Firmengeschichte während der NS-Zeit - Schwerer Stoff
Viele Unternehmen haben vom Nationalsozialismus profitiert, einige von ihnen produzieren bis heute. Wie mit der Aufarbeitung der Vergangenheit umgehen? Beispiele von Firmen aus Berlin von Jannis Hartmann
Ihre Flaggen wehten bei den Olympischen Spielen 1972 in München, während der WM 2006 in Deutschland oder auf dem Dach des Reichstagsgebäudes: Die Berliner Stoffdruckerei hat einige große Aufträge vorzuweisen. Das Unternehmen aus Berlin-Marienfelde fertigt alle möglichen Flaggen und Wimpel.
Auf dem Flur eines etwas in die Jahre gekommenen Gewerbebaus lagert der Firmenchef Simon Schimming große Rollen. Der schwarz-rot-goldene Stoff darauf sei besonders zur EM gefragt gewesen: "Das ist Meterware Deutschland. Wenn ein Hotel Fahnen braucht, wird das entsprechend zugeschnitten", sagt er. Gegründet wurde die Berliner Stoffdruckerei 1921 als Berliner Fahnenfabrik Geitel & Co. Schimming kam Anfang der Achtziger Jahre zum Unternehmen, da hatte der Sohn der Unternehmerfamilie Geitel übernommen.
Vom bekanntesten Stoffprodukt der Firma habe er zufällig erfahren, im Portugalurlaub 1988, sagt Schimming – als er am Strand den "Spiegel" las. "Den Zuschlag für die Judensterne erhielt die Berliner Fahnenfabrik Geitel und Co., heute bekannt unter Berliner Stoffdruckerei", stand da [spiegel.de]. "Das hat meinem Urlaub zumindest zeitweise eine große emotionale Wendung gegeben", sagt Schimming.
Unterlagen waren wohl verschwunden
Die Berliner Fahnenfabrik hatte die Zwangskennzeichen produziert, die die staatliche Verfolgung von Jüdinnen und Juden erleichtern sollte. Die sogenannten "Gelben Sterne" bereiteten ab 1941 die Deportation in die Vernichtungslager vor. Entworfen wurde das Stoffabzeichen vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Bei Geitel & Co. wurde es auf lange Stoffrollen gedruckt.
"Der Spiegel-Artikel hat das Unternehmen einmal durchgeschüttelt", sagt Schimming. Aber Unterlagen zum Auftrag habe das Unternehmen in den Achtzigern wohl nicht mehr besessen. Er habe deshalb darauf verzichtet, die Geschäftsführung dazu aufzufordern, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Wie lange der Druck gedauert habe und wie viele dieser Stoffabzeichen produziert wurden – das habe man alles nicht mehr aufarbeiten können.
Eine Million der Zwangskennzeichen hergestellt
Ein bisschen mehr weiß man allerdings schon. Eine Million der Zwangskennzeichen waren im Spätsommer 1941 von Geitel & Co. gefertigt worden, steht auf der Infotafel an dem Haus, in dem sich damals die Produktionsstätte befand: in der Wallstraße 16, südlich der Fischerinsel.
Das Gebäude gehörte ursprünglich zwei sehr erfolgreichen jüdischen Textilunternehmern. 1938 wurden sie enteignet, das Haus zwangsversteigert. Ab September 1941 wurde im Deutschen Reich dann das Tragen der hier produzierten gelben Sterne für Menschen vorgeschrieben, die nach den "Nürnberger Gesetzen" des Naziregimes als Juden definiert wurden.
Angebracht hat die Infotafel das "Aktive Museum Faschismus und Widerstand" – ein Verein, der Ausstellungen und Projekte mit Institutionen wie der Topografie des Terrors erarbeitet.
Großauftrag bei der WM 2006
Nach dem Krieg wurde die Firma in "Berliner Stoffdruckerei" umbenannt. Die Geschäfte liefen auch nach der Veröffentlichung des "Spiegel" gut. Die Produktion für die Fußballweltmeisterschaft 2006 sollte die größte werden: Rund 120 Angestellte waren an dem Großauftrag beteiligt.
In die Knie gezwungen wurde das Unternehmen kurz danach durch die Digitalisierung, die den Markt für die Gestaltung und Produktion von Stoffen umkrempelte. Schimming übernahm die Leitung des Unternehmen der Geitels; zusammen mit nur noch zwei Mitarbeiterinnen bedient er heute kleinere Aufträge – Banner für Vereinsfeste, Deutschland-, Ukraine- oder Israel-Flaggen, zum Beispiel für Rathäuser.
"Unser Credo ist: Wir bemühen uns um größtmögliche Neutralität", sagt Schimming. Das bedeute: Keine Flaggen für extrem Rechte oder extrem Linke. Außerdem hätten die Geitels an die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft", kurz "EVZ", gespendet, nachdem diese 2000 von der Bundesregierung gegründet wurde. Ehemalige Zwangsarbeitende sollten jeweils bis zu 15.000 DM Entschädigung erhalten. Das insgesamte Stiftungsvermögen beträgt 5,2 Milliarden Euro, gezahlt zur Hälfte durch freiwillige Spenden von rund 6.500 Firmen. Die andere Hälfte sind öffentliche Mittel.
Schimming: Von der Schuld freikaufen kann man sich nicht
Schimming sagt, freikaufen von der Schuld könne man sich nicht. Trotzdem solle es bei der Zahlung bleiben. Er selbst habe keine Idee, was er tun könnte: "Es ist geschehen, es ist furchtbar. Aber es ist nicht reversibel." Er verschweige nichts zur Geschichte, sagt Schimming. Aber er stelle diese eben auch nicht in den Fokus. Einen Hinweis zur Geschichte, oder wo man darüber mehr erfahren kann, gibt es auf der Firmenwebsite nicht.
Die Berliner Stoffdruckerei ist damit kein Einzelfall. Unternehmen informieren häufig nur lückenhaft dazu, wie sie zwischen 1933 und 1945 ihr Geld verdienten. Viele Firmen haben nie unabhängige Wissenschaftler in ihre Archive geladen. Historiker der Universität Bochum recherchierten 2019: Von den damals 100 größten Unternehmen haben 71 keine wissenschaftliche Aufarbeitung vornehmen lassen. Eine Verpflichtung, Historikerinnen und Historikern Einblick in Unternehmensakten zu geben, gibt es nicht.
Jede vierte Arbeitskraft wurde gezwungen
Der Eichborndamm in Berlin-Reinickendorf: Hier reiht sich ein backsteinerner Industriepalast an den nächsten. Der Historiker Christoph Kreutzmüller wartet schon. "Wir sind hier an einem Ort, wo die 'Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken' wichtige Dinge produziert haben. Das ist im Nationalsozialismus quasi immer Rüstung", sagt Kreutzmüller. Er ist Vorsitzender des Aktiven Museum, das auch die Infotafel zur Fahnenfabrik angebracht hat und dessen Hauptanliegen es ist, jüdische Spuren in Berlin zu erhalten. Weitere bekannte Beispiele von Firmen, deren Produktionshallen bis heute das Stadtbild prägen, seien Siemens und AEG, sagt Kreutzmüller. Beide seien damals führend im Bereich der Verkehrs- und Telekommunikationstechnologie gewesen - und dann eben auch für Rüstung.
Zur Zeit des Nationalsozialismus mussten in den Hallen Tausende Zwangsarbeitende für die Unternehmen produzieren. Zu Beginn waren es Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich, nach dem Überfall auf Polen kamen 1939 Menschen aus den besetzten Gebieten dazu. In deutschen Betrieben wurde zu dieser Zeit jede vierte Arbeitskraft zu ihrem Einsatz gezwungen – es waren etwa 26 Millionen Menschen. Ungefähr zweieinhalb Millionen Zwangsarbeitende starben zwischen 1939 und 1945 in deutscher Gefangenschaft – unter anderem durch die menschenunwürdigen Bedingungen am Arbeitsplatz. Auch wenn die großen Namen und Strukturen der Berliner Firmen im NS zwar bekannt seien - eine wissenschaftlich erarbeitete Wirtschaftsgeschichte von Berlin im Nationalsozialismus gebe es bisher nicht, sagt Kreutzmüller.
Leerstellen häufig mit Relativierungen gefüllt
Häufig werden die Leerstellen in den Firmenhistorien mit relativierenden Annahmen gefüllt, etwa, dass Zwangsarbeitende ja nicht so schlecht behandelt worden seien. Besonders familiengeführte Unternehmen seien für solche Relativierungen anfällig - sagt der Historiker Hendrik Erdmann. In einem kleinen Büro in Berlin-Neukölln widerlegt er diese Legenden.
Erdmann arbeitet für die historische Agentur Neumann und Kamp. Rund 20 Historikerinnen und Historiker forschen und schreiben zu Unternehmensgeschichten und Biografien derjenigen, die diese Firmen führten. Gerade arbeitet Erdmann mit einem sechsköpfigen Team zur Unternehmerfamilie Eckart, Gründer des Lebensmittelproduzenten Pfanni. "Das Archiv ist vollständig digitalisiert", sagt er. Über ein Portal kann er sich die Quellen am Computerbildschirm vornehmen. "Das sind vor allem Briefwechsel zwischen Familienmitgliedern aber auch Verwaltungsunterlagen", so der Historiker.
Aufklärung nach Generationenwechsel
Beauftragt wurde die Agentur vom Pfanni-Erben Werner Eckart, dessen gleichnamiger Großvater das Unternehmen in der NS-Zeit führte. Damals produzierte die Firma Lebensmittelkonserven für die Front. Die Forschungsergebnisse zur Familiengeschichte sollen in einem Buch und einer Ausstellung veröffentlicht werden.
Dass sich Erben für die NS-Vergangenheit ihrer Familie interessieren, sei eine neue Entwicklung, bestätigt auch der Chef von Neumann und Kamp, Matthias Georgi. Durch einen Generationenwechsel würden sich heute vermehrt Familienunternehmen melden. In die Forschung einmischen würden sich die Auftraggeber nicht. Von rund 400 Aufträgen sei das nur zweimal vorgekommen, sagt Georgi.
Belegschaften forschen – und ziehen Lehren
Siemens hat heute eine eigene Seite nur zur Firmengeschichte: "Siemens in Ravensbrück" heißt sie [projekt-ravensbrueck.com]. Das Unternehmen betrieb im KZ Ravensbrück ein eigenes Zwangsarbeitslager. Seit 2010 kann jeder aus der Belegschaft in der Gedenkstätte an Projekten zur Aufarbeitung der Geschichte von Zwangsarbeit teilnehmen. Der Anstoß dazu kam vom Betriebsrat. Zum Beispiel werden die Grundmauern der Baracken freigelegt, in denen die Zwangsarbeiterinnen untergebracht waren.
Dass die Mitarbeitenden zur NS-Vergangenheit ihrer Arbeitgeber forschen, anstatt die Firmeneigner selbst, sei in West-Deutschland nicht selten gewesen, sagt Witich Roßmann, Gewerkschafter der IG Metall. Vor allem in den Nachkriegsjahrzehnten seien Unternehmensführungen oftmals nicht daran interessiert gewesen. "Im engagierten Teil der Belegschaft war das Interesse aber relativ groß", so Roßmann.
Diese Belegschaften, seien häufig bis heute politisiert, so der Gewerkschafter. Als zum Jahresbeginn gegen den Rechtsruck protestiert wurde, rief die IG Metall zur Protestaktion "Streik für Menschenwürde" auf. "Wir wollten, dass in den Betrieben die Arbeit niedergelegt wird. Das ist da gelungen, wo eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Firmen bereits stattgefunden hat", sagt Roßmann.
Sendung: rbb24 Inforadio, 13.07.2024, 6 Uhr