Interview | Radprofi Roger Kluge - "Ich bin definitiv nicht am Ende"
Roger Kluge will zum fünften Mal zu den Olympischen Spielen. Dazu geht der Radprofi aus Ludwigsfelde - nicht ganz freiwillig - neue Wege. Im Interview spricht er über persönliche Enttäuschungen und zeigt sich kämpferisch. Von Thomas Juschus
Seit 15 Jahren gehört Roger Kluge zur internationalen Spitze im Radsport - auf der Straße und vor allem der Bahn. Sieben WM-Medaillen - darunter zweimal Gold - hat er auf der Piste gewonnen, zuletzt Silber im Punktefahren bei der Weltmeisterschaft 2022 in Frankreich. Sein großes Ziel ist die fünfte Olympia-Teilnahme in Paris 2024 - da möchte er nach Silber 2008 in Peking ein zweites Mal Edelmetall gewinnen und danach seine Karriere ausklingen lassen. Für seinen Traum musste der in Ludwigsfelde lebende Profi einen Schritt zurück gehen und auf seine Straßen-Ambitionen verzichten.
rbb|24: Roger Kluge, Sie gelten als guter Freund von Caleb Ewan, waren auf seiner Hochzeit. Sie waren aber vor allem wichtiger Helfer des australischen Top-Sprinters. Er hat Sie 2019 zum World-Tour-Team Lotto Soudal geholt. Sein Vertrag läuft dort weiter, Ihr Kontrakt wurde dagegen nicht verlängert. Macht das etwas mit Ihrer Freundschaft?
Roger Kluge: Ehrlich gesagt: Ich hoffe nicht. Wir waren sechs Jahre Team-Kollegen, haben uns super verstanden, schon beim Team Mitchelton-Scott, in der Anfangszeit waren wir da auch Zimmerkollegen. Bei Lotto-Soudal ist es leider ein bisschen auseinandergelaufen. Wir hatten zuletzt nicht so viel Kontakt, haben auch nicht viel geschrieben. Ich hätte mir schon gewünscht, dass er mal nachfragt, wie es mir geht. Ich hoffe aber auch, dass er unser Hochzeits-Geschenk einlöst und uns in Berlin besuchen kommt.
Ist das eine Facette des Profi-Sports, auf die Sie gern verzichtet hätten?
Wir haben uns keinesfalls im Schlechten getrennt. Natürlich wäre ich gern weiter bei Lotto Soudal geblieben. Mir war aber immer klar, dass meine Zeit eher abläuft als seine, weil ich acht Jahre älter bin. Ganz froh bin ich, dass ich wohl nicht mehr in die Verlegenheit kommen werde, gegen ihn anzutreten. Als Konkurrent gegen ihn zu fahren, wäre mir nicht so recht. Das könnte schon auch einen Einfluss auf die Freundschaft haben, die wir und unsere Familien uns aufgebaut haben. Eine gewisse Verbundenheit bleibt auf jeden Fall bestehen, auch wenn sich die sportlichen Wege jetzt trennen.
Was bleibt unter dem Strich nach vier Jahren beim belgischen Team Lotto Soudal - auch eine positive Bilanz?
Ich bin schon enttäuscht und hätte mir ein anderes Ende gewünscht - zumal ich kein schlechtes Jahr hatte und mit Caleb und unserem zweiten Sprinter Arnaud De Lie auch in dieser Saison Siege gefeiert habe. Wir hatten 2019 einen Super-Start, dann ging es tendenziell bergab, vom Erfolg, vom Glück. 2020 war trotz Corona auch noch okay. 2021 hatten wir beginnend mit dem Giro d’ Italia kein optimales Jahr - um es kurz zu machen. Dieses Jahr bin nach dem Giro ein bisschen auf das Abstellgleis geraten, Caleb ist die Tour de France dann mehr oder weniger allein gefahren. Die beiden letzten Saisons waren schon eine Achterbahnfahrt. Für das Team, auch für mich.
War die Kommunikation seitens des Teams mit Ihnen offen?
Eine klare Ansage habe ich nicht bekommen. Das wäre mir lieber gewesen. Aussagen wie "Du bist zu schlecht", "Du bist zu alt" oder "Wir sehen kein Potenzial mehr" hat es nie gegeben - damit hätte ich besser umgehen können. So war es ein schleichender Prozess, spätestens ab August waren die Chancen auf einen neuen Vertrag sehr gering. Es war aber immer noch ein Stückchen Hoffnung bei mir dabei, zumal wir dem Team finanziell immer weiter entgegengekommen sind. Richtig ehrlich war das Team nicht.
Nach der Bekanntgabe Ihres Wechsels von Lotto Soudal zu Rad-Net Oßwald haben viele geschrieben, Roger Kluge beendet seine Straßen-Laufbahn. Trifft das zu?
Es ist ein bisschen eine Grauzone. Als Fahrer eines Continental-Teams werde ich natürlich auch weiter Straßen-Rennen fahren. Die Rennen der 1. und 2. Kategorie, wie Mailand Sanremo oder die großen Rundfahrten, werde ich aber aller Voraussicht nach nicht mehr sehen. Insofern stimmt die Schlagzeile.
Was bleibt nach 13 Jahren als Straßen-Profi?
Sportlich sticht mein Etappensieg beim Giro d’ Italia 2016 heraus. Das war das absolute Highlight. Danach war auch klar, dass das nicht mehr oft passieren wird, weil ich da die Position des Anfahrers für den Sprint eingenommen habe. In der Helferrolle sind sportliche Top-Platzierungen nahezu ausgeschlossen. Ich konnte durch die vielen Reisen auch viele andere Länder und Kulturen kennenlernen. Natürlich bleiben auch einige Freundschaften hängen. Ich bin auch fast alle Rennen gefahren, die mir liegen. Mir fehlt eigentlich nur die Vuelta. Die Spanien-Rundfahrt hätte ich schon gern noch auf meiner Liste gehabt. Es waren schöne acht Jahre in der World-Tour. Das war der Peak meiner Karriere.
Gab es in diesem Jahr einen Moment, an dem Sie an ein komplettes Karriereende gedacht haben?
Nein, den gab es nicht. Ich hatte immer vor, bis 38 Jahre zu fahren. Zumal ich erst mit 24 Jahren Profi geworden bin. Dazu war ich leistungsmäßig die vergangenen Jahre immer noch auf einem Plateau. Die Leistungswerte haben sich immer noch verbessert. Solange ich nicht das Gegenteil sehe, bin ich definitiv nicht am Ende.
Ist Ihr neues Team Rad-Net Oßwald für 2023/24 eine Notlösung?
Nein, man geht von Tür zu Tür weiter und es war für mich jetzt ein logischer Schritt. Mir wurde in den Gesprächen sehr viel Wertschätzung und Vertrauen entgegengebracht. Mir gefällt auch die Rolle als Mentor. Ich möchte gern meine Erfahrung an die vielen jungen Fahrer in der Mannschaft weitergeben. Und natürlich freue ich mich auch sehr, den Weg nach Paris 2024 komplett zusammen mit meinem Teamkollegen Theo Reinhardt gehen zu können. Wir sind 2017 aus einer Laune bei den Cottbuser Nächten erstmals zusammen gefahren und hatten seitdem einige schöne Erfolge. Jetzt werden wir uns in den nächsten 18 Monaten deutlich öfter sehen - im Training, bei Straßeneinsätzen oder Bahn-Wettkämpfen.
Das Rennprogramm wird aber deutlich anders als bisher. Andererseits sind Sie aus dem recht starren World-Tour-Kalender raus und können sich spezifischer auf die Bahn-Rennen vorbereiten. Lässt sich das gegeneinander aufrechnen?
Ja, es stimmt, die Straßen-Rennen waren in der Vergangenheit immer Priorität. Manchmal hätte eine Woche mehr Bahn-Vorbereitung sicherlich nicht geschadet. Jetzt bin ich an dem Punkt, an dem ich die Straße nach der Bahn ausrichten kann - und nicht umgekehrt. Der Wechsel wird definitiv meine Rennkilometer auf der Straße halbieren, dafür werde ich spezifischer und intensiver auf der Bahn trainieren. Das muss mir nicht schaden. Ich werde mir Rat holen von Trainer Sven Meyer, der am besten weiß, wie ich ticke.
Warum sind Sie die ganzen Jahre der Bahn treu geblieben?
In erster Linie, weil es mir Spaß macht. Auf der Straße war ich der Arbeiter und habe meine Brötchen verdient. Auf der Bahn war ich all die Jahre konkurrenzfähig und konnte selbst um Erfolge fahren. Das war und ist natürlich auch eine Motivation. Ich bin mit der Bahn groß geworden. Ich erinnere mich noch an meine ersten Runden in Fredersdorf, später in Cottbus, Frankfurt (Oder) oder Forst. Die Bahn war immer ein Teil von mir - auch wenn sie manche Jahre etwas kürzer gekommen ist. Sonst hätte ich vielleicht noch mehr Medaillen einsammeln können.
Das große sportliche Ziel sind jetzt die Olympischen Spiele 2024 in Paris. Viermal waren Sie schon im Zeichen der Ringe dabei, haben in Peking Silber im Punktefahren gewonnen. Was treibt Sie an?
Meine Silbermedaille 2008 ist eigentlich eine verlorene Goldmedaille. Diese Rechnung möchte ich schon seit London 2012 ausgleichen - das ist mir all die Jahre nicht gelungen. Aber den einen Versuch möchte ich noch haben. Und ich weiß, dass es möglich ist. Der Fokus liegt auf dem Madison, da haben Theo Reinhardt und ich mehrfach bewiesen und gezeigt, was möglich ist. Klar: An diesem einen Tag muss alles passen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir auch in 18 Monaten konkurrenzfähig sein und eine Medaille holen können. Idealerweise in Gold. Das wäre ein Traum und ein Riesending - und ein schöner Abschluss.
Mit dem Wechsel von der World-Tour in ein Kontinental-Team wie Rad-Net Oßwald sind auch wirtschaftliche Einbußen verbunden. Wie gehen Sie damit um?
Es ist schon ein großer Schritt zurück, der mich und meine Familie vor große Herausforderungen stellt. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass mich das Land Brandenburg auf meinem Weg nach Paris unterstützen wird. Viele Jahre als Profi habe ich diese Unterstützung nicht benötigt, jetzt schließt sich der Kreis und ich kehre zurück in die Duale Ausbildung. Ab 3. April setze ich mit einem Lehrgang bei der Landesschule und Technischen Einrichtung für Brand- und Katastrophenschutz in Eisenhüttenstadt meine Ausbildung zum Brandmeister fort und drücke dort wieder die Schulbank. Das wird nach 15 Jahren sicher nicht einfach. Nach der WM im August ist im Herbst 2023 das nächste Modul geplant. Damals hat mir die Ausbildung gefallen, es ist definitiv eine Berufsoption für mich. Auch die Sporthilfe Brandenburg will mich unterstützen, da gibt es positive Signale. Das hilft mir.
Letzte Frage: Im Januar fahren Sie auch wieder das Berliner Sechstagerennen, das Sie schon dreimal gewinnen konnten. Zum Re-Start 2023 sind die Sixdays auf drei Tage verkürzt - wie schauen Sie auf diese Veranstaltung?
Ich freue mich wirklich sehr, dass die Berliner Sixdays nach drei Jahre Pause wieder im Kalender zurück sind. Die Stimmung ist immer toll. Natürlich hoffe ich, dass das Sechstagerennen möglichst bald auch als echte Sixdays zurückkommt - spätestens im Winter 2024/25, wenn ich vielleicht nach Paris meine Karriere beende. Ich würde mich schon sehr gern im Velodrom verabschieden. Andererseits: Ich bin dann erst 38 und will mich einfach noch nicht festlegen. Vielleicht geht es noch weiter, wenn es immer noch Spaß macht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Thomas Juschus.
Sendung: rbb24, 15.12.2022, 18 Uhr