Interview | 30 Jahre Berliner Tafel - "Wie ... Ihr wollt unseren Müll?!?"
Am 21. Februar 1993 gründete Sabine Werth in Berlin die erste deutsche Tafel. Seither kümmern sich deutschlandweit mehr als 960 Tafeln um die günstige Weitergabe von Lebensmitteln an Bedürftige. Im Interview schaut Werth zurück - und nennt aktuelle Herausforderungen.
rbb|24: Frau Werth, die Tafeln in Deutschland sind inzwischen riesengroß, es gibt fast 1.000. Ungefähr zwei Millionen Menschen kommen regelmäßig dorthin und bekommen Lebensmittel. Wie hat das mit der Berliner Tafel vor 30 Jahren angefangen?
Sabine Werth: Ich war Mitglied der "Initiativgruppe Berliner Frauen", das war ein Charity-Verein. Wir hatten einen Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Stahmer zum Thema Obdachlosigkeit in Berlin gehört und haben uns überlegt, was wir machen können. Unser Mitglied Ursula Kretzer-Moßner kam dann mit einem Artikel über "City Harvest" - da stand drin, dass Ehrenamtliche in New York abends nach Empfängen Lebensmittel einsammeln und diese Obdachlosen auf die Straße bringen würden. Und dann haben wir überlegt: Die Situation haben wir auch oft genug, das können wir machen. Außerdem kennen wir genug Leute, die mit Lebensmitteln handeln, da fragen wir nach. Dann haben wir uns überlegt, wie wir das Ganze nennen können. Schnell war klar: "Berliner" als direkter Bezug zur Stadt und "Tafel". Wir wollten denen eine Tafel decken, die es sich sonst nicht leisten können.
Wir haben dann alle damals existierenden 23 Obdachloseneinrichtungen eingeladen und ihnen von der Idee erzählt. 21 waren total begeistert, zwei fanden es politisch völlig unkorrekt, weil das Forderungen seien, die sie an den Senat stellen würden und sie keine Lust hätten, das Ganze von uns unterwandern zu lassen. Da haben wir gedacht: Der Schnitt ist gut – und haben angefangen. Ich habe es dann relativ schnell aus der Initiativgruppe rausgenommen, weil ich festgestellt habe, dass ich diejenige war, die am aktivsten gearbeitet hat. Die meisten anderen kamen nur, wenn die Presse kam. So entstand die Berliner Tafel als Solitär ohne Trägerverein.
Wie muss ich mir das konkret vorstellen, sind Sie dann zusammen mit den anderen Frauen mit ihren Privat-Pkws zu Lebensmitteldiscountern gefahren und haben gefragt, ob da etwas übrig ist?
Wir haben unsere Kontakte ausgenutzt und Firmen angesprochen, die auf dem Fruchthof in der Beusselstraße waren. Das waren Bekannte von einzelnen Frauen von uns und wir haben die gefragt, ob wir nicht das bekommen könnten, was sie nicht verkauft haben. Genauso haben wir es mit Bäckereien gemacht. Eines unserer Mitglieder hatte mit ihrem Mann zusammen fünf Bäckereien in Britz, Buckow und Rudow. Wir sind dann immer dahingefahren und haben alles abgeholt.
Als wir dann angefangen haben, Discounter und Supermärkte anzusprechen, war regelmäßig die Reaktion: "Wie ... ihr wollt unseren Müll?!?" Und wir sagten dann, wir wollen nicht den Müll, sondern das Nichtverkaufte – und die meinten dann jedes Mal, das sei doch Müll. Da mussten wir uns erst aneinander gewöhnen.
War das denn kein Müll? Oder war das zum Teil Müll und zum Teil auch noch gut essbar?
Da hat sich im Grunde genommen bis heute nicht viel an der Situation geändert: Wir bekommen Dinge, die wir aussortieren müssen, da ist auch Nicht-Schönes dabei. Aber der größere Teil dessen, was wir sammeln, ist auch wirklich direkt und gut verzehrbar – und wir können es verteilen.
Die Berliner Tafel hat schnell Nachahmer gefunden. Haben sich da Menschen bei Ihnen gemeldet und gesagt, dass sie das auch machen wollen oder sind sie aktiv auf Menschen in anderen Städten zugegangen und haben das angeregt?
Erstaunlicherweise waren die ersten Gründungen im anonymen Umfeld. Ich habe mitbekommen, dass sich eine Organisation in München gegründet hat, die habe ich dann angerufen und gesagt: Nennt euch doch auch Tafel, vielleicht kommen ja noch mehr dazu und dann können wir auf einen Begriff zurückgreifen und müssen es nicht immer wieder neu erklären. Dann hat sich eine Initiative in Neumünster gegründet, ein Ehepaar mit Sohn, die mit ihrem Privat-PKW einfach losgefahren sind und das Ganze Neumünsteraner Tafel genannt haben. Und dann rief mich ein Mensch aus Göttingen an, der sagte, er würde gerne gründen und dann kam Annemarie Dose aus Hamburg und war ein paar Tage bei mir dabei und ich habe ihr erklärt, wie das Ganze läuft. Die hat die Hamburger Tafel gegründet und das war die Initialzündung für ganz Deutschland. Ich hatte ihr geraten, möglichst viele Medien einzuschalten und das hatte dann eine unglaubliche Resonanz, denn sie war damals 66 Jahre alt und das war ein Renner für die Medien: Diese alte Dame aus der Hamburger High-Society gründet eine Tafel.
Ruht sich die Politik auf den Tafeln aus und sind die Tafeln vielleicht auch selbst Schuld daran?
Deshalb ist es der Berliner Tafel so enorm wichtig, keine staatlichen Gelder in Anspruch zu nehmen. Wir haben gerade Lottomittel beantragt, das sehe ich noch mal als eine andere Situation an – aber wir wollen keine staatlichen Mittel für den Betrieb der Tafel, weil wir unsere Unabhängigkeit lieben. Letztendlich ist es ja so: Die Hand, die mich füttert, beiße ich nicht. Das heißt, ich könnte gar keine Kritik mehr an der Politik üben, wenn wir staatliche Gelder in Anspruch nehmen würden. Unser Bundesverband fordert gerade staatliche Hilfen für die Tafeln, das sollen alle so handhaben, wie sie wollen. Die Berliner Tafel bleibt da sturr: Wir wollen kein staatliches Geld für unsere Arbeit.
Wenn man als Journalist bei einer der Tafeln mit Menschen spricht, dann gibt es immer auch welche, die das beschämend finden und da lieber nicht darüber reden möchten, wieso sie dort sind. Ist das ein Problem der Tafeln?
Ich glaube, dass die Scham viele Menschen davon abhält, zu Tafeln zu gehen. Diese Scham ist ganz natürlich und armutsbedingt vorhanden. Die Menschen schämen sich, weil sie es in unserer Gesellschaft nach Meinung der Mehrheitsgesellschaft nicht geschafft haben. Und das ist tragisch, dass so damit umgegangen wird. Ich glaube, da wird sich auch was verändern.
Gerade im Jahr 2020 hatten wir ganz viele Neuzugänge, die sagen: 'Corona hat mich einfach geschafft. Ich habe meinen Job verloren und nie hätte ich gedacht, dass ich mal zu einer Tafel gehen müsste.' Das heißt, die Menschen, die zu Tafeln gehen, müssen sich über ihre Not klarwerden. Allein die Tatsache, dass sie arm sind, sich arm fühlen, von anderen als arm angesehen werden - das ist schambesetzt. Dann zur Tafel zu gehen, das ist nochmal das I-Tüpfelchen. Aber wir versuchen, die Stimmung und das Gegenüber so zu gestalten, dass die Leute die Scham schnell verlieren.
Wie wäre es bei Ihnen? Wäre es für Sie okay, zu sagen: Ich gehe dann zur Tafel, auch wenn ich eventuell nicht weiß, was ich da kriege? Wenn die Alternative vielleicht wäre, zu sagen: Nein, ich kämpfe dafür, dass ich ein Recht darauf habe, das zu kriegen, was ich brauche.
Ich glaube, nach 30 Jahren Tafelarbeit bin ich die Falsche, um diese Frage zu beantworten, weil ich die Ausgabestellen kenne und deshalb wäre es natürlich für mich nicht schambesetzt. Wenn ich mich aber mal so neben mich stelle und mir überlege, wie es mir vorkäme, wenn ich arm wäre und es machen müsste: Ja, ganz bestimmt wäre es auf jeden Fall im ersten Augenblick schambesetzt.
Ich glaube, ich würde zu denen gehören, die ganz schnell ehrenamtlich mitarbeiten würden. Das machen ja ganz viele in unseren Ausgabestellen. Wir haben sogar eine Ausgabestelle, die wird nur von Bedürftigen betrieben. Da ist niemand einfach so ehrenamtlich dabei. Das macht eine Menge aus. Ganz viele, die dann mitmachen, sagen: 'Ich will einfach was zurückgeben. Das ist toll, dass ich hier Lebensmittel bekomme - aber ich will auch was dafür tun.'
Kommt das Tafel-Modell an seine Grenzen? Die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer ist zum einen seit 2015 mit Fluchtbewegungen und Ukraine-Krieg enorm größer geworden. Und das zweite ist: Lebensmittelverschwendung ist als als Thema im Kontext des Klimawandels immer wichtiger geworden. Dinge wie Foodsharing führen ja dazu, dass Tafeln weniger kriegen...
Wir haben die gestiegene Zahl der Kundinnen und Kunden natürlich extrem gemerkt. Im letzten Jahr sind in manchen Ausgabestellen locker 100 Prozent dazugekommen. Wir kommen da natürlich an unsere Grenzen und können entsprechend auch nur weniger Lebensmittel verteilen, denn wir haben zum Teil auch weniger bekommen. Wir bekommen viel weniger Obst und Gemüse als früher. Das liegt daran, dass das Thema Lebensmittelverschwendung inzwischen wirklich überall angekommen ist, auch bei den Firmen, die anders disponieren. Wenn wir uns heute umgucken: Die Regale sind in den Märkten zum Teil leer. Und es gibt enorm viele, gerade jüngere Menschen, aber inzwischen auch Ältere, die sich entweder Foodsharing verschrieben haben, oder die andere Formen von Lebensmittelrettung nutzen. Damit müssen wir leben.
Wir nehmen das, was wir gespendet bekommen. Und wenn es weniger ist, können wir auch nur weniger verteilen. Aber wir haben es inzwischen sehr gut raus, die Firmen direkt anzusprechen und zum Teil sehr große Bestände an Überproduktion oder nicht abgenommenen Lebensmitteln zu bekommen. Insofern geht es uns noch ganz gut. Aber da sind wir in Berlin ganz bestimmt auch in einer besonders guten Situation, weil hier viele Firmen sind, weil hier alles zentral landet.
Frau Werth, danke für das Gespräch!
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Fassung.
Das Gespräch führte Matthias Bertsch.
Sendung: rbb24 Inforadio, 21.02.2023, 10:00 Uhr