Sadistinnen oder Opfer? - Wie vor 100 Jahren der Prozess um zwei Giftmischerinnen Berlin bewegte
Am 16. März 1923 werden in Berlin zwei Frauen verurteilt: Sie haben ihre Männer vergiftet - und führten heimlich eine Beziehung. Der Prozess findet große Beachtung, es geht um "Pseudo-Homosexualität" und das Wesen der Frau. Von Matthias Schirmer
16. März 1923, ein Freitag. Vor einem Geschworenengericht in Berlin-Moabit geht ein Sensationsprozess zuende. Zwei Frauen sind die Hauptangeklagten, die ihre Männer mit Arsen vergiftet haben sollen. Einer ist tot. Die beiden Frauen sollen "Freundinnen" sein - das prüde Ersatzwort für Lesben damals. Die Zeitungen sind voll, die Schlagzeilen schrill: "Sexualverbrecher in Moabit", "Entartete Menschen vor Gericht", "Todesantrag im Giftmischer Prozess".
Zwölf geschworene Männer, allesamt Laien, werden über die Frauen urteilen. War es Mord oder Totschlag? Ist "nur" das Töten strafbar oder auch ihre Liebe? Wie passt ein solcher Prozess in sexuell immer liberalere Zeit, in der Claire Waldoff, die berühmteste Lesbe Berlins, nachts durch die Klubs von Schöneberg zieht. Bubikopf und Rattengift? Wie geht das alles zusammen?
Polizei beschlagnahmte Liebesbriefe
Die Friseuse Ella Klein hat ihren Mann, den Möbelpolierer und Klavierbauer Wilhelm Klein, umgebracht. Mit Arsen im Essen. Im April 1922 ist er im Krankenhaus gestorben. Die Polizei schöpft Verdacht. Die Vergiftung im Arbeiterbezirk Lichtenberg wird aufgedeckt.
Ella Klein stammt aus Braunschweig, hat mit 21 Jahren geheiratet und wohnt in der Wagnerstraße 61. Das ist heute die Fanninger Straße. Nur wenige Häuser weiter, Nummer 26, wohnt ihre drei Jahre ältere Freundin Margarethe - unter einem Dach mit ihrem Mann, dem Schaffner Wilhelm Nebbe, und ihrer Mutter Marta Riemer.
Margarethe Nebbe unternimmt daheim als erste den Tötungsversuch. Als der misslingt, hat sie Angst aufzufliegen. Sie stellt die Gift-Gaben ein. Doch ihre Freundin Ella bestärkt sie, nun deren Mann umzubringen. Beide schreiben sich heiße, lange Briefe, 600 von ihnen beschlagnahmt die Polizei. Sie schwören sich darin nicht nur ständig ihre Liebe. Einmal, zitiert die Presse, habe Ella Klein der Freundin geschrieben: "Ich träumte letzte Nacht, Klein sei gestorben. Wachte auf, sah nach Klein und das Schwein lebte noch!"
Wer sich öffentlich bekennt, wird gemieden
Bei Prozessbeginn ist der Saal gerappelt voll. Halb Lichtenberg, vor allem "das weibliche Element" hat sich auf die Reise quer durch die Stadt nach Moabit gemacht. Giftmord und lesbische Liebe? Die Mehrheitsgesellschaft hat dazu selbst kurz vor Beginn der "Goldenen Zwanziger" feste Ansichten.
Zu denen gehört, dass Homosexualität natürlich pervers ist. Verborgen mag sie stattfinden. Aber wer sich öffentlich dazu bekennt, wird von der bürgerlichen Gesellschaft gemieden. Und selbstverständlich werden ja Giftmorde fast immer von Frauen verübt.
Täterinnen werden als sadistisch angesehen
Was statistisch damals nicht belegbar war: Das Geschlechterverhältnis bei Giftmorden hält sich die Waage. Dennoch, erzählt Professorin Hania Siebenpfeiffer, galt Gift auch damals schon als die weibliche Mordvariante. Die Täterinnen werden als kalte, rational planende Sadistinnen betrachtet.
Die Marburger Professorin hat über Verbrecherinnen in der Weimarer Republik geforscht. "Giftmischerinnen galten quasi als doppelt pervers, weil sie einen Mord begingen. Aber vor allem, weil sie mit einem Mittel töten, das als typisch weiblich codiert wurde. Das wurde gelesen als eine pervertierte Inversion der Muttermilch" erklärt die Expertin. Anstatt "nährende" wurde demnach "tötende Flüssigkeit" gegeben, in Form meistens in Essen aufgelöstem Arsen. "Und das galt als ultimativer Sadismus", sagt Siebenpfeiffer.
Die Erwartungen bei Prozesseröffnung sind klar: Zwei Bestien werden zu bestaunen sein. Doch das Bild kippt. Tatsächlich wirken die beiden schüchtern. Weinen oft. Ella Klein versteckt sich sogar wie ein Kleinkind hinter der Geschworenenbank, als ihr Vater als Zeuge den Saal betritt. Tagelang werden vor Gericht die Briefe verlesen.
Jetzt wird deutlich, dass beide Frauen unfassbare Brutalitäten erlebt haben: schweren Alkoholismus, Prügel, Vergewaltigungen, sexuelle Quälereien durch ihre Männer. Friseurin Ella Klein war abgehauen, zum Vater gereist. Sie hatte seine Erlaubnis zur Ehescheidung erbeten. Doch der Vater schickt die Tochter zurück in die "Ehe-Hölle von Lichtenberg".
Nachbarn werden vernommen, bestätigen die Angaben. Ein Scheidungsanwalt legt das Prügelwerkzeug des Tischlers Klein vor. Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen, aber ausgewählte Pressevertreter dürfen weiter in den Saal. Sie berichten - und nun wendet sich die Stimmung: Aus eiskalten Mörderinnen werden bedauernswerte Opfer.
Für Klarheit sollen sexualwissenschaftliche Gutachten sorgen
Klarheit für die Geschworenen sollen sexualwissenschaftliche Gutachten bringen. Das bekannteste stammt vom Berliner Pionier der Sexualwissenschaften, Medizinalrat Magnus Hirschfeld. Er holt die eine Angeklagte, Margarethe Nebbe, für einige Stunden aus dem Gefängnis zu sich in sein sexualwissenschaftliches Institut. Irgendwo im Obergeschoss des Ärztehauses am Spreeufer im Tiergarten, füllt sie Hirschfelds "Psychobiologischen Fragebogen" aus: fast 150 Fragen über Eltern, Abstammung, den Körper, die Psyche, die sexuellen Vorlieben. Beispiel: "War die Erziehung streng oder zärtlich? War der Vater energischer oder war es die Mutter? Wen hatten Sie lieber?"
Aus ihm wird der Sexualwissenschaftler später vor Gericht zitieren. Normalerweise versucht Hirschfelder das Los der Angeklagten abzumildern, indem er "angeborene Homosexualität" nachweist. Denn das wirkt damals strafmildernd: Wer biologisch wider Willen als "abnormal" geboren ist, gilt als nicht voll zurechnungsfähig. Doch bei Lesben geht das nicht. Denn sie gelten in der Wissenschaft damals nur als "Pseudo-Homosexuelle" und Frauenliebe als vorübergehend und "erworben". Während es bei Männern defekte Keimdrüsen sein sollen. Frauen sind damals nur "versehentlich" lesbisch. Wegen unerfülltem Kinderwunsch zum Beispiel. Damit ist lesbischer Sex auch nicht strafbar. Männlicher Sex hingegen schon.
Geteiltes Echo in den Medien
Hirschfeld muss eine andere Strategie finden. Ella Klein bescheinigt er Entwicklungshemmungen und Infantilität, Gertud Nebbe eine "Beschränktheit", die dem Schwachsinn ähnele. Ihre Zwangsehen mit Männern hätten einen psychologischen Notstand hervorgerufen. Ihre Taten seien nicht entschuldbar, aber eben auch nicht mit vorsätzlicher Mordlust zu verwechseln: Totschlag. Der Staatsanwalt sieht es anders. Er fordert, ohne mildernde Umstände auf Mord und Mordversuch zu erkennen. Die Todesstrafe steht im Raum.
Nach fünf Tagen ziehen sich die zwölf Geschworenen zur Beratung zurück. Schuldig oder nicht? Die Berufsrichter dürfen anschließend dann nur noch das Strafmaß bestimmen. Das Urteil lautet: vier Jahre Gefängnis für die junge und zierliche Frau Klein mit mildernden Umständen. Und für die ältere Margarethe Nebbe ein Jahr und sechs Monate. Aber nicht nur Gefängnis, sondern Zuchthaus, also unter schlechteren Bedingungen und mit Zwangsarbeit. Freispruch für die mitwissende Mutter.
Und wieder rauscht es im Blätterwald. Die illustrierte Tageszeitung "Der Tag" schreibt über die Stimmung im Saal bei der Urteilsverkündung: "Man hörte Rufe wie 'Unglaublich' und 'Solche Bestien!'. Die Hörer sagten sich 'Totschlag? Nein!'" Und die konservative "Deutsche Allgemeine Zeitung" fordert: "Fort mit den Geschworenen-Gerichten."
Kritik am Geschworenengericht
Der Vorsatz beim Töten war ja unübersehbar - die Gewissensbisse der Ella Klein aber auch: Mehrfach unterbrach sie das Gift-Geben, ließ ihren Mann von Ärzten retten. Zahlreiche Artikel und Bücher erscheinen zum Fall. Unter anderem wird hinterfragt: Sind Laienrichter mit so etwas nicht überfordert? Ein Jahr später wird in Deutschland das Geschworenengericht abgeschafft.
Auch Romancier und Psychiater Alfred Döblin lässt der Fall nicht los. Wer trägt welche Schuld? Welche Strafe ist angemessen? Döblin enthält sich in seiner literarisch verfremdeten Nacherzählung "Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" der Antwort. Und zieht als Resümee: "Die Schwierigkeiten des Falles wollte ich zeigen, den Eindruck verwischen, als verstünde man alles oder das meiste an solchem massiven Stück Leben. Wir verstehen es, in einer bestimmten Ebene."
Sendung: rbb24 Inforadio, 16.03.2023, Podcastserie "Heute minus 100"