Berlinale-Wettbewerb | "Dreams" (Sex Love) - Die große Kunst der Beiläufigkeit

Ein Mädchen verliebt sich in seine Lehrerin und schreibt darüber. Dag Johan Haugeruds "Dreams" ist klug, überraschend, warm, witzig und gleichzeitig komplex und leichtfüßig. Ein spätes Highlight im Wettbewerb. Von Fabian Wallmeier
Johanna und Johanne – wenn zwei Menschen fast genau gleich heißen, muss das doch ein Zeichen sein, oder? Johanne (Ella Øverbye) jedenfalls ist davon überzeugt, auch wenn sie vor den Gefühlen, die sie für Johanna (Selome Emnetu) entwickelt, zunächst geradezu Angst hat. Johanne ist 16 und Johanna ihre neue junge Lehrerin.
Johanne erzählt uns aus dem Off, wie sie sich in Johanna verliebt ("Es war furchtbar und wunderbar zugleich") – und später stellt sich heraus, dass was sie da spricht, eine Art Tagebuch ist, Notizen, die sie für sich selbst gemacht hat. Und die dann auch ihre Großmutter und ihre Mutter lesen. Später wird daraus sogar ein Buch.
Mit dem anderen Wettbewerbsfilm gleichen Namens, "Dreams" von Michel Franco, hat Dag Johan Haugeruds nur den Titel gemein. Seine kluge, zarte, witzige, leichtfüßige, melancholische und profunde Geschichte ist Michel Francos zudem in so ziemlich allen Belangen deutlich überlegen.
Raffinierte Perspektivänderungen
Haugeruds Film ist um einiges komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Wie er etwa mit der Erzählerinnenperspektive umgeht, ist höchst raffiniert. Wir hören zwar meist Johanne reden, aber die Warte, aus der sie spricht, verschiebt sich ständig. Sie spricht in den direkten Filmszenen in verschiedenen Zeitebenen - und auch ihre Erzählung aus dem Off ist im ständigen Wandel: Mal spricht die Johanne aus dem heruntergeschriebenen Erfahrungsbericht, dann eine ältere, die auf das Schreiben und auf das Lesen der Mutter und der Großmutter zurückblickt, dann eine noch spätere nach der Veröffentlichung ihres Buchs. Dazu kommen die sich auch ständig weiterentwickelnden Perspektiven von Mutter (Ane Dahl Torp) und Großmutter (Anne Marit Jacobsen) – und in einer überraschenden Szene Johannas Sicht auf die Dinge.
Dieses ständige Neujustieren und intertextuelle Analysieren klingt anstrengend, ist es aber überhaupt nicht. Wie organisch Haugerud diese ständige Weiterentwicklung aufbaut und schneidet, ist logisch schlüssig, immer wieder aufregend und in einem ständigen Fluss. Die große Kunst der Beiläufigkeit hat er so tief durchdrungen, wie es nur den besten Filmemacher:innen gelingt.
Opferbericht oder "feministisches Juwel"?
Der Grundton des Films ist im Wechsel schwelgerisch und melancholisch. Es geht schließlich um die erste große Liebe, um Verlangen und Träumen, um Enttäuschungen und Verletzungen. Doch immer wieder ist "Dreams" ausgesprochen witzig, vor allem in den Dialogen von Mutter und Großmutter. Johannes Text regt sie dazu an, auch das das eigene sexuelle Verlangen in ihren jeweiligen Lebenslagen zu besprechen. Und sie diskutieren zunächst natürlich, was von dem im Text Geschilderten wirklich passiert ist, und was Johanne hinzuphantasiert hat. Ist er der Bericht eines Opfers oder ein "feministisches Juwel"?
Die Mutter ist zunächst gewillt, alles für bare Münze zu nehmen und die Lehrerin wegen sexuellen Missbrauchs zu melden – auch wenn der Film feinsinnig offen lässt, was denn eigentlich zwischen Johanna und Johanne vorgefallen ist. Die Großmutter hingegen, selbst Dichterin, hebt gleich auf die literarischen Qualitäten des Textes ab und will ihn ihrer Verlegerin schicken.
Haugeruds Film lässt sich ebenso wenig auf eine einfache Formel bringen. Lustvoll dekonstruiert er vermeintliche Gewissheiten. Gerade hat man sich etwa selbst die Formel zurechtgelegt, dass der Film wohl von einem queeren Erwachen handelt, da hört man Johanne diese Zuschreibung fast schon belustigt bei Seite wischen. "Bin ich queer, nur weil ich mich in Johanna verliebt habe?"
Diskurslastig und sinnlich
"Dreams" ist zweifellos ein diskurslastiger Film, aber auch ausgesprochen sinnlich. Wenn Johanna und Johanne in Johannas Wohnung zusammensitzen (die Lehrerin bringt der Schülerin Stricken bei), strahlen nicht nur die Gesichter der beiden Schauspielerinnen, sondern alles sieht so warm und gemütlich aus, dass man sich direkt dazu setzen und auch so einen kuscheligen Pullover stricken möchte wie den, den Johanna trägt.
Überhaupt sind die vier Darstellerinnen fantastisch. Die mal verletzliche, mal lebenskluge Johanne, die ihre Rolle in der Geschichte suchende Mutter, die forsche, lebenskluge Großmutter und die mal verständnisvolle, dann irritierend abweisende Johanna: Alle vier sind dank der Darstellerinnen (und Haugeruds exzellenten Buches) runde, glaubwürdige Figuren.
Haugerud findet zudem ein visuell starkes Leitmotiv: Gleich in der ersten Einstellung und immer wieder filmt er verschiedene Arten von Treppen. Die stylish verwinkelten im lichten Treppenhaus des modernistisch-warmen Hauses, in dem Johannas Wohnung ist. Und die nicht enden wollenden Treppen, die Mutter und Großmutter bei ihrer Wanderung im Umland von Oslo erklimmen. Kamerafrau Cecilie Semec filmt sie teilweise aus so ungewohnten Winkeln, dass nicht gleich klar ist: Geht es hier gerade nach oben oder nach unten?
Drei Filme - mit verknüpften Themen
"Dreams" ist der zweite Teil einer Trilogie, feiert aber als letzter Premiere. Die Weltpremiere von "Sex" war voriges Jahr im Panorama. Darin geht es um zwei Dachdecker, die in heterosexuellen Beziehungen leben, aber queeres Verlangen entdecken. Der dritte Film, "Love", lief dann einige Monate später im Wettbewerb von Venedig. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die nach einer Begegnung mit einem auf Gelegenheitssex bedachten Mann auf einer Fähre, ihr Liebes- und Beziehungsmodell in Frage stellt. In "Dreams" (in Norwegen schon im September 2024 veröffentlicht) kommt nun die Perspektive der Heranwachsenden hinzu.
Letztlich, sagt Haugerud auch selbst, geht es in allen drei Filmen um alle drei Dinge, die in den Filmtiteln benannt werden. Schließlich sind Sex, Liebe und Träume untrennbar miteinander verknüpft, sie bedingen, ergänzen und verkomplizieren einander. Die drei Filme funktionieren dann auch unabhängig voneinander, weil die Geschichten und Figuren sich nicht direkt aufeinander beziehen. Aber es ist ein besonderes Vergnügen, alle drei miteinander in Verbindung zu setzen.
Kinogänger:innen in Deutschland werden dazu ab Mitte April die Gelegenheit haben: Alamode plant, alle drei Filme im Abstand von jeweils zwei Wochen in die Kinos zu bringen - in wiederum anderer Reihenfolge unter dem Übertitel "Oslo Stories" und mit den Untertiteln "Liebe" (ab 17.04.), "Träume" (ab 08.05.) und unnötig keusch nicht etwa "Sex", sondern "Sehnsucht" (ab 22.05.). Allen drei Filmen sind viele Zuschauer:innen zu wünschen.
Berlinale 2025: Stars, Glamour und Momente
Sendung: Radioeins, 18.02.2025, 19:00
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