Interview | Reproduktionsmediziner - "Der Leidensdruck durch ungewollte Kinderlosigkeit ist bei Männern und Frauen ähnlich"

Di 14.01.25 | 06:16 Uhr
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Symbolbild: Ein Vater schaut sich gemeinsam mit seinem Kind auf dem Sofa ein Bilderbuch am 02.02.2021. (Quelle: IMAGO/Janine Schmitz/photothek.de)
Bild: IMAGO/Janine Schmitz/photothek.de

Ein unerfüllter Kinderwunsch ist eine Herausforderung, die Männer und Frauen gleichermaßen betrifft. Doch Scham und gesellschaftliche Erwartungen erschweren es vielen Männern, offen über ihre Probleme zu sprechen, sagt der Mediziner Heribert Kentenich.

rbb|24: Herr Kentenich, Sie sind Gründungsmitglied einer Kinderwunschpraxis in Berlin. Hatten Sie persönlich einen Kinderwunsch, der erfüllt wurde?

Heribert Kentenich: Ja, relativ unkompliziert sogar. Ich würde sagen, ich gehöre in dieser Hinsicht zur "Normalbevölkerung". Wenn ein Paar etwa zwei- bis dreimal pro Woche Geschlechtsverkehr hat, wird die Frau in rund 50 Prozent der Fälle innerhalb eines halben Jahres schwanger, und bei etwa 90 Prozent klappt es nach einem Jahr. So war es auch bei uns.

Prof. Dr. med Heribert Kentenich. (Quelle: privat)
privat

Prof. Dr. med Heribert Kentenich

... studierte Medizin an der Freien Universität Berlin und promovierte zum Thema Natürliche Geburt in Kliniken. Er ist Reproduktionsmediziner und Mitgründer der Kinderwunschklinik ‘Fertility Center’ in Berlin. Kentenich berät Paare mit unerfülltem Kinderwunsch sowohl medizinisch als auch unter psychosozialen Gesichtspunkten.

Wenn Paare zu Ihnen kommen, gibt es jedoch bereits ein Problem mit dem Kinderwunsch. Wie gehen Sie vor, um die Ursache bei diesen Paaren zu finden?

Zunächst frage ich die Paare, seit wann sie ungeschützten Geschlechtsverkehr haben. Viele kommen aus Sorge oder weil sie von der Familie, etwa der Schwiegermutter, unter Druck gesetzt werden, wenn die Frau nach einem halben Jahr nicht schwanger ist. In solchen Fällen kann ich oft beruhigen, da die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft nach sechs Monaten regelmäßigem Verkehr bei 40 bis 50 Prozent liegt.

Ich muss aber, neben den medizinischen, auch psychologische Fragen stellen. Als Arzt bin ich sowohl für den Körper als auch für die Seele zuständig. Das bedeutet, dass ich nicht nur hormonelle Faktoren, die Gebärmutter, die Eileiter oder die Spermien untersuche, sondern auch die psychischen Aspekte berücksichtige. Am Ende zeigt sich, dass nur bei etwa zehn Prozent der Paare, die Hilfe suchen, eine genauere Diagnose oder eine gezielte Therapie notwendig ist. Die anderen brauchen einfach etwas mehr Geduld.

Zahlen aus Kinderwunschkliniken in Berlin und Brandenburg zeigen, dass bei Männern häufiger Behandlungen durchgeführt werden als bei Frauen. Wie erklären Sie sich das?

Diese Statistiken muss man mit Vorsicht betrachten. Oft wird erwartet, dass man klar benennt, ob das Problem bei der Frau, beim Mann oder bei beiden liegt. Das ist jedoch eine vereinfachte Sichtweise, die ich als "Fake News" bezeichnen würde. Sterilität betrifft immer das Paar als Ganzes – es sei denn, die Frau ist alleinstehend.

Häufig wird gesagt, der Mann sei das Problem, wenn ein Spermiogramm zeigt, dass er zu wenige oder schlecht bewegliche Spermien hat. Doch selbst bei schlechtem Spermiogramm kann es zu einer Schwangerschaft kommen – manchmal nach zwei oder drei Jahren ungeschützten Verkehrs. Wirklich unfruchtbar sind nur Paare, bei denen die Frau keine Eileiter oder Eizellen hat oder der Mann keine Spermien. Die meisten Paare sind lediglich "subfertil", also vermindert fruchtbar.

Wenn es auch nach mehreren Behandlungszyklen nicht klappt, steigt die Belastung für das Paar. Empfinden Männer und Frauen dies unterschiedlich?

Bei der Belastung müssen wir zwischen dem Leidensdruck und der Wahrnehmung der Situation unterscheiden. Der Leidensdruck durch ungewollte Kinderlosigkeit ist bei Männern und Frauen ähnlich. Beide sind enttäuscht, wenn nach sechs oder zwölf Monaten keine Schwangerschaft eintritt. Die Frau bemerkt das Scheitern jedoch oft intensiver, weil sie jeden Monat ihre Menstruation bekommt – ein klarer Hinweis, dass es nicht geklappt hat. Männer spüren diesen monatlichen "Misserfolg" nicht unmittelbar. Trotzdem darf man nicht glauben, dass das an den männlichen Partnern spurlos vorbei geht. Auch sie leiden psychisch unter der Situation und auch darum müssen sich Ärzte kümmern.

Welche Rolle spielt für Männer die Stigmatisierung des unerfüllten Kinderwunsches?

Das Thema ist natürlich schambehaftet. Probleme wie Erektionsstörungen, Ejakulationsprobleme oder ein vorzeitiger Samenerguss, bei dem der Samen nicht in der Scheide landet, sind heikel. In solchen Fällen bespreche ich mögliche therapeutische Ansätze oder verweise auf Sexualtherapeuten. Es ist wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Paar offen sprechen kann. Wir bieten dafür auch eine Selbsthilfegruppe für betroffene Paare an.

Laut dem Bundesfamilienministerium gab es 2020 mehr Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch als 2013. Besonders bei Männern stieg die Zahl. Wie erklären Sie sich das?

Die Untersuchungen des Ministeriums sind wichtig und zeigen, dass 30 Prozent der Paare zwischen 20 und 50 Jahren kinderlos sind. Allerdings sind 75 Prozent davon gewollt kinderlos, nur 25 Prozent ungewollt. Der Anteil ungewollter Kinderlosigkeit liegt stabil bei etwa 7 bis 10 Prozent.

Eine Veränderung zeigt sich in der Lebensplanung. Der Kinderwunsch wird oft in eine spätere Lebensphase verschoben. Frauen kommen im Durchschnitt mit 36 Jahren zur künstlichen Befruchtung, Männer sind dann 38. Vor 25 Jahren lag das Durchschnittsalter für das erste Kind bei 25 in der DDR und 28 im westlichen Teil Deutschlands. Heute liegt das Durchschnittsalter einer Frau bei ihrem ersten Kind bei 30 Jahren. Diese Veränderung hat auch damit zu tun, dass sich Frauen viel häufiger erst auf Beruf und Karriere konzentrieren, was ja auch gut ist, und sich erst später auf die Familienplanung konzentrieren.

Und so bleiben dann auch die Männer ungewollt kinderlos?

Das kann einer der Gründe sein.

Wie begleiten Sie Paare therapeutisch, wenn es trotz langer Behandlung nicht zu einer erfolgreichen Schwangerschaft kommt?

Für etwa die Hälfte der Frauen in Behandlung endet der Kinderwunsch nicht mit einer Schwangerschaft. Manchmal ist es wichtig, einen Abschluss zu finden und sich an anderen Dingen im Leben zu erfreuen – an der Partnerschaft, der Sexualität, dem Beruf oder Reisen. Interessanterweise zeigen soziologische Studien, dass Paare ohne Kinder oft glücklicher sind als solche mit Kindern – wohl auch, weil Kinder anstrengend sein können. Das Leben geht auch ohne Kinder weiter, wenn Behandlungen keinen Erfolg bringen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mit Heribert Kentenich sprach Helena Daehler.

Sendung: rbb24 Abendschau, 14.01.2024, 19:30 Uhr

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8 Kommentare

  1. 8.

    Ein traumatisiertes Kind ständig zu retraumatisieren, durch Besuche oder die Rückführung in die Familie , ist eine Kindswohlgefärdung, die vom Staat ausgeht.
    Die furchtbaren Taten der Eltern kann man schwerlich mit Zwangsadoptionen auf Grund einer politischen Meinung in der früheren DDR vergleichen. Manchmal ohnt es sich, über den Tellerrand zu schauen.

  2. 7.

    Vor 100 Jahren war die Situation eine andere. Ich glaube nicht, dass es sich bei allen Kindern tatsächlich um Wunschkinder handelte. Sehen Sie sich die Zeichnungen von Heinrich Zille an, die sagen mehr als Worte. So will heute niemand mehr leben.
    Was die soziale Seite betrifft, musste damals jeder sehen, wo er bleibt, das war einfach so. Die Menschen hatten nicht die Ansprüche, wie heute.
    Meine Urgroßeltern hatten jeweils 2 Kinder und sie redeten nie davon, ihren Kindern etwas bieten zu müssen. Sie trafen Vorsorge für das eigene Alter und sorgten mit einer Aussteuer in Form einer Truhe mit Wäsche und einem finanziellen Startkapital für einen guten Start ihrer Kinder ins Leben. Die Truhe bekamen auch Söhne, falls die Braut aus armen Verhältnissen stammt. Uroma sagte immer: "Braut oder Bräutigam müssen kein Schutzblech am Fahrrad haben, aber was auf dem Kasten". Das stimmt heute noch.

  3. 6.

    Die soziale Lage der Bevölkerung vor 100 Jahren hat z.T. mehr als 10 Kinder/Paar hervorgebracht. Je günstiger die soziale Situation, desto weniger Kinder.

  4. 5.

    Ich finde auch, dass biologische Eltern in manchen Fällen ein paar Chancen zuviel bekommen und bedauere Kinder, die Opfer ihrer Eltern wurden und immer wieder dorthin zurück müssen.
    Im Beitrag geht es nicht um Adoption, sondern um Reproduktion.
    Ich glaube, dass das im Beitrag erwähnte Alter auch mit sozialer Sicherheit zu tun hat, z.B. Wohnungsmangel, teure Mieten, Lohngefüge, befristeter Arbeit. Das sind nicht gerade die tollsten Voraussetzungen, ein Nest zu bauen und ein Ei reinzulegen.

  5. 4.

    „Vor 25 Jahren in der DDR…“?

  6. 3.

    Vor 25 Jahren gab es keine DDR mehr !!!

  7. 2.

    Veränderungen im Adoptionsgesetz wären schon sinnvoll. Ein Aufheben der Elternrechte bei schweren Straftaten, die gegen das Kind gerichtet waren, könnten zu mehr Adoptionen im Sinne des Kindswohls führen

  8. 1.

    Zusätzlich wird man von Staat noch steuerlich benachteiligt

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