30 Jahre "Dagobert"-Festnahme | Interview mit SEK-Leiter - "Welche Häme über die Polizei ausgekippt wurde - das ärgert mich bis heute"
Am 22. April 1994 wurde der Kaufhauserpresser Arno "Dagobert" Funke festgenommen. Martin Textor jagte ihn als Chef der Berliner Sondereinheiten fast zwei Jahre lang. Im Interview erzählt Textor, was für ein Verhältnis er heute zu Funke hat - und blickt zurück.
Eine Seniorenresidenz am Rande Berlins. Neben dem Haus spielen drei ältere Herren Boule im kalten Wind. Martin Textor empfängt mit Handschlag an der Eingangstür, ein drahtiger Mann mit kurzärmeligem karierten Hemd und Bart.
Textor leitete knapp 25 Jahre lang die Berliner Spezialeinheiten, verantwortete Einsätze gegen bewaffnete Geiselnehmer und Terroristen. Der ungewöhnlichste Täter, mit dem er es zu tun hatte, trug keine Pistole und wählte den Namen einer Comicfigur: Der Kaufhauserpresser Arno Funke, den alle nur unter seinem Alias "Dagobert" kennen. Funke forderte zwischen 1988 und 1994 1,5 Millionen Mark vom Hertie/Karstadt-Konzern. Er ließ mehrere Sprengsätze in Karstadt-Filialen in die Luft gehen. Zum berühmtesten Erpresser der deutschen Kriminalgeschichte aber wurde Funke, weil er die Ermittler immer wieder austrickste - bis ihn sein Glück am 22. April 1994 verließ.
rbb|24: Herr Textor, was unterscheidet den Täter Dagobert von anderen, mit denen Sie es zu tun hatten?
Martin Textor: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: 1993 hat er mittags einen Sprengsatz in einem Fahrstuhl im Karstadt am Hermannplatz gezündet, mitten im Geschäftsbetrieb. Da habe ich in einem Fernsehinterview gesagt: Für mich hat Dagobert jetzt seine Unschuld verloren, weil er das erste Mal Menschen ernsthaft gefährdet hat. Als er sieben Jahre später entlassen wurde, hat er mich kontaktiert. Er wolle mit mir unter vier Augen sprechen.
Hatten Sie da Bedenken?
Nein, ich dachte nur: Was will der jetzt noch von mir? Wir haben uns dann bei meinem Lieblingsitaliener getroffen, der hat nur für uns aufgemacht. Funke hat gesagt, es habe ihn damals sehr getroffen, als ich das im Fernsehen über ihn gesagt hätte. Und dann hat er Tabellen, Konstruktionspläne und alles mögliche auf den Tisch gelegt. Er wollte mir unbedingt beweisen, warum damals am Hermannplatz auf gar keinen Fall was hätte passieren können. Das war dem wirklich wichtig.
Was haben Sie da gedacht?
Dass der nie wieder sowas machen wird. Er hat damals auch immer wieder bei uns angerufen und sich entschuldigt, wenn mal wieder eine Übergabe schiefgegangen war. Es tue ihm leid, dass wir alle deshalb in den Dienst kommen mussten. Wir dachten alle, der verscheißert uns. Aber heute weiß ich: Der ist wirklich so.
Was für ein Verhältnis haben Sie heute zu Funke?
Ich habe am Anfang immer darauf geachtet, dass wir eine gewisse Distanz wahren, uns privat nicht treffen und uns auch siezen. Als man uns beide vor ein paar Jahren zu Dreharbeiten eingeladen hat, hat er angefangen, mich zu duzen. Dabei ist es geblieben. Wir sehen uns ab und zu, auch wenn ich uns nicht als Freunde bezeichnen würde.
Er lebt heute ganz gut von seiner Berühmtheit als ehemaliger Erpresser.
Ja, er malt Plakate, stellt Karikaturen aus, tritt auf, er war auch im Dschungelcamp. Vor allem aber hat er keine Schulden mehr. Die Akten bei Karstadt sind weg, hat er mir gesagt. Die hätten keine Grundlage mehr, etwas von ihm zu fordern.
Arno Funke wurde wegen sechs Sprengstoffanschlägen zu neun Jahren Haft verurteilt. Bei vielen in der Öffentlichkeit hat er bis heute ein Image, als wären seine Taten so etwas wie größere Lausbubenstreiche gewesen. Er selber sagt von sich: Ich war ein Schwerverbrecher. Wie sehen Sie das?
Bei dem Anschlag in Hannover hat es zwei leicht Verletzte gegeben. Und der Sachschaden war enorm, mehrere Millionen Mark. Natürlich kann man den Karstadt-Konzern nun als unpersönliches Großunternehmen sehen – aber auch da hängen ja wieder Jobs dran. Das sehen wir vielleicht erst, seitdem es mit dem Konzern so steil bergab geht.
Und mal abgesehen von dem Lösegeld: Die Jagd der Polizei auf Dagobert hat insgesamt zehn Millionen Mark gekostet, das zahlen wir alle. Auch wenn es immer heißt: Ja die Polizei, die ist ja eh da. Aber wir haben sowieso nie genug Observationskräfte in einer Stadt wie Berlin. Denken Sie an den Breitscheidplatz. Als wir mit allen Kräften Dagobert gejagt haben, haben wir alle anderen Sachen, auch politische, nicht überwachen können. Im Endeffekt ist es dann auch Glück, dass nichts anderes passiert ist - gottseidank.
Lassen Sie uns mal zurückgehen ins Jahr 1992. Wie sind Sie damals zu dem Fall gekommen?
Erst war es ein Hamburger Fall, weil der erste Sprengsatz bei Karstadt an der Mönckebergstraße hochging. Aber wir hatten 1988 hier in Berlin schon einmal eine Erpressung des KaDeWe. Damals hat der Täter 500.000 Mark gezahlt bekommen, mit einer Übergabe, wie sie dieser Dagobert nun wieder forderte: Er wollte, dass man ein Paket mit dem Geld mit einem Elektromagneten an einer S-Bahn befestigt und dann an einer bestimmten Stelle abwirft. Das hat er sich tatsächlich geschnappt.
Diese Tricks bei den Geldübergaben haben uns dann 1992 davon überzeugt: Das muss derselbe Täter sein. Hätte er nach dem ersten Mal aufgehört und nicht alles so schnell verballert - wir hätten den nie gefasst, davon bin ich überzeugt. Aber jetzt forderte er 1,4 Millionen Mark.
Wie haben Sie sich den Täter vorgestellt?
(Überlegt) Als kluges Kerlchen.
Dagobert hatte auch sehr viel Glück. Wann hat sich das das erste Mal gezeigt?
Bei einer Übergabe in Charlottenburg. Das Geld sollte wieder aus einer fahrenden Bahn abgeworfen werden. Zwei Beamte warteten also neben der Bahnstrecke, die Bahn kam angefahren, dann sahen sie plötzlich einen Mann vom Bahndamm runterkommen. Der sprang auf sein Fahrrad und wollte abhauen. Ein Beamter rannte hin und versuchte, ihn vom Rad zu stoßen. Die meisten Menschen hätte es hingehauen. Aber der schaffte es irgendwie, einen Schlenker zu machen und zu fliehen. Und der Kollege ist auch noch ausgerutscht.
Wirklich auf Hundekacke, wie damals berichtet wurde?
Nein, es waren nasse Blätter. Da war der Spott in der Presse natürlich riesig. Es lief jahrelang nach dem Motto: Endlich zeigen sie mal dem Staat, wo der Hammer hängt, der kleine Mann zahlt es der Obrigkeit heim. Aber der Staat sind wir alle. Welche Häme über die Polizei ausgekippt wurde, von Leuten, von denen ich eigentlich angenommen hatte, dass sie vernünftig sind – das ärgert mich bis heute.
Berühmt geworden ist auch die Sache mit der Streusandkiste. Können Sie davon erzählen?
Er hat uns für eine Übergabe wie üblich herumdirigiert: Jetzt sind wir da und da, jetzt haben wir einen Zettel gefunden, wir sollen da und da hinfahren. Wir sollen das Geld an der und der Ecke in die dort stehende Streusandkiste legen. Das war in Britz. Die Kollegen haben die Tasche mit einem Bewegungsmelder drin in die Kiste gelegt, um sie verfolgen zu können. Sah erstmal alles normal aus. Eine Streusandkiste eben.
War aber nicht normal.
Irgendwann höre ich über Funk: "Der Bewegungsmelder hat angesprochen." Ich sage also, sie sollen hingehen und gucken. Die Kollegen machen die Kiste auf: Kein Sand mehr drin. Und ein Loch im Boden. Ein Kanalschacht. Und natürlich keine Spur mehr von Dagobert.
Hinterher kam man zu dem Schluss: Funke hat sich die Tage zuvor als Bauarbeiter verkleidet und die Kiste über den Gullyschacht geschoben. Und niemandem war es aufgefallen.
Genial, das muss man einfach sagen. Dass er auch diesen Mut hatte, da tagsüber so eine Baustelle aufzubauen.
Was haben Sie sich im ersten Moment gedacht, als Sie das gesehen haben?
Nicht druckreif. Hinter wussten es natürlich alle wieder am besten: Warum habt ihr denn nicht mal unter die Kiste geguckt? Wie soll ich das denn machen? Ich kann eine Kiste mit Streusand doch nicht einfach anheben – und das Loch im Boden war verdeckt. Wenigstens waren in der Tasche fast nur Papierschnipsel.
Die nächste Sache waren die Telefonzellen. Wir wussten: Er telefoniert immer aus freistehenden Zellen, aus denen er gute Sicht hat, immer in West-Berlin. Als er uns den nächsten Anruf angekündigt hat, habe ich den Polizeipräsidenten um 3.000 Mann gebeten.
Wofür haben Sie so viele Leute gebraucht?
Die sollten 1.500 Telefonzellen beobachten. Und dann über Funk den Hinweis bekommen, falls wir den Anruf in diese Zelle zurückverfolgen können. Wir wussten ja nicht, wie der Täter aussieht. Sie müssen sich vorstellen: 3.000 Leute hören sich das an. Davon wissen aber 2.998, dass sie an der falschen Stelle stehen. Und nur zwei werden an der richtigen sein. Das hat die Motivation nicht unbedingt auf die Spitze getrieben. Die Kollegen sind also ausgeschwärmt.
Was ist passiert?
Der Anruf kam das erste Mal aus Ost-Berlin. Da könnte man sich schon irgendwo hinbeißen (lacht).
Hatten Sie irgendwann während der zwei Jahre mal Zweifel, das Gefühl, wir kriegen den nicht?
Zweifel nicht, eher Hoffnung: Vielleicht gibt er irgendwann auf. Geld hat er ja keins mehr gekriegt. Der Hamburger Ermittlungsleiter kam immer wieder nach Berlin um sich abzusprechen. Der Druck auf ihn wuchs immer weiter, besonders durch die Presse. Seine Kinder wurden in der Schule ausgelacht und verspottet, für die Familie war es schlimm. Ich war genauso enttäuscht, wenn es mal wieder nicht geklappt hat. Abends sind wir dann immer trinken gegangen. Wirklich: Die Polizei hat alles eingesetzt, was sie konnte. Aber was brachte uns am Ende die Lösung?
Sagen Sie es mir.
Der Instinkt eines einzigen Kollegen. Wir haben irgendwann nicht mehr Tausende Telefonzellen überwacht, sondern mit unseren bisherigen Erfahrungen um einen bestimmten Bereich in Berlin Kreise gezogen. Dort haben wir SEK- und MEK-Leute mit schnellen Autos stationiert. Die Idee war: Wenn man es schafft, Dagobert knapp zwei Minuten in der Leitung zu halten, dann kommen wir da vielleicht mit dem Auto ran. Das Problem war dann: Der nächste Anruf kam aus Potsdam.
Und Sie kamen wieder zu spät.
Zwei junge Kollegen, die waren ganz neu bei uns, standen an der Königstraße, die zur Glienicker Brücke führt und haben ihre Sachen eingepackt. Einer sagte uns dann: Mir ist ein Kleinwagen aufgefallen, der an uns vorbeigefahren ist. Der hatte ein Fahrrad auf seiner umgeklappten Rückbank liegen und der Fahrer sah so nachdenklich aus.
Warum fällt einem ein Mann in einem Auto auf, der nachdenklich aussieht?
Ich habe auch zuerst gestutzt. "Wie sieht denn einer aus, der nachdenklich ist?", habe ich gefragt. Aber der junge Kollege blieb dabei: Er habe da einfach so ein Gefühl gehabt – und sich das Kennzeichen notiert. Der Wagen gehörte einer Autovermietung. Und der, der den Wagen ausgeliehen hat, war ein gewisser Arno Funke.
Was haben Sie über ihn herausgefunden?
Verheiratet, ein Kind, arbeitslos, wohnt in Mariendorf. Aber viel interessanter: Funke hat den Wagen immer an Tagen geliehen, an denen Dagobert aufgetaucht ist. Für uns war jetzt klar, das muss er sein. Aber wir hatten keine Fingerabdrücke, gar nichts. Also haben wir ihn nicht mehr aus den Augen gelassen, um ihn auf frischer Tat zu ertappen.
Dann kam der 22. April 1994.
Funke fuhr da morgens von seinem kleinen Häuschen los, ich habe damals ganz in der Nähe gewohnt. Das MEK natürlich im entsprechenden Abstand hinterher. Dann ging wieder ein Anruf bei der Polizei ein. Wir hatten dann schnell das richtige Telefon lokalisiert. Die Kollegen sind mit Tatütata um die Ecke gebogen, Funke kam da gerade aus der Zelle. Er hat sofort die Hände gehoben und bei der Festnahme gesagt: Ja, ich bin Dagobert. Und der, der ihn festgenommen hat, war der, der vorher auf den nassen Blättern ausgerutscht ist, als er Funke vom Rad stoßen wollte.
Was haben Sie sich gedacht, als Sie gehört haben: Wir haben ihn?
Erleichterung, natürlich. Endlich ist dieser Mist vorbei. Ich sitze in meinem Zimmer und die kommen alle zurück, da sagt einer zu mir, Martin, du musst mal raus auf den Parkplatz gucken. Da standen Kollegen, haben Sektpullen geköpft und zu Musik getanzt. Es war skurril. Andere haben gesagt: Den wollen wir uns jetzt mal angucken. Ich habe gesagt: Ich nicht. Das sollen jetzt die Vernehmer machen.
Warum wollten Sie nicht?
Habe ich nie gemacht. Ich habe immer gesagt, wenn wir einen haben, ist es nicht mehr unsere Sache, jetzt ist es Sache der Justiz. Vielleicht war das auch ein Stück Bequemlichkeit, ich weiß es nicht. Vielleicht braucht man das auch, um abzuschließen.
Hat er dann gleich alles gestanden?
Nö. Musste er nicht, es war ja nicht schwer, ihm das nachzuweisen. Aber wie der sich dann bei den Vernehmern präsentiert hat – die haben mehr lachen müssen als alle anderen. Der Presse hat er gesagt: War heute nicht mein Tag. Habe ich wohl ein bisschen Pech gehabt. Immer mit diesem verschmitzten Gesichtsausdruck.
Haben Sie sich da nochmal verschaukelt gefühlt?
Könnte man so auffassen, aber man hat relativ schnell gemerkt: Er ist ein sehr humorvoller Typ. Heute würde ich sagen: Ein netter Kerl, der offensichtlich früher den falschen Weg eingeschlagen hat. Ein Gag ist, glaube ich, noch gar nicht bekannt.
Bitte.
Eines Tages kam ein Anruf von einem Privatanschluss in Ost-Berlin. Wir dachten: Jetzt ruft der aus einer Wohnung an, ist der so leichtsinnig? Alles fährt also hin - und was hat er gemacht? In Ost-Berlin waren die Telefonleitungen oft noch außen an der Hauswand im Hof. Da hat er sich einfach drangeklemmt. Die Leute, bei denen wir geklingelt haben, sind fast in Ohnmacht gefallen. Aber ich meine, da muss man ja auch erst mal wissen, wie man sowas macht.
Hat Ihnen das Respekt abgenötigt?
Durchaus, er hat sich dieses Wissen ja alles selber draufgeschafft. Er hat viele Talente. Mich ärgert es auch nicht, dass es ihm heute gut geht. Die 1,4 Millionen hat er nie bekommen. Seine Strafe hat er abgesessen. Ich habe manchmal zu ihm gesagt: "Arno, du kannst machen, was du willst. Wann immer es irgendwo eine Erpressung ist, gucken wir zuerst, was du machst." (lacht)
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sebastian Schneider, rbb|24
Sendung: rbb24 Inforadio, 22.04.2024, 6:30 Uhr
Am 24.04. um 20.15 Uhr zeigt das rbb-Fernsehen "Jagd auf Dagobert", abrufbar auch in der Mediathek.