Geldnot bei Beratung "Dick und Dünn" - "Je schneller Essstörungen behandelt werden, umso kürzer ist der Leidensweg"
Viele soziale Projekte in Berlin bangen um ihre Finanzierung - die geplanten Einsparungen im Haushalt verschärfen die Lage. Im Berliner Fachberatungszentrum für Essstörungen steht die wichtige Präventionsarbeit auf der Kippe.
rbb|24: Frau Schmidt, wie arbeitet der Verein "Dick und Dünn"?
Carmen Schmidt: Unsere Schwerpunkte liegen in der Beratung, in der Fortbildung, in der Präventionsarbeit und in der Nachsorge. Wir beraten zum Beispiel bei Verdachtsfällen, wenn Angehörige eine Veränderung bei ihrem Kind wahrgenommen haben – dass sich etwa das Essverhalten verändert hat oder die psychische Verfassung. Dann können sie bei uns eine erste Einschätzung bekommen. Wir vermitteln dann in der Regel an die Kinder- und Jugendpraxen weiter, damit die eine Diagnose stellen.
Wenn Betroffene in einer Klinik waren, dann können sie bei uns auch eine Einzelberatung bekommen. Viele Psychotherapeutinnen sehen sich nicht ausreichend ausgebildet oder kompetent genug, um das Thema Essstörungen auch in der Psychotherapie zu bearbeiten. Die vermitteln vermehrt Betroffene von Essstörungen - zusätzlich zur Psychotherapie - an uns.
Warum sind Beratung und Prävention bei Essstörungen so wichtig?
Alle Essstörungen sind schwere Erkrankungen. Je schneller diese Erkrankungen erkannt, besprochen und behandelt werden, umso geringer ist ein langer Leidensweg. Weil sich die Anorexia nervosa (sog. "Magersucht", Anm. d. Redaktion) zum Beispiel sehr schnell im eigenen Persönlichkeitssystem verankern möchte und sich festkrallt. Je länger die betroffene Person erkrankt ist, umso schwieriger wird der Weg heraus.
Essstörungen sind unter den psychischen Erkrankungen die Erkrankungen mit der höchsten Mortalitätsrate - 15 bis 20 Prozent. Wir retten mit unserer Arbeit also auch Leben. Und wir vermindern das große Leid von Familien und Betroffenen von Essstörungen. Ich finde, es sollte allen Verantwortlichen ein wichtiges Anliegen sein, das ernst zu nehmen. Und: dass wir ausreichend gefördert werden und endlich eine Präventionsstelle bekommen.
Wie kann ihr Verein Betroffenen am effektivsten helfen?
Vor allem dadurch, dass wir weiterhin die kostenfreie Jugendsprechstunde ohne Anmeldung einmal wöchentlich so wie unsere kostenfreie Erstberatung mit Terminvereinbarung für Jugendliche anbieten können. Es ist unsicher, wie lange wir das können, ohne Fördermittelaufstockung.
Wir tun das gerade mit dem Wissen, dass unsere Eigenmittel sich dadurch erhöhen und wir anderweitig wieder Geld einnehmen müssen. Das machen wir, weil wir es wichtig finden, dass Jugendliche so schnell wie möglich – im besten Fall innerhalb von ein bis zwei Wochen - eine Ersteinschätzung bekommen. In der Realität liegen die Wartezeiten aktuell bei vier Wochen. Damit sind hier bei uns im Zentrum zwei Kolleginnen beschäftigt.
Wie finanzieren Sie sich?
Wir werden von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege finanziert - die Förderung deckt ca. 75 Prozent unserer laufenden Kosten für Personalmittel und Miete ab. Das sind 2,91 Personalstellen - Kolleginnen, die alle Diplom-Sozialpädagoginnen sind und die die Beratungen hier durchführen. Den Rest müssen wir selbst erwirtschaften. Im letzten Jahr waren das über 60.000 Euro.
Im Gesundheitsbereich im Haushalt drohen wie in den anderen Ressorts Kürzungen bei den Zuschüssen für Projekte, die zum Integrierten Gesundheits- und Pflege-Programm "IGPP" für das Handlungsfeld "Besondere gesundheitliche Bedarfe" gehören – mehrere Sozial-Verbände schlagen bereits Alarm – inwieweit sind sie davon betroffen?
Es gibt eine große Unsicherheit aufgrund der angespannten Finanzlage im Haushalt des Landes Berlin. Zum Glück sollen die einzelnen Ressorts jetzt nur noch 2,1 Prozent statt 5,9 Prozent einsparen. Wie sich aber diese 2,1 Prozent auf unser Ressort - Wissenschaft, Gesundheit und Pflege – auswirken wird, dazu gibt es noch keine konkreten Angaben. Ob es bei der Fördersumme bleibt, die uns angekündigt wurde, das ist immer noch unsicher. Und selbst in dieser Fördersumme sind weder eine Stelle für Prävention noch für die kostenfreie Jugendberatung enthalten.
Für uns heißt das konkret: Die Kollegin, die bei uns aktuell in die Schulen geht und mehrheitlich die Jugendlichen berät, können wir nur noch bis Ende Juli auf eigene Kosten beschäftigen.
Es kann nicht sein, dass die Hauptstadt mit vier Millionen Einwohner:innen da den Versorgungsauftrag – speziell gegenüber Kindern, Jugendlichen und Angehörigen – nicht ernst nimmt und diesen Auftrag nicht in Fördermittel übersetzt. Ich stand vor Kurzem bei einer Veranstaltung auf einer Bühne, um mich für Spendenmittel zu bedanken, die wir in die Prävention einfließen lassen wollen. Bei unserer dünnen Personaldecke habe ich eigentlich gar keine Zeit dafür – ich könnte in der Zeit auch Menschen beraten. Es kann nicht sein, dass ich betteln gehen muss für dieses Thema. Es geht hier um schwere Erkrankungen.
Wie schauen Sie also in die Zukunft?
Spannend wird der neue Haushalt ab 2026. In diesem Jahr werden die Projekte irgendwie über die Runden kommen, aber der nächste Doppelhaushalt, das ist schon angekündigt: Da können wir uns alle auf was gefasst machen. Deshalb ist es so wichtig, dass diese ganzen Projekte, die im Haushalt unter "besondere gesundheitliche Bedarfslagen" zusammengefasst sind, in der Politik weiterhin auf dem Schirm bleiben.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Jonas Wintermantel, rbb|24
Sendung: rbb24 Inforadio, 31.05.2024, 10:30