Ungewollt kinderlos - Der unbedingte Wille, Vater zu sein
Fast jeder dritte kinderlose Mann zwischen 20 und 50 gibt an, ungewollt keine Kinder zu haben. Gründe gibt es viele – darüber zu reden, trauen sich nur wenige. Von Yasser Speck, Helena Daehler und Christina Rubarth
Arno ist einer, der sich traut. "Im Freundes- und Bekanntenkreis kann ich sehr offen darüber sprechen." Was Arno meint, sind Gespräche über seinen unbedingten Wunsch, Vater zu werden, der bislang unerfüllt blieb.
Wenn er seine Freunde mit ihren Kindern spielen sieht, wenn er an einem vollen Spielplatz in seinem Kiez in der Berliner Bergmannstraße vorbeikommt, merkt er wieder, dass ihm etwas fehlt. "Ich sehe hier im Kiez viele Mütter, Väter und Kinder. Das ist so ein bisschen der Esel mit der Möhre. Es ist immer eine Möhre, die vor einem hergeführt wird und man versucht sie zu erreichen und erreicht sie nicht." Der über 40-Jährige möchte von seinem Leben etwas weitergeben, ist aber alleinstehend. In Berlin, der "Hauptstadt der Singles" die passende Partnerin zu finden, ist nicht leicht.
Harry ist da schon weiter. Vor ein paar Jahren hat der jetzt Anfang 40-Jährige Daniela kennengelernt. Die beiden heiraten und schnell ist klar, sie wollen eine Familie gründen. Aber auch: Das wird nicht einfach. "Ich wusste schon mit Mitte 20, dass es bei mir schwer wird, auf natürlichem Weg Kinder zu bekommen." Er hat wenig Spermien, und sie sind langsam. Außerdem sind beide schon älter, als sie sich kennenlernen. "Natürlich haben wir es erstmal so versucht, fast ein Jahr lang, aber wir wollten keine Zeit verlieren und uns medizinische Hilfe holen." Vier gescheiterte Hormonbehandlungen liegen hinter den beiden – eine hohe emotionale Belastung für das Paar. In ihrem Wohnzimmer erinnert eine große Vase voller Ampullen und Spritzen an die Hormonbehandlung. "Fünf Versuche, zwei Jahre – das ist ein sehr emotionales Glas für uns", sagt Daniela.
Kinderlos trotz Kinderwunsch
Männlich, ungewollt kinderlos – damit sind Arno und Harry nicht allein. Im Gegenteil. Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2020 ist der Anteil der Frauen und Männer mit unerfülltem Kinderwunsch im Alter von 20 bis 50 Jahren erheblich gestiegen. 2013 waren 25 Prozent der Befragten ungewollt kinderlos, 2020 stieg ihr Anteil auf 32 Prozent.
Auffallend ist, dass der Anteil der ungewollt kinderlosen Männer stärker gestiegen ist als der der Frauen.
Der Kinderwunsch würde heute immer später eine Rolle spielen, sagt Reproduktionsmediziner Heribert Kentenich von der Kinderwunschklinik "Fertilitycenter Berlin. "Wann bekommt eine Frau in Deutschland ihr erstes Kind? Mit 30 Jahren. In der DDR bekam sie mit 25 Jahren und in der BRD mit 28 Jahren ihr erstes Kind." Es seien eindeutige Verschiebungen erkennbar. Beispielsweise lernten sich Paare heutzutage später kennen, als früher, was dazu führe, dass mehr Menschen länger ungewollt kinderlos blieben, so Kentenich.
Gründe für Kinderlosigkeit bei Männern
Die Gründe für Kinderlosigkeit bei Männern sind vielfältig und reichen von persönlichen Umständen bis hin zu medizinischen Ursachen. Bei manchen liegt der Grund auf der Hand: Sie finden nicht die passende Partnerin oder den passenden Partner. Laut einer repräsentativen Umfrage des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2020 traf das zu diesem Zeitpunkt auf 47 Prozent der befragten Männer zu.
Bei wieder anderen liegt die ungewollte Kinderlosigkeit an Einschränkungen in der Qualität der Spermien. Entscheidende Kriterien bei der Analyse von Spermien sind ihre Anzahl, die Form und die Beweglichkeit. Sind diese nicht optimal, kann es sein, dass es mit der Befruchtung nicht funktioniert.
Ein weiterer Grund kann eine Störung in der Spermienproduktion sein, beispielsweise wenn ein Mann einen Hodenhochstand als Kind hatte, der erst zu spät behandelt wurde. Bei einem Hodenhochstand erreichen die beiden Hoden nach der Geburt nicht den Hodensack des Säuglings. Sie stecken förmlich im Körper fest. Wird das nicht bis zum Ende des zweiten Lebensjahres behandelt, kann es zu Problemen in der Spermienproduktion kommen.
Weitere medizinische Gründe, warum es mit dem Kinderkriegen nicht funktioniert, können genetische Defekte, Infektionen, Hormonstörungen oder das Alter des Mannes sein.
Wer sind die kinderlosen Männer?
Ein Großteil der ungewollt kinderlosen Männer lebt in einer festen Partnerschaft. Insgesamt machen sie 62 Prozent der ungewollt Kinderlosen aus. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage des Bundesfamilienministeriums von 2020 hervor.
Umgekehrt bedeutet das, dass 38 Prozent der ungewollt kinderlosen Männer keine feste Partnerin oder Partner haben. Aus der Umfrage geht auch hervor, dass 94,7 Prozent der ungewollt kinderlosen Männer in einer heterosexuellen Partnerschaft leben – also eine Frau oder Freundin an der Seite haben. 5,2 Prozent hingegen haben einen männlichen Partner.
Der "Spitzenbeauftragte"
Bei Harry stand die Karriere lange im Vordergrund, mit dem Kinderkriegen hatte er sich nicht intensiv beschäftigt. "Ende 2020 begann unsere IVF-Reise." IVF steht für in vitro-Fertilisation. Das ist ein längerer Prozess, bei der ein Spermium in die vorher entnommene Eizelle injiziert und der Frau eingesetzt wird. Ein komplexes Verfahren mit vielen Nebenwirkungen für die Frauen. Die Männer können nicht viel tun, außer sich fit zu halten und ihren Frauen eine emotionale Stütze zu sein. Harry wird der "Spritzenbeauftragte", verabreicht Daniela zu Hause die Hormonspritzen. "Jedes Mal hatte ich Angst und war gestresst, weil ich es richtig machen wollte und nichts verschwenden wollte. Das hätte Auswirkungen auf das Ergebnis haben können."
Mit den Belastungen gehen beide unterschiedlich um. Für sie ist der emotionale Austausch mit ihren Freundinnen sehr wichtig. Er begegnet dem Stress vor allem mit Faktenrecherche und kennt alle technischen Details.
Kinderlosigkeit bei Männern - ein stigmatisiertes Thema
Über den Prozess der Kinderwunschbehandlung zu reden, so Harrys Erfahrung, hilft aber auch anderen in der gleichen Situation. Harry hat seine Freunde mit auf den holprigen Weg der künstlichen Befruchtung mitgenommen, die einzelnen Schritte erzählt. “Ich habe ihnen Fotos geschickt von den befruchteten Embryos. Und ich sagte ihnen, dass wir die heute einsetzen und sie uns viel Glück wünschen sollen. Wir haben in den Gesprächen auch gemerkt, dass ein Freund gerade genau das gleiche durchmacht und bisher nicht darüber gesprochen hat."
Der fünfte Versuch hat geklappt. Seit knapp anderthalb Jahren sind Harry und Daniela Eltern der kleinen Clara. Harry wünscht sich einen offeneren Umgang mit dem Thema unerfüllten Kinderwunsch. “Wenn du unfruchtbar bist oder andere Herausforderungen hast, dann ist da diese veraltete Idee von Männlichkeit, aber natürlich macht es dich nicht weniger männlich. Aber es gibt wohl immer noch diese Idee in den Köpfen der Menschen, die Männer davon abhalten, sich zu öffnen.”
Auch Arno hat Erfahrungen damit gemacht, wie es ist, offen über seine Gefühle zu sprechen. "Man wird als Mann schon toll gefunden, wenn man über Gefühle sprechen kann, aber wird dann nicht wirklich als Mann gesehen." Als potenzieller Partner oder Vater eines gemeinsamen Kindes käme er dann nicht mehr in Betracht, erzählt er. Doch er lasse sich von solchen Rückschlägen nicht entmutigen und mache weiter. Solange es eben dauert. "Ich halte immer noch an diesem Traum fest, in einer richtigen Beziehung Vater zu werden."
Sendung: rbb24 Abendschau, 14.01.2024, 19:30 Uhr