
Christoph Weinert: Mich haben die Texte der Lieder überrascht, die das Semer Ensemble wiederbelebt. Sie sind unglaublich aktuell. Man kann gar nicht glauben, dass diese Texte fast 100 Jahre alt sind. Auch die ganze Melodik der Songs, der Couplets, der Chansons, deutschsprachig oder jiddisch. Das ist was, was es heute in Deutschland gar nicht mehr gibt. Das waren raffinierte Texte, raffinierte Arrangements von jüdischen Künstlern. Das hat mich so fasziniert, dass ich mich wirklich in diese Musik verliebt habe.
Frau Lurje, Sie singen im Semer Ensemble. Wie würden Sie die Musik beschreiben?
Sasha Lurje: Wir sprechen so oft davon, dass das jüdische Musik ist, aber ich würde das nicht so beschreiben. Sehr viele von diesen deutschen Künstlern hatten eine jüdische Herkunft, aber sie waren deutsche Schauspieler und Sänger. Sie zeigten diese Breite von verschiedenen Kulturen, Arten und Sprachen, die jüdische Künstler damals hatten und heute auch noch haben.
Christoph Weinert: Genau, wir werden ja oft angesprochen: "Ach der Film, der hat so tolle jüdische Musik!" Da muss ich sagen, naja, einiges ist jüdische Musik, aber nicht jeder jüdische Künstler macht jüdische Musik. Dann nehme ich oft das Beispiel von dem Kanadier Leonard Cohen oder dem Amerikaner Bob Dylan. Das sind jüdische Künstler, aber sie machen nicht unbedingt jüdische Musik.
Die Noten, die Sie spielen, wurden in der Pogromnacht 1938 zerstört. Wie rekonstruiert man eine solche Musik, wenn es nur noch die Schallplatten gibt?
Sasha Lurje: Wir arbeiten in der jiddischen Musik ziemlich viel mit Aufnahmen und mit Rekreationen von Aufnahmen. Hier war es sogar noch ein klein bisschen komplizierter, weil sehr vieles von großen Orchestern gespielt wurde und nicht von kleinen Bands. Das ganze Programm, was wir spielen, wurde von unserem Bandleader Alan Bern nach Gehör transkribiert. Wir haben alle mitgeholfen, die Texte zu verstehen, weil es manchmal ein bisschen zu viel Krach auf den alten Schellacks gab und es nicht so einfach zu verstehen war, was da eigentlich passiert. Aber wir wussten, dass wir die Lieder brauchen.
Im Film geht es auch um die Biografien der Musiker, die von den Nazis verfolgt wurden. Was ist ihnen dabei durch den Kopf gegangen?
Christoph Weinert: Mir war wichtig, dass die Musiker in dem Film nicht als Opfer dargestellt werden, sondern als das, was sie getan haben: Sie waren Künstler.
Im Film schwankt man zwischen unterschiedlichen Gefühlen, auf der einen Seite ist da diese tolle Musik, auf der anderen Seite furchtbare Schicksale.
Christoph Weinert: Das ist auch ganz bewusst so, dass ich dem Zuschauer ein Wechselbad der Gefühle zumuten will. Aber ich glaube, er wird aus dem Film mit einer Beschwingtheit entlassen.
Sasha Lurje: Beide Seiten sind sehr wichtig. Es ist sehr wichtig, die dunkelste Seite der deutschen und jüdischen Geschichte zu kennen und davon zu lernen. Aber das soll nicht heißen, dass das bestimmt, wer wir sind. Deutsch oder jüdisch, das ist nicht das Einzige, was wir sind. Wir sind so viel mehr als das. Wir sind zwei Völker, die so eine fantastische Geschichte vor und nach dem Holocaust gehabt haben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Christoph Weinert und Sasha Lurje führte Margarete Kreuzer für rbb Kultur - das Magazin.
Sendung: rbbKultur - das Magazin, 09.11.2024, 18:30 Uhr