Notrufzentrale Berlin - "Wir stopfen ein Loch und reißen ein anderes auf"
Mehr als 300 Mal hat die Berliner Feuerwehr dieses Jahr den Ausnahmezustand ausgerufen, weil zu viele Notrufe auf zu wenige Rettungswagen treffen. Was macht das mit denen, bei denen diese Anrufe eingehen? Ein Besuch in der Notrufzentrale. Von Kerstin Breinig
"Atmet die Frau?" "Gab es einen massiven Aufprall?" "Hatte Ihr Mann schon einmal einen Schlaganfall?" - Es ist ein Stimmengewirr zwischen den einzelnen Notrufannahmeplätzen in der Leitstelle in Berlin-Charlottenburg. Dazwischen zählt Maximilian Leonhard von eins bis vier. Immer wieder. Er leitet eine Wiederbelebung an. "Immer so weiterdrücken. Bis die Kollegen eintreffen, nicht aufhören."
Die Kollegen sind zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Weg – Rettungswagen und Notarzt. Es ist noch früh am Morgen. Doch schon um kurz nach acht sind für ganz Berlin nur 15, manchmal auch 20 Rettungswagen verfügbar. Die Auslastung liegt bei knapp 80 Prozent, auch die Hälfte der verfügbaren Notärzte ist im Einsatz. Der Tag, das wissen alle in der Leitstelle, wird hart.
Um 9:22 Uhr dann: Ausnahmezustand. Löschfahrzeugbesatzungen müssen auf Rettungswagen umsteigen, Löschfahrzeuge werden zu Rettungseinsätzen geschickt. Weniger als 15 Rettungswagen sind frei, in manchen Bezirken ist kein einziger mehr verfügbar. Bis Patienten Hilfe bekommen, kann viel Zeit vergehen. Solange bleibt nur die Stimme am Telefon. "Das ist sehr schwierig, vor allem auch bei Kindern, wenn man da ein aufgeregtes Elternteil am Telefon hat, das Kind läuft blau an beim Fieberkrampf", erzählt Maximilian Leonhard. Und dann sei niemand vor Ort, der helfen könnte. Er muss dann den Menschen erklären, dass es dauert, dass jemand auf dem Weg ist.
"Wir sind derzeit ausgelastet" steht auf einem der Monitore an der Wand. Überlastet würde es vermutlich besser treffen. Auch der Leiter des Referats Leitstelle, Markus Wiezorek, sieht die andauernde Not in der Notrufzentrale. "Das, was die Mitarbeiter hier leisten, ist übermenschlich." Die psychische Belastung sei ohnehin hoch. Immer nur die Menschen zu vertrösten, statt helfen zu können, mache den Druck noch größer.
Die Maßnahmen zur Entlastung bringen da nur wenig Linderung. An die Kassenärztliche Vereinigung werden täglich 200, 220 Einsätze pro Tag abgegeben, deutlich mehr als noch zu Jahresbeginn. Doch die Mehrbelastung kann das nicht abfangen. Denn die Zahl der Anrufe und Rettungswageneinsätze steigt deutlich stärker. Und so versuchen sie in der Leitstelle die Löcher zu stopfen. Das bedeutet auch, dass nicht lebensbedrohliche Einsätze zurückgestellt werden. "Der Rückenschmerz muss warten", formuliert es André Spitzner. Sein Dispo-Kollege Kenneth Braun versucht derweil einen Rettungswagen in Brandenburg zu finden, für einen Einsatz in Steglitz. In Schönefeld wird er dann fündig.
Brand in Wilmersdorf - Anfahrt aus Wittenau
Die Anfahrt dauert 26 Minuten. Der nächste Notfall – das gleiche Problem. Kenneth Braun und André Spitzner jonglieren mit Rettungswagen, Löschfahrzeugen, Notarztwagen und müssen entscheiden, wer zuerst Hilfe bekommt. Verfügbar haben sie am späten Vormittag mal keinen, mal fünf Rettungswagen. Verteilt über die ganze Stadt. Wie schnell dann jemand kommt, Glückssache.
Der nächste Patient hat Glück. Der Notarzt ist nur drei Minuten von der Einsatzstelle entfernt. Zum gemeldeten Brand in Wilmersdorf hingegen fährt ein Löschzug aus Wittenau. 18 Minuten dauert das. "Wir stopfen ein Loch und reißen ein anderes auf", sagt Wachabteilungsleiter Mirco Lüdemann. Es ist ein Teufelskreis: Wenn es keine Rettungsmittel gibt, werden Brandbekämpfer zur Notfallrettung geschickt. Wenn es dann brennt, ist keiner mehr in der Nähe.
Und eine kurzfristige Lösung ist nicht in Sicht. Auf Einladung der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey haben sich Innensenatorin Iris Spranger (beide SPD) und Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) am Freitag getroffen. Ohne Ergebnis. Sie seien aber auf einem sehr guten Weg, teilte die Innensenatorin mit. Spranger will zur Entlastung auch geringer qualifizierte Rettungssanitäter in den Notarztwagen einsetzen. Das lehnen die Grünen als Verschlechterung der medizinischen Versorgung ab. Sie wollen nur Notfallsanitäter und Notärzte zusammen einsetzen.
Löschfahrzeug statt Notarzt zur Wiederbelebung
Bleibt nur Mangelverwaltung und Kopfschütteln: Mittags sind alle Notärzte im Einsatz, genauso wie die Rettungswagenbesatzungen und ein paar Löschfahrzeuge. "Wir haben 207 offene Einsätze, 20 unbeschickte, die mit den nächstmöglichen Kräften disponiert werden", sagt Wachabteilungsleiter Mirco Lüdemann. Und bei zehn Einsätzen sei nur ein Teil der nötigen Fahrzeuge und Menschen vor Ort. Zu einer Wiederbelebung wird dann ein Löschfahrzeug geschickt. Das braucht nur zehn Minuten, der Notarzt 22.
So lange zählt wieder jemand in der Leitstelle von eins bis vier. Man hört: "Sie sagen mir Bescheid, wenn die Rettungskräfte dann direkt bei Ihnen sind." Bis dahin muss die Mutter ihrem Sohn selbst helfen.
Sendung: rbb24 Abendschau, 09.12.2022, 19:30 Uhr