Zeitgeschichte - Wie der Tempelhofer Flughafen 1923 in Rekordzeit gebaut wurde
Vor genau 100 Jahren, am 8. Oktober 1923, eröffnete der Tempelhofer Flughafen - nach wenigen Monaten Bauzeit. Energisch vorangetrieben hat das Projekt der Baustadtrat für Verkehr. Leonhard Adler erkannte früh die Zeichen der Zeit. Von Matthias Schirmer
- Für das Areal des späteren Flughafens Tempelhof gibt es Anfang der 1920er Jahre viele Pläne: Wohnungen, öffentliche Parks, Baracken für Flüchtlinge und Kleingärten sollen entstehen
- Doch der Berliner Baustadtrat Leonhard Adler setzt sich dafür ein, einen Berliner Zentralflughafen in Tempelhof zu errichten
- Er organisiert Freiflüge für die Entscheidungsträger und schafft es, dass der Flughafen nach acht Monaten eröffnet wird
Die Idee klingt nach Weltstadt: Am 21. Februar 1923 berät der Berliner Magistrat, also der damalige Senat, über eine Beschlussvorlage für den Bau eines Flughafens in Tempelhof. Verfasst hat sie Leonhard Adler, Stadtbaurat für Verkehr. Darin heißt es: "Die Frage des Ausbaus des inner- und außerdeutschen Luftverkehrs ist für die Stadt Berlin von außerordentlicher Bedeutung."
Ein Zentralflughafen muss her
Das Revolutionäre an Adlers Plan ist nicht der Flughafen an sich. Denn davon besitzt Berlin damals bereits zwei: einen in Johannisthal und einen in Staaken. Aber das ist "jwd"- also janz weit draußen. Adlers Vision ist ein Zentralflugplatz - nicht weit vom Zentrum, mitten in der Stadt. Der Magistrat zieht mit. Ein Dreivierteljahr später, am 8. Oktober 1923, wird der Zentralflughafen Tempelhof mit den ersten Linienflügen eröffnet. Dass das möglich wurde, liegt zu großen Teilen am Ehrgeiz Leonhard Adlers.
Erst Naherholungsgebiet, dann Flughafen, dann wieder Freifläche
Den Konkurrenten Leipzig ausbooten
Adler ist alles andere als ein waschechter Berliner. 1882 in Mailand geboren, die Eltern sind jüdische Großindustrielle aus Österreich, promoviert er später als Ingenieur für Maschinenbau und Elektrotechnik. 1912, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, kommt Adler nach Berlin zur AEG und macht sich als Oberingenieur der Berliner Straßenbahn einen Namen. Danach wechselt er - zunächst auf SPD-Ticket, später als Mitglied des Zentrums - in die Politik: Er wird Stadtbaurat für Verkehr.
Für den Enddreißiger schlägt nach Kriegsende die große Stunde. Der Magistrat steht unter Druck: Ein Konkurrent, die Stadt Leipzig, ist dabei, Deutschlands ersten internationalen Flughafen bei Mockau zu errichten. Die Leipziger Messe verspricht zahlungskräftige Kundschaft, die auf supermoderne, schnelle Reisemöglichkeiten erpicht ist. Berlin merkt: Die Zeit läuft - wer macht das Rennen? Zwar hat der Magistrat sich im Februar für Adlers Tempelhof-Pläne ausgesprochen, aber es gibt Probleme: Wer soll das bezahlen? Wie soll die Stadt die Verfügungsgewalt über das Tempelhofer Feld bekommen?
Die einen wollen Sportstätten, die anderen Wohnbebauung
Damals wie heute weckt das Areal zwischen Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof Begehrlichkeiten: Jahrelang haben sich zwei der neuen Groß-Berliner Bezirke gegen einen Flugplatz ausgesprochen. Das "rote Neukölln" will lieber Sportstätten und Naherholungsgebiete. Auch das bürgerliche Tempelhof möchte einen Volkspark. Andere fordern verstärkte Wohnbebauung. Im Magistrat schwärmen stattdessen einige von einem riesigen Messegelände in Tempelhof. Und was soll eigentlich aus den Flüchtlings-Notbaracken werden, die am südlichen Tempelhofer Feld stehen? Gebaut, um Deutsche aus Elsass-Lothringen und Schlesien unterzubringen, die es im Ersten Weltkrieg wohnungslos nach Berlin verschlagen hat.
Noch ist alles unentschieden: Die massive Abwehr der beiden Bezirke ist 1923 zwar wieder abgeflacht. Das Feld gibt an seinen Rändern genug Möglichkeiten für "mehr Grün" und Erholungsgebiete. Aber das Tempelhofer Feld gehört größtenteils dem Militär. Seit Mitte des 18 Jahrhunderts war es Exerzierfeld, Schieß- und Flugübungsarreal von Preußens Königen und Deutschlands Kaisern gewesen. Doch seit der Jahrhundertwende ist der Militärfiskus nun bereit, das Filetstück mit Innenstadt-Anbindung aufzugeben.
Rennen gegen die Zeit
Leonhard Adler muss viele Entscheidungsträger von seiner Flugplatz-Idee überzeugen: die Parlamentarier, die Stadtverordneten. die Banken, die Verkehrsbetriebe. Die Militärverwaltung steht den Plänen schon lange aufgeschlossen gegenüber, verlangt aber Tauschflächen von Berlin.
Auch an seiner Seite die potenziellen Betreiber eines zivilen Flugplatzes: der Flugzeugbau, insbesondere der Industrielle Hugo Junkers mit seiner Luftverkehrs AG und die Lufttransportunternehmer, der Aero Lloyd. Im Magistrat gilt es noch die Messebefürworter zu überzeugen – und die Zeit läuft. Sie alle wollen gewonnen werden.
Adler weiß, wie so etwas geht. Er schreibt an den Flugzeugbauer Junkers in Dessau Anfang März 1923: "Es wäre mir lieb, wenn es sich bei Eintreten günstiger Witterung ermöglichen ließe, einzelnen Mitgliedern der städtischen Verkehrsdeputation, die auch bei der Flughafenfrage mitzuentscheiden haben, Gelegenheit zu geben, eventuell an einem kleinen Flug über Berlin oder nach Dessau teilzunehmen."
Der Plan geht auf
Junkers und der Aero Lloyd sind schnell einverstanden. Sie stellen für den 14. April 1923 Maschinen für die "Unterhaltungs-Flüge" in Tempelhof zur Verfügung. Der Andrang der Bankiers, Politiker, Militärs - und ihrer Ehefrauen - ist gewaltig. Um allen - und der ebenfalls hochgradig an Freiflügen interessierten Hauptstadt-Presse - einen Ausblick auf die Stadt und die schönen Havelseen zu ermöglichen, werden zehn Maschinen zum Einstieg bereitgehalten. Die Beeinflussung - manche würden sagen: Bestechung - hat Erfolg. Selbst der Absturz einer alten Militärmaschine über der Hasenheide kann das nicht verhindert: drei Tote, darunter ein Magistratsmitglied der SPD. Trotz der prominenten Opfer beschließt Anfang Mai das Parlament einmütig den Flughafenbau "Eine Seltenheit in der Stadtverordnetenversammlung!" heißt es in der Presse spitzzüngig. Am 8. Oktober geht der Flughafen an den Start.
Am 8. Oktober geht der Flughafen an den Start
Dann geht alles sehr schnell: Für einen Schnäppchenpreis von einer Milliarde Inflations-Mark (etwa 10.000 Dollar) geht das Areal in städtisches Eigentum über, das Militär bekommt seine Ausgleichsflächen in Osdorf/Großbeeren. Mit dem Müll der Stadt Berlin und Kanalisationsabfällen wird das Tempelhofer Feld am Kreuzberger Rand planiert und damit Startbahnen für den Linienverkehr ertüchtigt. Ein paar Holzbaracken für Flugzeuge, Zoll- und Passagierabfertigung werden von Junkers und Aero Lloyd bereitgestellt. Am 8. Oktober nimmt mit einer – dank der Inflationszeit recht klein geratenen Feier – das internationale Luftkreuz mit Busanbindung, der Zentralflughafen Tempelhof seinen Betrieb auf.
Adler besucht als Franziskanermönch den Tempelhofer Flughafen
Leonhard Adler hat es geschafft. Er wird bald darauf Chef der Berliner Flughafengesellschaft und sorgt für den weiteren Ausbau. 1928 schafft er mit Verkehrsstadtrat Ernst Reuter die "Große Berliner Stadtbahn". Der Nationalsozialismus zwingt Adler, der schon 1912 zum Katholizismus konvertierte, mit seiner Familie in die Migration. Im Nachkriegs-Italien leitet er bis zu seiner Pensionierung die Mailänder Verkehrsbetriebe.
Die letzte große Wende in seinem Leben geschieht 1956: Der verheiratete Familienvater erhält vom Papst die Genehmigung trotzdem Mönch zu werden. Als Franziskanerpriester besucht er bis zu seinem Tod 1965 immer wieder den von den Nazis in den 30ern gewaltig erweiterten Tempelhofer Flughafen.
Hinweis der Redaktion: Dieser Beitrag erschien erstmals am 21. Februar 2023. Damals jährte sich der politische Beschluss zum Flughafen in Tempelhof zum einhundertsten Mal.
Sendung: rbb24 Abendschau, 08.10.2023, 19:30 Uhr