Berlinale-Wettbewerb | "The Blue Trail" - Die Zukunft ist für alle - nur nicht für die Alten

Gabriel Mascaros Dystopie "The Blue Trail" erzählt von einer Frau, die in eine Kolonie für alte Menschen verbannt werden soll und Zuflucht auf dem Amazonas findet. Ein warmer, aber auch etwas harmloser Film. Von Fabian Wallmeier
Ein dreirädriges Polizeiauto kommt angetuckert. Auf der vergitterten Ladefläche, entgegen der Fahrtrichtung, sitzt ein alter Mann, angeschnallt auf einem Sitz. Regungslos schaut er in die Ferne. Das Auto hält an, die Polizistin spricht Tereza (Denise Weinberg) an, die am Straßenrand sitzt. "Ich habe noch drei Jahre", sagt Tereza. Hat sie nicht, stellt sich heraus. Sie ist 77 - und das Höchstalter wurde gerade von 80 auf 75 herabgesetzt.
Alte Menschen werden in Gabriel Mascaros Wettbewerbsbeitrag "The Blue Trail" in Kolonien gebracht, aus denen sie nie wieder zurückkehren. Eine pervertierte Auslegung des Generationenvertrag ist in diesem Brasilien einer nicht weit entfernten Zukunft in Kraft: "Die Zukunft ist für alle" lautet der Propaganda-Spruch, der überall zu lesen und zu hören ist. Doch diese Zukunft ist eben nicht für alle da, sondern sie fußt darauf, dass die Zukunft der Alten eingeschränkt wird.
Nur wenn die Tochter es erlaubt
Schon bevor sie in die Kolonie kommen, dürfen sie nicht mehr frei über ihr Leben bestimmen. Will Tereza etwa ein Flugzeugticket kaufen, muss der Verkäufer ihre Tochter anrufen, die den Kauf autorisiert. Doch die Tochter hat kein Verständnis für Terezas Wunsch vor dem Umzug in die Kolonie und lehnt ab. Doch Tereza will wenigstens einmal in ihrem Leben fliegen.
Sie findet einen anderen Weg - und der Film damit seinen farbenfroh fotografierten Hauptspielplatz: die Landschaft des Amazonas. Tereza heuert einen Mann an, sie mit dem Boot an einen Ort zu bringen, wo angeblich noch private Leichtflugzeuge starten. So gleitet sie nun über den Fluss, erst mit dem unwirschen Cadu (Rodrigo Santoro), später dann mit der wahren Verbündeten Roberta (Miriam Socarrás).
Das Miteinander dieser beiden alten Frauen auf dem Amazonas wird zum warmen Zentrum des Films. Mascaro hat das auch den beiden Darstellerinnen und ihrem kraftvollen, gewitzten, nuancierten Spiel zu verdanken. Denise Weinberg und Miriam Socarrás kann man sicher zum Anwärterkreis für die Silbernen Bären für die beste Haupt- und Nebenrolle zählen.
Alligatoren am Haken
Das Leben am und auf dem Fluss steht auch im Kontrast zur anfangs gezeigten heruntergekommenen Siedlung, in der Tereza lebt. Ständig muss sie über Bretter balancieren, die auf Wracks und Geröll gelegt wurden, um diese überqueren zu können. Und der Film zeigt noch weniger ansehnliche Fabrikarbeit: Zu Beginn sieht man erst, wie gekachelte Räume gereinigt werden, und dann, wovon sie gereinigt werden: Tereza arbeitet in einer Alligatorenfarm, wo die Tiere getötet, gehäutet und zur Weiterverarbeitung an Haken aufgehängt werden. Später dann zeigt der Film den natürlichen Lebensraum der Tiere am Fluss. Auch wenn Mascaro sie dort kaum einmal zeigt: Hierhin jedenfalls kann Tereza entkommen, in die Weiten des Amazonas.
Die "blaue Spur" aus dem englischen Filmtitel ist mindestens doppeldeutig. Zum einen ist sie der Amazonas, der sich ausufernd und verzweigend durch diesen Teil Brasiliens zieht - und dabei letztlich zugleich eine sichtbare Spur ist, aber auch die Spuren derer verwischt, die ihn entlang schippern. Zum anderen gibt es eine seltene Art magischer Schnecken, die eine blaue Schleimspur hinter sich herziehen. Tröpfelt man sich diesen Schleim ins Auge, kann man in seine Zukunft sehen. Doch Mascaro zeigt diese angeblichen Visionen vor allem als körperliche Erfahrungen. Das Weiß in den Augen verfärbt sich blau, und die Menschen bekommen edelirische Fieberzustände. Momente existenzieller Erkenntnis sehen anders aus.

Mascaros Film ist warmherzig und schön, aber auch ziemlich harm- und zahnlos. Nicht nur wenn man bedenkt, dass seinen internationalen Durchbruch "Neon Bull" (2015) einst auch ein kleiner Skandal umgab, weil darin ein Schauspieler ohne Tricks einen echten Hengst masturbierte. Sondern weil die Dystopie, die heraufbeschworen wird, am Ende nicht greift. Zu wenig scharf und bedrohlich wird das Szenario der Alten-Kolonie gezeichnet. Wenn man den Häschern düsterer Zukunftswelten so leicht entkommt, muss man sich wohl keine allzu großen Sorgen machen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 17.02.2025. 07:55 Uhr