Baustelle Mittelfeld - Die Probleme von Hertha BSC haben System
Hertha BSC zeigte in Nürnberg seine wohl schwächste Saisonleistung. Der Einbruch kommt nicht plötzlich, sondern deutete sich über Wochen an. Die Systemumstellung von Trainer Pal Dardai bereitet große Probleme – Alternativen stünden bereit. Von Marc Schwitzky
Nach der verdienten 1:3-Niederlage von Hertha BSC beim 1. FC Nürnberg hinterfragte Trainer Pal Dardai nicht vorrangig die Spieler, sondern zunächst sich selbst. Er müsse nach solch einem enttäuschenden Auftritt auch seine eigene Leistung unter die Lupe nehmen. "Es gibt eine komplette Analyse und einen ehrlichen Dialog mit der Mannschaft. Ich jage hier nicht irgendwelche Dinge raus. Ich muss mich erst selbst prüfen."
Nach zuletzt drei Siegen aus vier Spielen war die Niederlage in Nürnberg ein klarer Rückschritt für die Berliner. Ein Rückschritt, der sich jedoch über Wochen angedeutet hatte und die jüngsten taktischen Entscheidungen von Trainer Dardai in ein neues Licht rückt. Er scheint es seinen Äußerungen nach zu erahnen.
Neues System als Antwort auf Palko Dardais Verletzung
Nach drei Niederlagen zum Saisonbeginn setzte Hertha mit dem 5:0-Kantersieg über die Spielvereinigung Greuther Fürth ein echtes Ausrufezeichen. Zwar ging das kommende Spiel gegen den 1. FC Magdeburg spektakulär mit 4:6 verloren, doch mit dem 3:0-Heimerfolg über Eintracht Braunschweig kam postwendend die richtige Antwort. 13 Tore in drei Spielen – Hertha war urplötzlich zur Offensivmacht geworden.
Gerade als die "alte Dame" so richtig Fahrt aufzunehmen schien, war es schon wieder vorbei. Mittelfeldspieler Palko Dardai verletzte sich im Spiel gegen Braunschweig an den Bändern und fällt seitdem aus. Dem 24-jährigen Neuzugang kam im gerade neu formierten 4-3-3 als einer der beiden Achterpositionen eine überaus wichtige Rolle zu: Dardai war der Verbindungsspieler, der durch viel Laufarbeit, Dynamik und Offensivdruck das Mittelfeld mit dem Sturm verknotete. Er besetzte auch immer wieder die Zehnerposition, um Bälle im letzten Angriffsdrittel zu halten und Steckpässe auf die anderen Offensivspieler zu spielen.
Der Ausfall von Palko Dardai wiegt daher bis heute schwer. So schwer, dass sein Vater wohl nicht glaubte, dass ein anderer Spieler dessen Aufgaben flächendeckend übernehmen könne. Herthas Übungsleiter entschied sich daher für einen Systemwechsel. Das erst einen Monat alte 4-3-3 wich einem flachen 4-4-2.
Smail Prevljak trifft – doch zu welchem Preis?
Für die neue Formation subtrahierte Dardai eine zentrale Mittelfeldposition und nahm dafür mit Smail Prevljak einen weiteren Mittelstürmer hinzu, der als eine Art hängende Spitze um Zielspieler Haris Tabakovic herumspielen sollte. Die reinen Ergebnisse sollten Dardai zunächst Recht geben: Hertha gewann sowohl gegen Holstein Kiel als auch gegen den FC Schalke 04, zwischendurch setzte es nur eine knappe Niederlage gegen den aktuellen Ligaprimus FC St. Pauli. Und Prevljak? Der Bosnier traf in zwei der drei Partien, auch gegen Nürnberg war der Stürmer erfolgreich. Dreimal erzielte er das 1:0. Doch der so positive Schein trügt.
Abseits der Ergebnisse und eingefahrenen Punkte litten Herthas Auftritte massiv unter der Systemumstellung. Das 4-4-2 knüpfte an die Probleme an, welche die Blau-Weißen bereits zu Saisonbeginn hatten: Das Mittelfeldzentrum verfügt über zu wenig Spielkontrolle. Durch das Wegnehmen des zusätzlichen Achters, der die Rolle des Balltreibers übernimmt, ist die Herthaner Spielzentrale viel zu statisch. Palko Dardai hatte durch seine Umtriebigkeit die Defizite von Marton Dardai und Andreas Bouchalakis deutlich kaschiert.
Den beiden defensiven Mittelfeldspielern fehlt es eklatant an Dynamik und Zug nach vorne. Dadurch fällt es jener Doppelsechs äußerst schwer, das gesamte Mittelfeld abzudecken – mit und gegen den Ball. So geht die Kontrolle, der Zugriff verloren. Da Herthas Mittelfeldzentrum das Tempo fehlt, orientieren sie sich beinahe schon naturgemäß nach hinten, um nicht überlaufen zu werden. Daraus ergibt sich jedoch eine tückische Passivität, Hertha verteidigt nicht nach vorne, sondern lässt dem Gegner zu viel Platz vor dem Strafraum.
Seit vier Spielen torlos - Tabakovic leidet unter dem neuen System
Hinzu kommt, dass Prevljak der Rolle als hängende Spitze nicht gerecht wird. Der 28-Jährige nimmt abseits seiner Tore zu wenig am eigenen Spiel Teil, in keinem seiner letzten vier Spiele kommt er über 30 Ballkontakte. Da weder einer der beiden Sechser noch Prevljak den Zehnerraum adäquat besetzen, fehlt es Herthas Spiel an Tiefe und Ballkontrolle im letzten Drittel. In den Heatmaps (Darstellung, wo sich Teams auf dem Feld wie oft aufhalten) der letzten vier Spiele – also die Partien, in denen im 4-4-2 gespielt wurde – ist dadurch quasi ein "U" zu erkennen. Hertha spielt die Bälle vom tiefen Zentrum auf den Flügel und umgekehrt, doch die wichtige Zone direkt vor dem Strafraum verwaist gleichzeitig. Fehlende Torgefahr ist das Resultat.
Darunter leidet auch Tabakovic. Der Schweizer war in den letzten drei Spiele im 4-3-3-System an insgesamt neun Toren direkt beteiligt – eine absurde Quote. Grund dafür war, dass der Mittelstürmer herausragend eingebunden war. Palko Dardai schaffte immer wieder Räume für ihn oder die offensiven Flügelspieler, die dadurch ungestört Flanken auf den großgewachsenen Angreifer schlagen konnten. Auch Herthas so spielstarke Außenverteidiger, Jeremy Dudziak und Michal Karbownik, profitierten vom agileren 4-3-3, da sich mehr Räume für sie öffneten. Im statischen 4-4-2 kommen jene Stärken nicht zur Geltung, da sie sich mit der tiefen Doppelsechs auf den Füßen stehen. Verwerter Tabakovic ist in all dem der Leidtragende: In den vier Partien im 4-4-2 war er an keinem einzigen Treffer mehr direkt beteiligt.
Bence Dardai und Bilal Hussein stünden bereit
Wurden all diese Probleme in den vergangenen Wochen noch von wichtigen Punktgewinnen überschattet, hat die Niederlage in Nürnberg sie ins Scheinwerferlicht gerückt. Hertha wirkte beim "Glubb" eigenartig passiv und träge, fand gegen den Ball keinen Zugriff gegen agilere Nürnberger und mit Ball keine kreativen Lösungen. Erst als mit Marten Winkler, Derry Scherhant und Bence Dardai lebhafte Joker eingewechselt wurden, gewann das blau-weiße Angriffsspiel an Dynamik und Gefahr.
Genannter Bence Dardai oder auch der ebenfalls eingewechselte Bilal Hussein könnten die Lösungen für Herthas taktische Probleme sein. Trainer Dardai sollte erkannt haben, dass 4-4-2 in der jetzigen Form keine fruchtbare Zukunft hat. Die bisherige Saison hat gezeigt, dass sich der Hauptstadtklub im 4-3-3 am wohlsten fühlt, eine Rückkehr zu diesem System wäre sinnvoll. Hierfür bräuchte es einen zusätzlichen zentralen Mittelfeldspieler, der durch Spielstärke und großen Aktionsradius besticht – Attribute, die sowohl Bence Dardai als auch Hussein mitbringen. Hier ist die Frage, ob Trainer Dardai dem 17-jährigen Eigengewächs oder dem 23-jährigen Neuzugang genug Vertrauen für einen Startelfeinsatz entgegenbringt.
Hertha belegt nach zehn Spieltagen mit 12 Punkten Tabellenplatz elf – das Niemandsland der 2. Bundesliga. Will Pal Dardai sein eigens gestecktes Ziel – bis Weihnachten Platz vier bis fünf – erreichen, wird er Prevljaks Tore gegen ein besseres Kollektiv tauschen müssen. Zu viele Probleme sprechen gegen das 4-4-2. Eine Chance für Dardai, zu beweisen, dass er über seinen eigenen Schatten springen kann.
Sendung: rbb24, 25.10.2023, 21.45 Uhr