Interview | Blockaden der "Letzten Generation" - "In Berlin gab es schon Straßenproteste, die viel stärker eskaliert sind"
Bilder von festgeklebten Aktivisten auf Straßen gehören in diesen Tagen wieder zum Berliner Alltag - genau wie die Empörung darüber. Der Berliner Protestforscher Simon Teune erklärt im Interview, warum er die Aktionen für vergleichsweise mild hält.
rbb|24: Herr Teune, in dieser Woche hat es wieder fast täglich Straßenblockaden durch Aktivisten der "Letzten Generation" in Berlin gegeben. Wie beurteilen Sie diesen Protest?
Simon Teune: Viel bemerkenswerter als den Protest an sich finde ich die Reaktionen darauf. Ich finde erstaunlich, wie hasserfüllt die Menschen diesen Leuten begegnen, die sich da auf die Straße setzen. Aber auch wie schräg das teilweise eingeordnet wird, was da passiert. Es hat ja schon Vergleiche mit den Straßenkämpfen in der Weimarer Republik oder der politischen Gewalt der RAF gegeben. Das finde ich schon ziemlich absurd, wenn man sich anguckt, was real passiert: Nämlich, dass an ein paar Stellen für eine halbe bis zwei Stunden die Straße blockiert wird.
Aber es scheint ja schon ein Alleinstellungsmerkmal dieser Aktionen zu geben, sonst würden die Reaktionen nicht so ausfallen.
Der Plan, eine Straße zu blockieren, ist nicht ganz neu. Das hat es ja durch die Gruppe "Extinction Rebellion" schon vor einigen Jahren gegeben.
Das Besondere an diesen Straßenblockaden, die man dadurch verlängert, dass man sich festklebt, sind zwei Sachen. Das eine ist: Man braucht sehr wenige Leute, um das zu tun und erzielt einen enormen Effekt. Denn es werden viele Menschen für einen längeren Zeitraum aufgehalten. Zusätzlich spielt da die Medienberichterstattung eine Rolle, die angesichts der Zahl der handelnden Menschen überproportional ist.
Zweitens handelt es sich um eine Form des zivilen Ungehorsams, die es so in Deutschland noch nicht gegeben hat. Dass eben über einen längeren Zeitraum und nicht nur spontan an verschiedenen Stellen Straßen blockiert werden, um dadurch Druck auf die Regierung auszuüben. Der Unterschied zu anderen Aktionen ist hier, dass es nicht darum geht, einem konkreten Ziel zu schaden, also einem Betrieb, einer Institution, einer Militärbasis oder einem Atommüll-Transport, sondern indirekt über die Straßenblockade politischen Druck auszuüben.
Und hier zeigt sich offensichtlich auch ein Kommunikationsproblem dieser Protestform, denn es gibt keinen direkten Adressaten. Es ist auch nicht leicht vermittelbar, dass es beim auf die Straße kleben nicht nur um Verkehrspolitik geht, sondern um Klima-Politik allgemein.
Sind diese Blockaden denn eine besonders radikale Form des Protests - auch in Hinblick auf Proteste in der Vergangenheit?
Gerade wenn man das im Vergleich zu früheren Protesten sieht, sind die öffentliche Debatte und die Rede von Radikalisierung unangemessen. Radikal wird in der Regel mit zwei Bedeutungen benutzt. Zum einen auf die Inhalte bezogen - da würde ich sagen, ein Neun-Euro-Ticket und ein Tempolimit sind keine radikalen Forderungen. Außerdem kann sich Radikalität dadurch ausdrücken, dass Gewalt legitimiert wird und dann auch angewendet wird. Auch das findet nicht statt, es handelt sich um einen sich selbst beschränkenden, gewaltfreien Protest.
Und es ist, gerade wenn man das mit historischen Protesten ins Verhältnis setzt, und wenn man es mit der Schwere des Problems ins Verhältnis setzt - es geht ja um nichts weniger als die Bedrohung der menschlichen Zivilisation-, eine milde Form des Protests.
In Berlin gab es schon Straßenproteste, die viel stärker eskaliert sind. Etwa die ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und die darauf folgende Stadtguerilla oder die Kämpfe um besetzte Häuser in den 1980er und 1990er Jahren. In diese Reihe gehören auch die 1.-Mai-Demonstrationen, bei denen es regelmäßig zu Krawallen kam. Wenn man da die aktuellen Klima-Proteste sieht, haben die von der Form her ein viel geringeres Niveau an Konfrontation. Der Unterschied ist nur, dass sich die Leute viel mehr angegriffen fühlen von dem, was da passiert.
Wird das Bild des auf der Straße klebenden Aktivisten in die Protest-Geschichte eingehen?
Der aktuelle Protest steht schon in der Tradition des zivilen Ungehorsams. Da denke ich etwa an die Bürgerrechtsbewergung in den USA oder die Friedensbewegung in Deutschland. Aber er funktioniert eben anders: Bei der US-Bürgerrechtsbewegung haben die Leute gegen Gesetze verstoßen, die sie als Unrecht verstanden haben. Etwa, dass es getrennte Zonen für Schwarze und Weiße gab. Bei der Friedensbewegung ging es darum, den Betrieb von Militärbasen zu stören durch Blockaden. Und jetzt gibt es eben den Versuch, über die Straßenblockaden den gesamtgesellschaftlichen Klärungsbedarf bei der Klimakrise deutlich zu machen.
Für die Klebe-Blockaden gibt es kein direktes historisches Vorbild, wichtig ist, sie in den Zusammenhang einzuordnen. Es ist eine Protestform, die aus der Verzweiflung geboren ist, weil andere Formen nicht zu einer konsequenten Klimapolitik geführt haben. Es gab ja Massendemonstrationen, es gab eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, es gab Hungerstreiks, es gab Aktionen vor den Ministerien oder bei den wirtschaftlichen Akteuren, die für die Klimakrise mitverwantwortlich sind. Das alles war nicht so wirksam oder hat nicht in dem Maße den Nerv getroffen.
Ich glaube aber auch, dass das eine spezifisch deutsche Konstellation ist, dass durch die Straßenblockaden so ein Furor ausgelöst wird. In anderen Ländern wie Bolivien oder Argentinien gehören Straßenblockaden zum normalen Handlungsrepertoire von sozialen Bewegungen. Hier ist das Auto zu einem Freiheitssymbol hochstilisiert worden. Das ist für Menschen, die ohne Auto unterwegs sind, befremdlich. Die Leute stehen gerade in Berlin jeden Tag im Stau, aber wenn ihnen jemand zurechenbar diesen Stau verursacht, dann ticken sie offensichtlich aus.
Und das werden sie wohl noch eine Weile tun, denn die "Letzte Generation" hat angekündigt, die Stadt unbefristet lahmzulegen. Was glauben Sie: Wie lange halten die Aktivisten durch?
Das ist schwer zu sagen. Die Vokabeln "unbefristet" und "lahmlegen" sollen ja vor allem eine Drohkulisse aufbauen. Es ist allerdings klar, dass das nicht unbefristet machbar ist. Das Kontingent der Menschen, die bereit sind, diese Form des Protests anzuwenden, ist überschaubar. Zudem sind die Kosten extrem hoch. Nicht nur, weil man da beschimpft wird, sondern weil man etwa auch einer möglichen Haftstrafe ohne Bewährung entgegensieht, wie wir gerade gesehen haben.
Ich kann mich auch an kein historisches Beispiel erinnern, wo es einen Protest auf diesem Konfliktniveau wirklich auf Dauer gegeben hat. Irgendwann sind die Ressourcen alle oder es gibt einen Etappensieg, mit dem man einen Protest beenden kann.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Mark Perdoni, rbb|24.
Sendung: rbb24 Abendschau, 27.04.2023, 19:30 Uhr