Interview | Blockaden der "Letzten Generation" - "In Berlin gab es schon Straßenproteste, die viel stärker eskaliert sind"

Sa 29.04.23 | 08:20 Uhr
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Aktivisten der Klimaschutz-Initiative „Letzte Generation“ (Quelle: dpa/Matthias Balk)
Bild: dpa/Matthias Balk

Bilder von festgeklebten Aktivisten auf Straßen gehören in diesen Tagen wieder zum Berliner Alltag - genau wie die Empörung darüber. Der Berliner Protestforscher Simon Teune erklärt im Interview, warum er die Aktionen für vergleichsweise mild hält.

rbb|24: Herr Teune, in dieser Woche hat es wieder fast täglich Straßenblockaden durch Aktivisten der "Letzten Generation" in Berlin gegeben. Wie beurteilen Sie diesen Protest?

Simon Teune: Viel bemerkenswerter als den Protest an sich finde ich die Reaktionen darauf. Ich finde erstaunlich, wie hasserfüllt die Menschen diesen Leuten begegnen, die sich da auf die Straße setzen. Aber auch wie schräg das teilweise eingeordnet wird, was da passiert. Es hat ja schon Vergleiche mit den Straßenkämpfen in der Weimarer Republik oder der politischen Gewalt der RAF gegeben. Das finde ich schon ziemlich absurd, wenn man sich anguckt, was real passiert: Nämlich, dass an ein paar Stellen für eine halbe bis zwei Stunden die Straße blockiert wird.

zur person

Simon Teune, Protestforscher an der FU Berlin.(Quelle:Chris Grodotzki)
Chris Grodotzki

Simon Teune arbeitet als Soziologe an der Freien Universität Berlin im Sonderforschungsbereich Intervenierende Künste. Dort forscht er zur Wirkung von Aktionen zwischen Kunst und Protest. Er ist außerdem Vorstand des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) in Berlin.

Aber es scheint ja schon ein Alleinstellungsmerkmal dieser Aktionen zu geben, sonst würden die Reaktionen nicht so ausfallen.

Der Plan, eine Straße zu blockieren, ist nicht ganz neu. Das hat es ja durch die Gruppe "Extinction Rebellion" schon vor einigen Jahren gegeben.

Das Besondere an diesen Straßenblockaden, die man dadurch verlängert, dass man sich festklebt, sind zwei Sachen. Das eine ist: Man braucht sehr wenige Leute, um das zu tun und erzielt einen enormen Effekt. Denn es werden viele Menschen für einen längeren Zeitraum aufgehalten. Zusätzlich spielt da die Medienberichterstattung eine Rolle, die angesichts der Zahl der handelnden Menschen überproportional ist.

Zweitens handelt es sich um eine Form des zivilen Ungehorsams, die es so in Deutschland noch nicht gegeben hat. Dass eben über einen längeren Zeitraum und nicht nur spontan an verschiedenen Stellen Straßen blockiert werden, um dadurch Druck auf die Regierung auszuüben. Der Unterschied zu anderen Aktionen ist hier, dass es nicht darum geht, einem konkreten Ziel zu schaden, also einem Betrieb, einer Institution, einer Militärbasis oder einem Atommüll-Transport, sondern indirekt über die Straßenblockade politischen Druck auszuüben.

Und hier zeigt sich offensichtlich auch ein Kommunikationsproblem dieser Protestform, denn es gibt keinen direkten Adressaten. Es ist auch nicht leicht vermittelbar, dass es beim auf die Straße kleben nicht nur um Verkehrspolitik geht, sondern um Klima-Politik allgemein.

Die aktuellen Klima-Proteste haben ein viel geringeres Niveau an Konfrontation als frühere Proteste. Der Unterschied ist, dass sich die Leute viel mehr angegriffen fühlen von dem, was da passiert.

Simon Teune, Protestforscher

Sind diese Blockaden denn eine besonders radikale Form des Protests - auch in Hinblick auf Proteste in der Vergangenheit?

Gerade wenn man das im Vergleich zu früheren Protesten sieht, sind die öffentliche Debatte und die Rede von Radikalisierung unangemessen. Radikal wird in der Regel mit zwei Bedeutungen benutzt. Zum einen auf die Inhalte bezogen - da würde ich sagen, ein Neun-Euro-Ticket und ein Tempolimit sind keine radikalen Forderungen. Außerdem kann sich Radikalität dadurch ausdrücken, dass Gewalt legitimiert wird und dann auch angewendet wird. Auch das findet nicht statt, es handelt sich um einen sich selbst beschränkenden, gewaltfreien Protest.

Und es ist, gerade wenn man das mit historischen Protesten ins Verhältnis setzt, und wenn man es mit der Schwere des Problems ins Verhältnis setzt - es geht ja um nichts weniger als die Bedrohung der menschlichen Zivilisation-, eine milde Form des Protests.

In Berlin gab es schon Straßenproteste, die viel stärker eskaliert sind. Etwa die ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre und die darauf folgende Stadtguerilla oder die Kämpfe um besetzte Häuser in den 1980er und 1990er Jahren. In diese Reihe gehören auch die 1.-Mai-Demonstrationen, bei denen es regelmäßig zu Krawallen kam. Wenn man da die aktuellen Klima-Proteste sieht, haben die von der Form her ein viel geringeres Niveau an Konfrontation. Der Unterschied ist nur, dass sich die Leute viel mehr angegriffen fühlen von dem, was da passiert.

Wird das Bild des auf der Straße klebenden Aktivisten in die Protest-Geschichte eingehen?

Der aktuelle Protest steht schon in der Tradition des zivilen Ungehorsams. Da denke ich etwa an die Bürgerrechtsbewergung in den USA oder die Friedensbewegung in Deutschland. Aber er funktioniert eben anders: Bei der US-Bürgerrechtsbewegung haben die Leute gegen Gesetze verstoßen, die sie als Unrecht verstanden haben. Etwa, dass es getrennte Zonen für Schwarze und Weiße gab. Bei der Friedensbewegung ging es darum, den Betrieb von Militärbasen zu stören durch Blockaden. Und jetzt gibt es eben den Versuch, über die Straßenblockaden den gesamtgesellschaftlichen Klärungsbedarf bei der Klimakrise deutlich zu machen.

Für die Klebe-Blockaden gibt es kein direktes historisches Vorbild, wichtig ist, sie in den Zusammenhang einzuordnen. Es ist eine Protestform, die aus der Verzweiflung geboren ist, weil andere Formen nicht zu einer konsequenten Klimapolitik geführt haben. Es gab ja Massendemonstrationen, es gab eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, es gab Hungerstreiks, es gab Aktionen vor den Ministerien oder bei den wirtschaftlichen Akteuren, die für die Klimakrise mitverwantwortlich sind. Das alles war nicht so wirksam oder hat nicht in dem Maße den Nerv getroffen.

Ich glaube aber auch, dass das eine spezifisch deutsche Konstellation ist, dass durch die Straßenblockaden so ein Furor ausgelöst wird. In anderen Ländern wie Bolivien oder Argentinien gehören Straßenblockaden zum normalen Handlungsrepertoire von sozialen Bewegungen. Hier ist das Auto zu einem Freiheitssymbol hochstilisiert worden. Das ist für Menschen, die ohne Auto unterwegs sind, befremdlich. Die Leute stehen gerade in Berlin jeden Tag im Stau, aber wenn ihnen jemand zurechenbar diesen Stau verursacht, dann ticken sie offensichtlich aus.

Und das werden sie wohl noch eine Weile tun, denn die "Letzte Generation" hat angekündigt, die Stadt unbefristet lahmzulegen. Was glauben Sie: Wie lange halten die Aktivisten durch?

Das ist schwer zu sagen. Die Vokabeln "unbefristet" und "lahmlegen" sollen ja vor allem eine Drohkulisse aufbauen. Es ist allerdings klar, dass das nicht unbefristet machbar ist. Das Kontingent der Menschen, die bereit sind, diese Form des Protests anzuwenden, ist überschaubar. Zudem sind die Kosten extrem hoch. Nicht nur, weil man da beschimpft wird, sondern weil man etwa auch einer möglichen Haftstrafe ohne Bewährung entgegensieht, wie wir gerade gesehen haben.

Ich kann mich auch an kein historisches Beispiel erinnern, wo es einen Protest auf diesem Konfliktniveau wirklich auf Dauer gegeben hat. Irgendwann sind die Ressourcen alle oder es gibt einen Etappensieg, mit dem man einen Protest beenden kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Mark Perdoni, rbb|24.

Sendung: rbb24 Abendschau, 27.04.2023, 19:30 Uhr

123 Kommentare

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  1. 123.

    "Ich kann z.B. lediglich eins meiner sechs KFZ in meiner Parkraumbewirtschaftungszone genehmigt wissen, "

    1. kann ich mich nicht erinnern ihnen das "Du" angeboten zu haben, das suche ich mir immer noch aus

    2. schön dass wir jetzt wissen dass eine Genitalverlängerung manchen Leuten nicht ausreicht wenn man sonst im Leben nichts errreicht hat

  2. 122.

    Lässt sie doch einfach mal einen ganzen Tag kleben. Dann gibt es keine Beschwerden über Polizeigewalt. Die Polizisten müssten dann nur noch die Personalien aufnehmen. Fertig.

    Die LG lässt ja nach ihrer Aussage immer eine Rettungsgasse. Damit werden ja nie Menschenleben gefährdet.

    Radikal ist die LG nach diesem Interview auch nicht. ^^

    Sie sind so verzweifelt. ^^

  3. 121.

    Liebe Gertrud, danke für deinen Beitrag. Ich sehe das genauso. Die Menschen, die sich jetzt über die sog. "Klimakleber" aufregen, sind die ersten, die bei Extremwetter z. B. im Sommer über 35 ° und mehr, jammern oder bei Überflutungen nach dem Staat rufen.

  4. 120.

    ...die Chaoten kleben fest? Ich fahre Umweg! Umwelt freut sich. Lass die kleben.

  5. 119.

    Warum befürchten ? Eine gut organisierte Vertretung der Autofahrer wäre ein guter Schutz für den einzelnen Betroffenen, nicht in Rage zu geraten. Denn dann vertritt die Organisation die Interessen aller Blockierten.

  6. 118.

    Jede Aktion erzeugt eine Reaktion. Somit muss man befürchten, dass sich auch zu den Straßenblockaden eine gut organisierte Gegenbewegung gesellschaftlich formiert.

  7. 117.

    Also gegen gewaltfreien Demos ohne nötigung vor Ministerien habe ich nichts.

    Gegen kreative Demos mit witzigen Kostümen und Aktionen habe ich auch nichts.

    Aber sich wie ein kleines Kind an der supermarkt Kasse einfach auf den boden setzen oder legen und festkleben... Super. Ist ja alles für den Klimaschutz. Da müssen wir alle klatschen. Damit müssen wir leben. Alles ganz normal. Das ist das neue Berlin. Danke für nichts.

  8. 116.

    Die Verbindung zu Extinction Rebellion finde ich sehr bedenklich. Der Mitbegründer Roger Hallam, wird heute gerne vergessen, verharmlost den Holocaust hat seltsame Ansichten über Demokratie, Sexismus und Rassismus. Wenn das einen Systemwechsel herbeizuführen soll, wohin geht die Reise?

  9. 115.

    Einsammeln durch die Polizei, Strafanzeigen im Vorfeld hinzufügen und schnell dem Richter zur Verurteilung vorführen. Nur so setzt eine Lernkurve bald ein.

  10. 114.

    Wo bitte kollabiert denn in Berlin der Verkehr an normalen Tagen? Das bisschen Stop and Go ist kaum der Rede wert.

  11. 113.

    Dem RBB ist für dieses unaufgeregte Interview zu danken. Ein Akademiker rückt in Ruhe die Verhältnisse zurecht.

    Leider ist in Zeiten, in denen ein Mangel an Bildung durch ein Übermaß an Lautstärke vor allem in "sozialen" Medien kompensiert wird, nicht mit viel Verständnis zu rechnen, das Simon Teune allerdings gebührt.

    Man mag über die Protestform streiten. Aber gibt es ernsthaft Zweifel an der Berechtigung dieses Protests? Ich bewundere, wie besonnen diese Aktivistinnen und Aktivisten friedlich ihren Protest zeigen, auch wenn ihnen Hass und Gewalt von Mob, Politik und Polizei entgegenschlägt. Haltet durch!

  12. 112.

    "Die damaligen Stadtplaner haben das U- und S-bahnsystem kreiert, was wir heute noch nutzen. " - ist ja richtig (auch wenn mit zwei unterschidlichen Spubreiten, zumindest bei der U-Bahn).

    UND DIE ERSTE AMPEL DEUTSCHLANDS WAR AUF DEM POTSDAMER PLATZ (für Radfahrer und Fussgänger - oder?).

  13. 111.

    „... jetzt gibt es eben den Versuch, über die Straßenblockaden den gesamtgesellschaftlichen Klärungsbedarf bei der Klimakrise deutlich zu machen.“ „Und hier zeigt sich offensichtlich auch ein Kommunikationsproblem dieser Protestform, denn es gibt keinen direkten Adressaten.“

    Genau so ist es. Man könnte fast meinen, der Protest richte sich gegen Autos, unabhängig davon wer damit zu welchem Zweck unterwegs ist und wie die betreffende Person auf den Klimawandel reagiert. Aber ein Auto trifft keine politische Entscheidungen. Und potenzielle Mitstreiter holt man so auch nicht ab.

    Hier hätte Herr Teune eigentlich festhalten müssen, dass diese Protestform folglich nicht zielführend ist und dass sie demzufolge von den Bürgern nicht gebilligt wird. Stattdessen führt er die übertriebene Autoliebe der Deutschen an. Die besteht zwar, aber sie ist nicht der Grund dafür, dass die Mehrheit gegen die Proteste ist. Hier sollte Herr Teune wohl noch etwas forschen.

  14. 110.

    Also KEPAP als Nick muss ja nicht "Kebap" heissen. Vll. ist es auch was ganz persönliches - als Abkürzung oder so. Ich find's ok.

  15. 109.

    Was wissen Sie, was vor 120 Jahren war? Die damaligen Stadtplaner haben das U- und S-bahnsystem kreiert, was wir heute noch nutzen.

  16. 108.

    Wat willst Du denn mir vorschreiben wie ich meinen Nick schreibe!!!
    "Soziologie ist eine Wissenschaft, die sich mit der empirischen und theoretischen Erforschung des sozialen Verhaltens befasst, also die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen untersucht." - empirischen und theoretischen Erforschung = ?
    Google und der/die/das Internet gehört abgeschafft - gelle?

    Interessant ist auch, das "Ole" meinen Kommentar als einzigen "kommentarwürdig" bzgl. all der anderen 100 Kommentere erachtet.
    Ole ist ein Forscher (Soziologe) - tralalalala - singt alle mit!!!

  17. 107.

    Wenn man ehrlichen Klimaschutz machen möchte, dann müsste man wieder mehr Regional denken. Sprich Obst/Gemüse nur noch regional beziehen, max. innerhalb der EU. Dann gibt es halt nicht zu jederzeit alles im Supermarkt. Urlaub? Vielleicht noch im eigenen Land, aber nicht mehr außerhalb, außer man kann sein Reiseziel Klimaneutral erreichen! Zu glauben das wir in der EU/DE Vorbild sein können, ist denke ich das typisch arrogante Denken von uns. Wenn das funktionieren würde, dann hätten wir keine Diktaturen auf der Welt und überall soziale Gerechtigkeit. Es ist schön zu sehen das es hier so viele Unterstützer der LG gibt, da erstaunt es einem das diese nicht mehr Menschen mobilisiert bekommen. Aber scheinbar kauft man sich lieber mit einer Spende frei, da dann das eigene wirtschaftliche Wohl doch höher ist als Klimaschutz. Bevor über mich gewettert wird: Ich fahre täglich Fahrrad durch Berlin oder nutze den ÖPNV. Eingekauft wird nach Möglichkeit Bio und Regional. Viel Spaß allen!

  18. 106.

    Vor allem war die von Max definierte Gegenbewegung vor der LG da. Somit hat Max nicht mal begriffen was eine Gegenbewegung ist. So ist das mit dem Raushauen von Sprüchen.

  19. 105.

    Gilt das auch für/bei Fahrrädern?
    Ich kann z.B. lediglich eins meiner sechs KFZ in meiner Parkraumbewirtschaftungszone genehmigt wissen,
    das finde ich unfair.
    Fahrräder dürfte ich sicher Dutzende, auch im Strassen-/Gehweg-Bereich abstellen.
    Auch da kann ich immer nur EINS nutzen.
    Oder traust mir da mehr zu?

  20. 104.

    Echt cool, analytisch wieder nicht zu übertreffen.
    Zumal Deine Erfahrungen und Erlebnisse bis zur Enstehung Berlins somit auf beinahe 1000 Jahre zurückblicken.

    Aber Deine angegebene "Gegenbewegung" haben doch erst Stadtplaner vor über 120 Jahren ermöglicht, der Grund ist bis heute rätselhaft.
    Oder wie hast Du das damals erlebt (und kannst das Aroma Berlins von damals umschreiben)?

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