EM-Finale in Berlin - "Diese EM haben wir gebraucht, um runterzukommen"
Die EM feiert ihr großes Finale in Berlin. Noch einmal strömen Tausende Fans in die Metropole - und die Krisen dieser Welt scheinen für kurze Zeit vergessen. Doch nicht alle Berliner sehen ihre Erwartungen an dieses Großereignis erfüllt. Von Hasan Gökkaya
Wie auch immer das Top-Spiel Spanien gegen England im EM-Finale 2024 ausgeht: In Mustafas Laden wird sich der Dönerspieß weiter drehen, und das muss er auch. Der Imbiss an der Sonnenallee in Neukölln ist seine Einnahmequelle. Ein Fußballfest mit Zehntausenden Gästen aus ganz Europa, die hungrig "a Doner kebab" bestellen, das hätte er sich gewünscht. Doch wirtschaftlich ist die EM nie bei ihm angekommen. "Ich habe kein bisschen mehr eingenommen", sagt er. "Wie auch? Hier kommen ja keine Touristen her."
Einerseits habe er keinen Fernseher aufgestellt. Andererseits "ist das hier die Sonnenallee, hier gibt's ständig Demonstrationen und Staus, da kommen keine Touristen", sagt er weiter.
Während der EM stellten Bars in Neukölln durchaus Fernseher auf, um Gäste anzulocken. Tatsächlich ist zumindest an diesem Sonntagnachmittag auf den Straße noch kein Fußball-Elan zu spüren. Weil Deutschland schon raus ist? Weil es jederzeit regnen kann?
Auf dem Rio-Reiser-Platz scheint die Sonne. In einem der Cafés steht ein Fernseher. Der Kellner denkt beim Vorbereiten eines Cappucinos kurz nach und sagt dann: "Nein, mehr los war hier während der EM nicht. Eigentlich war es genauso wie vorher auch."
"Die Leuten haben kein Geld mehr"
Am Checkpoint Charlie schüttelt der Betreiber eines Souvernirgeschäfts gleich den Kopf. "Die Leute haben kein Geld mehr oder waren nur für Fußball da. Die Niederländer waren hier, aber gekauft haben sie nichts bei mir." Er habe sich da mehr erwartet von der EM im eigenen Land.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Ende Juni auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga). Demnach hatten viele Betriebe mehr Gäste und Umsatz erwartet, doch für Berlin sei die Rechnung nicht aufgegangen, sagte Gerrit Buchhorn, stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Dehoga Berlin.
Zuletzt hieß es bei der Dehoga dann, dass bundesweit knapp 90 Prozent der Mitgliedsunternehmen erklärt hätten, keine Umsatzzuwächse registriert zu haben. In Metropolen wie Berlin und Hamburg, also Spielorte, hätten jedoch 17,5 Prozent der Betriebe positive Effekte [tagesschau.de] gemerkt - doppelt so viele wie im Bundesschnitt.
Torsten S.: "Erwartungen stark an das 'Sommermärchen' 2006 geknüpft"
"La la la la! Lalala!" An der Zimmerstraße wird vor einem Irish Pub Bier wie Wasser weggebechert. In Sichtweite, vor einem Café, sitzen die Brüder Torsten S. und Marcus S. – beide Anfang 40, beide im Deutschlandtrikot, beide mit Karten für das Finale im Berliner Olympiastadion. Die EM in Deutschland? Ein "absolut gelungenes Ereignis", sagt Torsten S. "Die Unwetter haben es den Wirten bestimmt schwer gemacht, aber insgesamt war das eine tolle EM", sagt sein Bruder. Torsten S. resümiert: "Das haben wir gebraucht, um runterzukommen, um abzuschalten von all den Krisen auf der Welt."
Und sollte sich die EM manchmal nicht wie ein Großereignis angefühlt haben, "dann weil unsere Erwartungen noch zu sehr an das Sommermärchen geknüpft sind." Er meint damit die Weltmeisterschaft 2006, die in Deutschland ausgetragen wurde und den Deutschen besonders positiv in Erinnerung blieb.
"Große Bereicherung für die Stadt"
Ähnlich denken auch die Schwestern Teresa und Krystyna. Die 66- und 67-Jährigen beobachten das Treiben von einer Sitzbank aus, direkt an der Straße Unter den Linden. Angetrunkene Männer und Frauen strömen vor ihnen in Richtung Brandenburger Tor - singen mal auf Englisch, mal auf Spanisch. "Ich finde das wunderbar. Solange es friedlich bleibt, sind solche Veranstaltungen eine große Bereicherung für die Stadt", sagt Krystyna. Es gehe zwar auch um Fußball. "Aber vor allem um eine kleine Pause. Die Menschen sind durstig nach Ablenkung. Der Fußball hilft uns, die Weltpolitik zu vergessen", sagt sie.
Wie nah sie mit ihrer Aussage an die Lebensrealität herankommt, ist an diesem Sonntagsfinale nur wenige Meter nebenan sichtbar. Auf Höhe der russischen Botschaft erinnern Fotos, Kerzen und Blumen an den in russischer Haft gestorbenen Regimekritiker und Putin-Gegner Alexej Nawalny. Noch ein Stück weiter wird derweil gejubelt. Eine große Gruppe von Spanien-Fans geht erst in die Knie und springt dann hoch, es fliegt Bier.