Urteil am Donnerstag erwartet - Wurde Maryam H. von ihren Brüdern ermordet?
Die Berliner Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haftstrafen für zwei afghanische Brüder, die ihre Schwester 2021 gemeinschaftlich ermordet und die Leiche nach Bayern gebracht haben sollen. Nach fast einem Jahr Verhandlung wird jetzt das Urteil erwartet. Von Jana Göbel
Versehentliche Tötung oder geplanter Mord? Darüber muss am Donnerstag das Berliner Landgerichts entscheiden. Auch nach mehr als 40 Verhandlungstagen konnten die Todesumstände der Afghanin Maryam H. nicht vollständig aufgeklärt werden. Staatsanwaltschaft und Verteidigung beschrieben in ihren Plädoyers zwei grundverschiedene Versionen:
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft soll Maryam H. durch ihre Brüder jahrelang unterdrückt, kontrolliert und ausgenutzt worden sein. Doch die junge Frau und Mutter zweier Kinder habe mehr und mehr selbst über ihr Leben bestimmen wollen. Dies hätten die Brüder nicht geduldet. Daher hätten sie ihre Schwester am 13. Juli 2021 zu einem Treffen gelockt, um sie gemeinsam zu ermorden, so der Vorwurf.
Die Verteidigung schildert die Vorgänge hingegen so: Es habe einen Streit zwischen Maryam H. und dem älteren der beiden angeklagten Brüder gegeben. Dabei habe dieser vor Wut seine Schwester in den Schwitzkasten genommen, so dass sein "Unterarm an ihren Hals drückte". Er habe ihr den Mund zugehalten und sie so ohne Absicht getötet. Der jüngere Bruder sei nicht dabei gewesen und habe später nur geholfen, die Leiche wegzubringen.
Unumstritten ist, wie der letzte Tag im Leben von Maryam H. begann. Am Morgen des 13. Juli verabschiedet sich die junge Frau von ihren beiden Kindern, die damals zehn und 14 Jahre alt sind. Sie will sich mit ihrem Bruder Yousuf treffen, um sich in Neukölln eine Wohnung anzusehen. Sie sei voller Vorfreude gewesen, berichten sowohl die Kinder als auch eine Freundin und ihr Freund später übereinstimmend im Prozess. Denn Maryam H. wollte endlich aus dem Flüchtlingsheim in eine Wohnung ziehen. Von dem Treffen mit ihrem Bruder kehrt sie jedoch nicht zurück.
Auf einem Überwachungsvideo vom selben Tag vom Bahnhof Berlin Südkreuz sieht man, wie die beiden Brüder Yousuf H. und Mahdi H. um 16:32 Uhr einen ausgebeulten großen schwarzen Koffer in einen Zug nach Bayern wuchten. Mehr als drei Wochen später wird die Leiche von Maryam H. in einem Waldstück bei Donauwörth gefunden. Sie wurde mutmaßlich mit einem Tuch erdrosselt. Ihr Mund war mit sogenanntem Panzertape zugeklebt, ihre Kehle mit einem tiefen Schnitt durchtrennt. Rechtsmediziner gehen davon aus, dass wahrscheinlich Erdrosseln zum Tod geführt hat; das Opfer könnte aber auch erstickt sein. Der Schnitt sei vermutlich später gesetzt worden.
Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft passt die Version der Verteidigung, nämlich eine versehentliche Tötung, nicht dazu. Welcher der Brüder jedoch was und wo genau getan hat, konnten die Ermittler nicht mit Sicherheit feststellen. Bewiesen scheint nur der Tatort, weil ein Taxi die Brüder und den Koffer von der Adresse des jüngeren Bruders zum Bahnhof Berlin Südkreuz brachte.
Sie nahm sich Freiheiten heraus
Das Leben von Maryam H. scheint von Anfang an von männlicher Gewalt geprägt: Es beginnt mit einem prügelnden Vater, der seine Tochter später in Afghanistan zwangsverheiratet haben soll. Ihr Ehemann soll später gelegentlich zugeschlagen haben. Und dann waren da ihre Brüder, die sich laut übereinstimmender Zeugenaussagen in Deutschland von ihrer Schwester bedienen ließen, den Alltag der Schwester, ihre Kontakte, ihr Handy und ihr Konto kontrolliert haben sollen. Sogar ihr heranwachsender Sohn sollte von den Brüdern dazu erzogen werden, auf seine Mutter "aufzupassen".
Doch Maryam H. nahm sich seit ihrer Ankunft in Deutschland 2015 immer mehr Freiheiten heraus. Auch darüber berichten verschiedene Zeugen im Prozess übereinstimmend. Die junge Frau kleidete sich moderner, wenn ihre Brüder nicht dabei waren. Sie suchte sich Arbeit, verdiente eigenes Geld. Maryam H. trug zwar selbst ein Kopftuch, widersetzte sich aber, als die Brüder auch ihre heranwachsende Tochter dazu zwingen wollten. Das sagte unter anderem die Tochter selbst aus. Maryam H. traf sich heimlich mit modern lebenden Freundinnen oder ging ins Café und einmal sogar in eine Bar. Sie hatte einen Partner, die sie vor ihren Brüdern versteckt hielt, wollte schließlich selbst entscheiden, wen sie heiratet. Mehrere Zeugen sagten aus, dass Maryam H. Angst davor hatte, dass ihre Brüder sie umbringen würden, wenn sie von ihrer Lebensweise wüssten. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass es genau so gekommen ist.
"Antiquierte patriarchalische Haltung"
In ihrem Plädoyer spricht die Staatsanwältin von einem gemeinschaftlichen Tötungsplan der Brüder aus niedrigen Beweggründen. Es sei ihnen nicht um religiöse Gründe gegangen, sondern um eine "antiquierte patriarchalische Haltung", der zufolge Männer in der Familie darüber entscheiden, wie Frauen sich zu verhalten hätten und wen sie heiraten. Maryam H. habe sich widersetzt. Laut Staatsanwaltschaft hätten die Brüder deshalb entschieden, dass sie sterben müsse und das Todesurteil vollstreckt.
Dem Verteidiger des älteren Bruders Yousuf H. betont, es fehlten Beweise dafür, dass die Brüder überhaupt von der Liebesbeziehung ihrer Schwester wussten. In seinem Plädoyer erklärte sein Rechtsanwalt, er glaube vielmehr seinem Mandanten, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe - um Körperverletzung mit tragischem Ausgang. Aus seiner Sicht habe die Verhandlung keine Beweise erbracht, die dazu im Widerspruch stünden.
Und der Verteidiger des jüngeren Bruders Mahdi H. erklärt, für seinen Mandanten habe keine Tatbeteiligung nachgewiesen werden können. Auch die Suche nach einem Koffer im Internet könne der ältere Bruder Yousuf H. getätigt haben, indem er das Handy seines jüngeren Bruders nutzte. Der Transport des Koffers lasse keinen Schluss auf eine Tatbeteiligung zu. Mahdi H.s Verteidiger fordert deshalb Freispruch für seinen Mandanten.
Wie der Prozess nun zu Ende geht, werde auch von der afghanischen Community in Deutschland verfolgt, sagt Sabour Zamani im Gespräch mit rbb24 Recherche. Er ist Leiter des afghanischen Kommunikations- und Kulturzentrums mit Sitz in Berlin-Neukölln. Sein Verein organisiere seit mehr als 30 Jahren Veranstaltungen für afghanische Männer und Frauen. Auch der Fall Maryam H. sei in gemeinsamen Diskussionen immer wieder Thema gewesen.
In Afghanistan würden Frauen - gerade unter der Herrschaft der Taliban - zu Hause eingesperrt, sie dürften nicht arbeiten, "und manche hier in Deutschland sind davon beeinflusst", erklärt Zamani. Leider gebe es auch in Deutschland einzelne afghanische Männer, welche die Lebensweise von Frauen kontrollieren wollen. Nach seiner Erfahrung akzeptiere der Großteil der in Deutschland lebenden Afghanen so etwas aber nicht. Das Gros der Männer und Frauen, das er kenne, würde sich für so etwas schämen, "weil es eine Schande ist, wenn sich jemand das Recht nimmt, über einen anderen Menschen mit Gewalt zu bestimmen".
Sendung: rbb24, 16.02.2023, 13:00 Uhr