Berlinale-Fazit - Toller Siegerfilm, solider Wettbewerb, geglückter Einstand

Ein solider Wettbewerb, ausreichend Stars und schöne Überraschungen bei der Preisverleihung: Die erste Berlinale unter Tricia Tuttle ist gut über die Bühne gegangen - mit einigen Abstrichen. Von Fabian Wallmeier
Wenn das mal keine schöne Überraschung ist! Die Jury der Berlinale hat am Samstagabend den Goldenen Bären nicht wie sonst so oft an eine politische Dokumentation oder ein besonders sperriges Stück Filmkunst vergeben, sondern für eine leichtfüßige, warmherzige und ganz beiläufig enorm vielschichtige Geschichte über junge Liebe und über das Erzählen. Völlig zurecht hat mit Dag Johan Haugeruds "Dreams (Sex Love)" der beste Film des Wettbewerbs den Hauptpreis bekommen.
Auch ansonsten überraschte die Jury unter dem Vorsitz von Todd Haynes mit unerwarteten Entscheidungen. Die seltsamste verkündete sie gleich zu Beginn: Den Silbernen Bären für eine künstlerische Leistung, der eigentlich für Schnitt, Kamera oder ein anderes Einzelgewerk vergeben wird, verlieh sie an das gesamte künstlerische Ensemble von "The Ice Tower" - einen tatsächlich sehr formbewussten Film, der aber über weite Strecken ziemlich unverständlich und redundant umherwabert. Auch den Regie-Preis für Huo Mengs "Living the Land" hatte man eher nicht auf dem Zettel - er ist aber eine schöne Würdigung für ein lebenspralles dörfliches Mehrgenerationen-Porträt am Scheitelpunkt eines Umbruchs.
Etwas überbewertet
Gabriel Mascaros mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Dystopie "The Blue Trail" über eine Zukunft, in der alte Menschen in eine Kolonie umgesiedelt werden, ist zwar warmherzig, aber eigentlich ein bisschen zu harmlos für den zweitwichtigsten Preis des Wettbewerbs. Auch Iván Funds ruhig erzähltes Road Movie "The Message" ist mit dem Preis der Jury vielleicht etwas überbewertet. Nachvollziehbarer, aber überraschend: Andrew Scotts ruhige Darstellung des Songwriters Richard Rodgers in Richard Linklaters "Blue Moon" strahlt vor allem im Kontrast zu Ethan Hawkes die Grenze zur Karikatur immer wieder überschreitender Darstellung der flamboyanten Hauptfigur.
Einigermaßen vorhersehbar war dagegen der Silberne Bär für die beste Hauptrolle. Zwar war es ein Wettbewerbsjahr mit ungewöhnlich vielen herausragenden schauspielerischen Leistungen, doch an Rose Byrne ging in diesem Jahr wohl kein Weg vorbei: Wie sie in "If I Had Legs I'd Kick You" eine Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs spielt, ist ein Ereignis. Auch dass Radu Jude für "Kontinental '25" irgendeinen Preis bekommen würde, lag auf der Hand. Dass es am Ende das Drehbuch war, ist folgerichtig bei diesem filmisch schmucklosen Nebenwerk.
Keine Bären für die deutschen Filme
Keinen Preis gab es dagegen für Hong Sangsoo ("What Does This Nature Say to You"), der sich aber damit wird trösten können, dass er eh fast jedes Jahr im Wettbewerb vertreten ist und schon mehrere Silberne Bären im Schrank hat. Und auch die deutschen Beiträge gingen leer aus. Im Fall von "Yunan", einer langatmig verquasten Selbstfindungsgeschichte auf einer Hallig (die meine Kollegin deutlich lieber mochte als ich), geht das vollkommen in Ordnung. Auch dass der lustige kleine, fernsehspielhafte Thesenfilm "Was Marielle weiß" nicht international wettbewerbsfähig ist, verwundert nicht.
Überraschend ist dagegen, dass ein Top-Favorit auf den Goldenen Bären komplett leer ausging: die diesjährige politische Dokumentation im Wettbewerb, "Timestamp". An mangelnder Qualität kann es nicht gelegen haben - Kateryna Gornostais Film zeigt sehr eindrücklich, wie das Leben und Unterrichten an den Schulen in der Ukraine während des russischen Angriffskriegs weiter geht.
Nicht einmal der Dokumentarfilmpreis ging an "Timestamp". Den erhielt stattdessen "Holding Liat" von Brandon Kramer - ein anrührender Film aus dem Forum, der ein israelisch-amerikanisches Senior:innen-Paar in den Wochen begleitet, in denen ihre Tochter im Zuge des Anschlag vom 7. Oktober 2023 von der Hamas gefangen gehalten wird.
Kein Eklat bei der Bären-Gala
Auch im vergangenen Jahr hatte ein Film über den Nahost-Konflikt den Dokumentar-Preis gewonnen, bei der Verleihung war es an dieser Stelle und bei einer weiteren Dankesrede zu einem Eklat gekommen. Das blieb dieses Mal aus. Der politischste Moment der Verleihung war wohl, als Radu Jude seine Dankesrede mit Blick auf die Bundestagswahl am Sonntag mit der Hoffnung schloss, dass die nächste Berlinale nicht mit "Triumph des Willens" eröffnet werde. Ansonsten eine Preisverleihungsgala ohne besondere Vorkommnissen - was Tricia Tuttle durchaus recht sein dürfte.
Politische Kontroversen und Debatten gab es indes natürlich schon: Tilda Swinton hielt in ihrer Dankesrede für den Goldenen Ehrenbären ein flammendes Plädoyer gegen Ausgrenzung, wurde aber auch dafür kritisiert, dass sie Sympathien für die umstrittene Israel-Boykott-Bewegung BDS betonte. Und nachdem der Regisseur Jun Li Deutschland vorgeworfen hatte, "Genozid" an den Palästinensern zu unterstützen, ermittelt nun der Staatsschutz. Doch Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle reagierte klug und besonnen, indem sie gleich ihr Bedauern über den Vorfall äußerte. Im vergangenen Jahr war die damalige Berlinale-Leitung auch für ihre Untätigkeit rund um den Eklat kritisiert worden.
Überhaupt kann Tricia Tuttle auf einen, vom missratenen Eröffnungsfilm einmal abgesehen, insgesamt gelungenen Einstand zurückblicken. Der Wettbewerb war solide, hatte zwar nur wenige wirklich herausragende Filme, aber eben auch so gut wie keine Totalausfälle. Auch an Stars hat es nicht gemangelt - immer ein wichtiger Faktor für den Gesamterfolg des Festivals. Unter anderem liefen Timothée Chalamet und Robert Pattinson für ihre neue Filme über den roten Teppich.
"Perspectives" geht nicht auf
Tuttle sichtbarste programmatische Neuerung ging dagegen als Konzept nicht auf: "Perspectives", eine Sektion, die ausschließlich Spielfilmdebüts zeigt. Auch in den anderen Sektionen waren weiterhin Debüts zu sehen - und warum nun ausgerechnet diese 14 Filme in "Perspectives" liefen, blieb unklar. Es gab unter diesen Filmen zwar auch wirklich Sehenswertes - der von der "Perspectives"-Jury prämierte "The Devil Smokes" von Ernesto Martínez Bucio aus Mexiko etwa ist ein durchaus immersiver Film über fünf Geschwister, die von den Eltern bei ihrer psychisch kranken Großmutter gelassen werden - mit einem guten Gespür für den Umgang mit Kindern vor der Kamera.
Noch schöner sind "Little Trouble Girls" über das sexuelle Erwachen einer Chorschülerin und vor allem "That Summer in Paris" von Valentine Cadic, ein federleichter und ganz beläufig tiefgehender Film über eine Frau Anfang 30, die während der Olympischen Spiele in Paris bei ihrer Halbschwester unterkommt und durch die Stadt treibt.
Doch ansonsten: viel Einerlei und deutlich mehr unerfreulich schlechte Filme als im Wettbewerb. Hinzu kommen die Unzulänglichkeiten der neuen Spielstätte, an dem alle "Perspectives"-Premieren gezeigt wurden: Das Stage-Bluemax-Theater schräg gegenüber vom Berlinale-Palast ist kein schöner Ort. Man wird vor dem Film eine halbe Ewigkeit Rolltreppen hochgeführt, nach dem Film unzählige Treppen heruntergeschleust - und sitzt dazwischen in einer als Kino mäßig geeigneten, steil ansteigenden Arena ohne Beinfreiheit und mit viel zu kleiner Leinwand. Kein würdiger Ort, um Debütant:innen zu ehren.
"Furchtbar und wunderbar zugleich"
Vielleicht schafft es der oder die eine der Nachwuchsfilmemacher:innen ja irgendwann auch in den Wettbewerb - und damit in den weitaus würdigeren Berlinale-Palast. Und wer weiß, vielleicht ist dann ja der Film so gut wie "Dreams (Sex Love)" - und die Jury weiß das auch noch zu würdigen.
"Es war furchtbar und wunderbar zugleich", sagt die Hauptfigur in "Dreams (Sex Love)" einmal. Das gilt ganz grundsätzlich auch immer für die Berlinale. In diesem Jahr hatte das Wunderbare unterm Strich knapp die Oberhand - was für die erste Berlinale unter neuer Leitung schon eine ganze Menge ist.
Und das sind die Gewinner!
Sendung: Radioeins, 23.02.2025, 08:14 Uhr
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