Berlinale-Forum | "Palliativstation" - Das Leben mit dem Sterben

Philipp Döring hat einen Sommer lang eine Berliner Palliativstation beobachtet. Sein herausragender vierstündiger Dokumentarfilm, der im Berlinale-Forum läuft, drängt sich niemals auf - und trifft nachhaltig ins Herz. Von Fabian Wallmeier
"Was mache ich denn mit der Zeit", fragt Herr Dickhoff. Früher sie sei gerast und schon sei wieder ein Jahr rum gewesen. "Und jetzt: nichts." Herr Dickhoff ist todkrank. Er sitzt auf seinem Bett in der Palliativstation des Berliner Franziskus-Krankenhauses, den Kopf in seinen Armen vergraben, die er auf dem Krankenbett-Tisch verschränkt hat.
Oberarzt Sebastian Pfrang lässt Dickhoff erst mal reden und hört aufmerksam zu. Dann antwortet er. Er beschönigt nichts, gibt ihm Recht: dass Zeit von Schwerkranken wie ihm, deren Alltag vom Umgang mit der Krankheit geprägt sei, oft ganz anders wahrgenommen werde als vor der Krankheit. Doch eines, das sei ihm ganz wichtig, müsse er dann doch noch sagen, sagt Pfrang: "Sie sind jetzt kränker und Sie sind jetzt schwächer - aber Sie sind immer noch Herr Dickhoff, Sie sind immer noch dieser tolle Mensch." Und dann zählt er auf, was diesen tollen Menschen ausmacht. Empathisch, treffsicher, sogar humorvoll.
Sebastian Pfrang ist der Hauptprotagonist in Philipp Dörings erstaunlichem Dokumentarfilm mit dem schlichten Titel "Palliativstation", der jetzt im Forum der Berlinale läuft. Er ist ein Arzt, den man sich besser kaum ausmalen könnte. Pfrang, vielleicht Ende 30, mit Sechstagebart, warmem Blick und einer ansteckend albernen Lache beschenkt, nimmt sich Zeit für seine Patient:innen. Er nimmt ihre Sorgen ernst, egal wie verschoben die Prioritäten dem unbeteiligten Betrachter erscheinen mögen. Und er sagt ihnen klar, was Sache ist. Deshalb wirkt es auch niemals hohl oder kitschig, wenn er so etwas wie das mit dem "tollen Menschen" sagt, sondern absolut authentisch.
Nah, aber nie aufdringlich
Einen Sommer lang hat Philipp Döring auf der Palliativstation in der Klinik gleich hinterm Berliner Zoo gedreht, ohne Förderung, ohne Team, sondern ganz allein mit seiner Kamera. Er hat, wie im Pressematerial zu lesen ist, schon bei den Aufnahmegesprächen mit den Patient:innen, die im Film vorkommen, mit dabei gesessen und so ihr Vertrauen gewonnen.
Döring kommt sehr vielen Menschen sehr nah in seinem Film. Vielleicht gerade deshalb, weil er sich nicht aufdrängt. Weil seine Kamera beobachtet - oft aus einiger Entfernung, niemals sensationslüstern. Weil sein Film keine Interviews enthält, sondern rein nach dem "fly on the wall"-Prinzip nur den Alltag in dieser Klinik abbildet.
"Palliativstation" nimmt sich dafür außergewöhnlich viel Zeit: Satte vier Stunden dauert der Film – und diese Zeit braucht er auch, um zu atmen, um sich zu entfalten. Um ausführlich die Ärzt:innen, Pfleger:innen und Therapeut:innen bei ihren Übergaben und Beratungen zu beobachten. Um verschiedenen Patient:innen Raum zu geben. Oder auch ganz kitschig: Um abzubilden, wie kostbar Zeit ist, wenn man nur noch wenig davon hat.
Auch das Sterben ist Stationsalltag
Dass diese Zeit endlich ist, zeigt der Film einfühlsam und fern jeder Schaulust, aber auch ohne Scheu und in aller Klarheit. Als einer der Patienten gestorben ist, der zuvor noch im Gespräch mit seinem Bruder zaghaft zuversichtlich wirkte, wird auch gezeigt, was dieser Teil des Stationsalltags bedeutet: Wie das Personal die Sachen des Verstorbenen in Taschen packt, ihn auf eine Bahre hebt, einen kleinen Blumenstrauß auf das Laken klebt und den zugedeckten Leichnam mit dem Fahrstuhl ins Kühlhaus bringt.
Dörings Film ist voller herzzerreißender Szenen. Da ist zum Beispiel Frau Schulz, eine ältere Frau, die ihr ganzes Leben auf den Beinen war und noch nicht ganz wahrhaben zu wollen scheint, wie ernst ihre Lage ist. Ihr Bein will sie nicht mehr tragen und dem Team der Station ist klar, dass sie niemals wieder laufen wird. Dann schlägt das Schicksal an anderer Stelle zu: Über Nacht stirbt völlig unerwartet ihr Mann. Da liegt sie nun im Bett und schluchzt, dass sie doch jetzt alles regeln müsse und nicht einfach so rumliegen könne.
Austherapiert und im Stich gelassen
Oder Frau Rachwal, eine junge Frau, die der Krebs ohne Übertreibung literweise Blut erbrechen lässt, die nicht mehr sprechen kann und unter Schmerzen in ihr Handy tippt, um sich verständlich zu machen. Austherapiert und todkrank, von den auf Heilung fixierten Fachärzt:innen im Stich gelassen, ist sie nun auf der Palliativstation gelandet. Dort ist der Fokus ein ganz anderer: Nicht mehr die Heilung ist das Ziel, sondern für Patient:innen und ihre Angehörige ganzheitlich gedacht die größtmögliche Lebensqualität zu erreichen.
Die Szenen mit Frau Rachwal gehören zu den härtesten des Films. Doch der Film zeigt auch, wie es Pfrang und dem Team der Station gelingt, selbst dieser Frau in ihrer verzweifelten Lage wieder zu einer positiven Grundstimmung zu verhelfen. Als ihre Familie sie aus dem Krankenhaus abholt, ist die schmerzverzerrte Bodenlosigkeit in ihrem Gesicht einem Strahlen gewichen.
Klar ist aber auch - das wissen Pfrang und sein Team, das weiß ihre Familie und das weiß vor allem auch sie: In wenigen Wochen wird sie tot sein. Dass dieses Leben mit dem Sterben unendlich wertvoll ist, ein Geschenk sein kann, zeigt Dörings Film eindrücklich - und tief bewegend. Wer nach diesen vier Stunden nicht ein bisschen verändert auf das Leben und das Sterben blickt, hat vermutlich kein Herz.
Sendung: Radioeins, 19.02.2025, 19:00 Uhr