Virtuelles Reisen - Von der Küchenbank aus über Italien schweben
Zwar wird der Urlaub im EU-Ausland in Kürze wieder möglich sein. Vom Tourismusbusiness as usual ist allerdings nirgendwo die Rede. Könnte in diesen schwierigen Zeiten das Reisen per VR-Brille eine Alternative sein? Von Laurina Schräder
"VR-Headsets sind das neue Klopapier", sagt Patrick De Jong nüchtern am Telefon. Er ist Gründer von Artificial Rome, einer Firma, die Virtual-Reality-Inhalte produziert. Das Interesse für eine virtuelle, konstruierte Realität sei zwar schon lange da. Jetzt aber, wo die Wohnung zum Schlaf- und Arbeitsplatz wird, zum Restaurant und zur Bar, steigt es weiter. Ist das also unsere Alternative, um heute die Welt zu bereisen?
Zwar wird der Urlaub im EU-Ausland in Kürze wieder möglich. Vom Tourismusbusiness as usual allerdings spricht derzeit wirklich niemand. Dafür von Abstandsregeln, Mundschutzpflicht und anderen Beschränkungen. Hier könnte das VR-Headset ins Spiel kommen: Ziel eingeben, und auf der Küchenbank mit dem Drink in der Hand in die Karibik, die Arktis oder zum Wattenmeer reisen. Das geht ohne lange Anreise oder die Sorge über den ökologischen Fußabdruck.
"Ich bin im Content"
Christiane Wittenbecher hält einen Pointer vor sich in die Luft und klickt mit ihm mal nach links, dann wieder nach rechts. Sie trägt eine hellgraue VR-Brille, die ihre Augen und Teile von Stirn und Nase bedeckt. Wittenbecher scrollt durch Videos, die nur sie dahinter sehen kann: "Ich bin quasi abgeschlossen von der echten Welt, ich tauche wirklich ein. Das Medium verschwindet, ich bin im Content.". Vor ein paar Jahren hat sie mit zwei KollegInnen die Firma Into VR & Video gegründet und sich auf 360°-Videos und VR spezialisiert.
Streng genommen handelt es sich bei den 360°-Videos nicht um Virtual Reality. Man kann sich darin zwar im virtuellen Raum umsehen und bewegen, allerdings nicht mit ihm interagieren: Es können keine Steine angehoben werden, man kann nicht auf Bäume klettern oder den Menschen um einen herum Fragen stellen. Das 360°-Video bleibt schlicht ein Video, wir darin die Zuschauerinnen und Zuschauer.
Mit den Zugvögeln fliegen
Christiane Wittenbecher hat einige Reportagen gefilmt, die jetzt als 360°-Video zu sehen sind. In Indonesien begleitet man darin beispielsweise Mona Lisa, eine Mitarbeiterin einer NGO, die durch den Regenwald führt, und zeigt, was dort die Monokultur der Ölpalme anrichtet. Mit ihr steht man neben den gerodeten Flächen, kann wahlweise den noch bestehenden Wald oder nach unten auf den Boden sehen.
Ein anderer Film, den Wittenbechers Kollegin gemacht hat, zeigt zwei Schweizer Biologen, die Zugvögel in den Süden begleiten. An ihrem Ultraleicht-Flieger waren mehrere Kameras angebracht, und es entsteht der Eindruck, man fliegt inmitten des Schwarms. Mal zischt scharf ein Waldrappe rechts an einem nach vorn vorbei. Links fliegen die Biologen, unter einem sind Felder und Baumkronen zu sehen. Der Effekt erzeugt Gänsehaut. Tatsächlich kann in einigen Fällen auch die virtuelle Fortbewegung zur realen Reisekrankheit führen. Die Filme sind daher langsamer geschnitten.
360-Grad-Videos und Virtual Reality
Der Vorteil an 360°-Videos: Sie sind billiger als "echte" VR, nicht nur, was die Produktion des virtuellen Raums angeht, sondern auch bei der Ausstattung. Theoretisch funktioniert hier auch das Modell der selbst gebastelten Papp-VR-Brille, in die vorne einfach das Smartphone eingeschoben wird. Um tatsächlich mit dem Raum interagieren zu können, wäre eine andere Hard- und Software nötig. Eine professionellere und entsprechend teurere Variante, inklusive Controllern, die einen im Raum verorten, und das mit ihnen verbundene Headset, welches die virtuelle Welt visuell begehbar macht. Erklärtes Ziel beider Techniken ist es aber immer eine möglichst gute Immersion zu erzeugen - ein stimmiges Eintauchen in die virtuelle Welt, bei der die reale Welt außen vor bleibt.
VR kann Reisen nicht ersetzen, aber bereichern
Abgelöst werde das echte Reisen durch VR aber sicher nicht, meint Wittenbecher: "Ein Film kann ja auch nicht ersetzen, dass ich ein echtes Leben führe." Nicht ersetzen, aber bereichern kann VR einen Teil unseres Reisens. Die Nachfragen während der Coronakrise stiegen bei de Jongs Artificial Rome unter anderem beim Schaffen von virtuellen Messeräumen, wo sich die Fachbesucher*innen weiterhin treffen können, ohne extra physisch anzureisen. Und Christiane Wittenbecher berichtet, 360°-Videos oder VR-Räume können auch im Bereich Bildung helfen: Für den Englischunterricht fällt das Vokabellernen vorm Buckingham Palace vielleicht leichter als im Berliner Kinderzimmer.
Schamanin als Reisebegleitung
Sara Lisa Vogl geht noch weiter. Die Berlinerin ist gerade in Kanada, knapp 6.000 Kilometer entfernt. Als Schamanin hat sie bereits verschiedene Menschen auf VR-Langzeittrips geschickt. 24 oder 48 Stunden lang waren sie im virtuellen Raum unterwegs – ohne auch nur einmal das Headset abzusetzen. Essenzielle Dinge wie Schlafen und Essen oder der Gang zum Klo lassen sich allerdings nicht virtuell erledigen. Die Realität meldet sich von außen, was die Funktion der Schamanin erklärt.
Sara Lisa Vogl ist eine Vermittlerin zwischen realer und virtueller Welt auf diesen Trips. Mit ihren VR-Reisenden trifft sie sich daher meist in der Küche. Einem Raum, den sie auch in der virtuellen Welt kreiert, "wo ich dann den Echt-Welt-Tisch an die genau gleiche Stelle wie den Tisch in der virtuellen Welt stelle, dass der Reisende da eine Verbindung hat. Das steigert auf der einen Seite die Immersion, aber auf der anderen Seite ist es leichter, Dinge aufzuheben und wieder abzustellen, wenn man wirklich etwas greifen möchte." Beim Essen und Trinken sind die Reisenden also auf ihre Hilfe angewiesen.
Virtuelles Reisen als Anreiz
"Ich kann mir vorstellen, dass man Orte begeht, die sehr schwer zugänglich sind, oder, dass man ganz besondere Erfahrungen machen kann", sagt Patrick De Jong. Sein Studio hat im vergangenen Jahr, anlässlich des Bauhausjubiläums das "Totale Tanz Theater" gebaut. Eine virtuelle Welt, in der man sich zwischen den von Oskar Schlemmer inspirierten Tanzfiguren bewegt. Auch haben sie einen virtuellen Dschungel für das Naturkundemuseum in Berlin geschaffen, bei dem man die Perspektive eines Frosches einnehmen oder zu einem Krokodil ins Wasser steigen kann. "Aber ich glaube, eine wirkliche Wanderung durch die Alpen ist nicht durch ein VR-Erlebnis zu ersetzen", schiebt De Jong hinterher.
Christiane Wittenbecher glaubt, "dass es Leute auf den Geschmack bringen kann oder vielleicht eine schöne Abwechslung ist." Ganz ähnlich sehen es auch diejenigen, denen gerade die Tourist*innen fehlen. "Virtuelle Erlebnisse, werden sicherlich für die Inspiration wichtiger werden", heißt es von der Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH. Doch Sprecherin Birgit Kunkel betont: "Die Menschen wollen physisch reisen, das erkennt man ja auch gerade in dieser Zeit, wo alle auf den Startschuss warten und endlich wieder losfahren wollen. VR ist ein Nischenthema, das im Zuge der Gamification eine Rolle spielt und vielleicht dort, wo es um spektakuläre Erlebnisse geht, die gar nicht jeder Gast erleben kann, weil sie zu gefährlich oder zu weit weg sind."
Guides zeigen ihre Landschaften und Orte
Weit weg und offenbar inspiriert von Computerspielen sind die Färöer, gelegen zwischen Norwegen, Island und Schottland. Während des internationalen Reisestopps ist man dort auf eine besonders kreative Idee gekommen: Einmal pro Woche werden reale Reiseführer über die Inseln geschickt, um den Touristinnen und Touristen vor dem PC - ganz ohne VR-Brille - ihre Landschaften und Orte zu zeigen. Per Tastatur können die User wie bei einem Jump’n’ Run-Spiel entscheiden, wohin die Guides als nächstes laufen sollen.
Wer sich jetzt noch Meeresrauschen und vielleicht den Ventilator anstellt, nähert sich dem immersiven Urlaubserlebnis zwar weiter an, doch auch hier bleibt es bei der Illusion. Einer, die Spaß machen kann, unser Fernweh aber nicht wirklich stillt und unsere Vorstellung vom Reisen nicht ersetzt, sondern lediglich erweitert.
Sendung: Radioeins, 21.05.2020, Radioday: Warum in die Ferne schweifen finden Sie zum Nachhören hier