Kriegsverbrechen - Das dunkle Geheimnis von Treuenbrietzen
Jedes Jahr im April versammelt sich eine italienisch-deutsche Trauergemeinde in Nichel nahe Treuenbrietzen. Auch in diesem Jahr wurde wieder der 127 Männer gedacht, die 1945 in einer Kiesgrube ermordet wurden. Von Jacqueline Piwon
- 127 Italiener starben 1945 in einer Sandgrube bei Nichel durch Kugeln deutscher Soldaten.
- Niemand wurde für das Verbrechen zur Verantwortung gezogen.
- Gedenkstein mitten im Kiefernwald erinnert an das Massaker von Treuenbrietzen.
Rita Verdolini durfte am vergangenen Sonntag in Nichel (Potsdam-Mittelmark) als eine der ersten einen Kranz vor dem Gedenkstein niederlegen, der an das Massaker von Treuenbrietzen erinnert. Die Italienerin ist die Tochter eines Überlebenden. Ihr Vater lag eine Woche lang schwer verletzt im Wald, ehe er gefunden wurde.
Es war kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Zwangsarbeiterlager Sebaldushof bei Treuenbrietzen von der sowjetischen Armee befreit wurde. Nur zwei Tage später, am 23. April 1945, stießen jedoch erneut deutsche Truppen bis zum Lager vor.
127 Italiener starben im Kugelhagel
Deutsche Soldaten führten an diesem Tag 131 Zwangsarbeiter aus Italien aus dem Lager. Sie ließen sie kilometerweit bis zu einer Sandgrube nahe dem Dorf Nichel laufen. Dort eröffneten sie das Feuer auf sie. 127 Italiener starben durch die Kugeln der Deutschen, nur vier überlebten - einer von ihnen war der Vater von Rita Verdolini.
Wenn die Italienerin nun vor dem Gedenkstein mitten im brandenburgischen Kiefernwald steht, dann fühlt sie sich ihrem Vater und dem, was er erlebt hat, nahe. Als sie ungefähr sieben oder acht Jahre alt war, habe ihr Vater einmal zu ihr gesagt: "Ich habe dich im Gepäck aus Deutschland mitgebracht", erzählt sie.
Schüleraustausch als Teil der Aufarbeitung
Es ist minutenlang still an diesem Sonntag am Gedenkstein des Massakers. Rund 200 Menschen sind gekommen, um der Opfer zu gedenken. Zuerst legen die Angehörigen ihre Kränze nieder, erst dann die Vertreter der italienischen Botschaft, des Militärs und der Bürgermeister von Treuenbrietzen.
Auch Carlotta Cannelloni und ihre Mitschüler sind unter den Gästen. "Es ist schwierig, sich das alles vorzustellen", sagt die 16-Jährige. Eine Woche lang wird ihre Klasse in Treuenbrietzen wohnen und zusammen mit ortsansässigen Schülerinnen und Schülern Projekte erarbeiten, um die Erinnerung an das Kriegsverbrechen aufrecht zu erhalten. Der Schüleraustausch ist Teil der Aufarbeitung.
"Viele der Jugendlichen kennen die Geschichte um das Massaker nicht wirklich", sagt Valentin Schlegelmilch. Der Lehrer begleitet den Schüleraustausch. Viele seien erstaunt, dass in ihrer Heimat ein solches Verbrechen geschehen ist, erzählt er. Auch in vielen Familien sei es bisher kein Thema gewesen. Zusammen wolle man deshalb einen Beitrag zur Erinnerung leisten und mit den Jugendlichen verschiedene Frage klären: Was bedeutet das für mich? Wie gehe ich heute damit um?
Versöhnungsgedanke soll weitergetragen werden
Bis heute sind die genauen Umstände der Erschießung der italienischen Zwangsarbeiter nicht zweifelsfrei geklärt. Niemand wurde dafür zur Verantwortung gezogen, die Mörder kamen ungestraft davon. Um Schuld gehe es bei diesem Gedenken auch gar nicht, sagt der Bürgermeister der Stadt Michael Knape. Es gehe darum, sich über den Gräbern der Toten die Hände zu reichen und den Versöhnungsgedanken weiterzutragen.
"Nie wieder" sei das eigentliche Ziel, betont Knape: "Leider muss ich feststellen, dass wir beim 'Schon wieder' angekommen sind."
Es habe eine Zeit gegeben, da hätten auch russische Vertreter an dem Gedenken in Treuenbrietzen teilgenommen, berichtet der Bürgermeister. Doch schon seit der Annexion der Krim sei der Kontakt nach Russland abgerissen. Umso wichtiger sei es, den Lernprozess für Frieden in Europa weiterzuführen. In Nichel und Treuenbrietzen wollen sie mit der freundschaftlichen Verbindung nach Italien und dem jährlichen Gedenken ihren Teil dazu beitragen.
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 23.04.2024, 19:30 Uhr