Geschichte eines Missbrauchs - "Es haben so viele weggesehen"
Marion Princk hat sexualisierte Gewalt dort erlebt, wo sie nur wenige vermuten: im Kinderzimmer. Als der Missbrauch durch ihren Vater endet, ist sie bereits eine erwachsene Frau. Heute hilft sie anderen Betroffenen. Von Pia Kollonitsch
Als die Übergriffe anfangen, ist Marion Princk ein kleines Kind. Der Täter: ihr Vater, ein angesehener Mann in einem kleinen niedersächsischen Dorf nahe dem Steinhuder Meer, gesellschaftlich engagiert in der Freiwilligen Feuerwehr und im Gemeindekirchenrat.
Die Mutter ist psychisch krank. Sie weiß von den Übergriffen, will oder kann ihrer Tochter aber nicht helfen. Die Großeltern, die im oberen Stockwerk des Hauses wohnen, trösten sie nach den Übergriffen. Sie wissen, was ihr Sohn mit der kleinen Enkelin macht, doch auch sie schweigen.
"Ich habe mich geschämt"
Die Übergriffe und Demütigungen des Vaters werden über die Jahre immer brutaler. Marion Princk entwickelt ihre eigene Überlebensstrategie. "Ergeben, quasi totstellen und es über sich ergehen lassen", erzählt die heute 47-Jährige klar und emotionslos. "In der Hoffnung, dass es nicht schlimmer wird." Mit zwölf Jahren ist sie schwanger. Der Abbruch findet im Haus der Familie Princk statt.
Auch als sie eine Ausbildung zur Optikerin und dann die Meister-Prüfung macht, gehen die Übergriffe weiter. Reden kann sie mit niemandem. "Ich habe mich geschämt. Und weil mein Vater nach wie vor Zugriff auf mich hatte, da er ganz nahe wohnte, waren da auch die Todesängste." Die Fassade aufrechtzuerhalten, kostet Kraft. Marion Princk ist tieftraurig und depressiv - und hat Todesängste. Immer häufiger denkt sie an Suizid.
"Er hat mir gesagt, dass das alle Väter mit ihren Töchtern machen"
Trotz regelmäßiger Übergriffe sind Tochter und Vater auf vielen Familien-Fotos in harmonischen Situationen zu sehen. "Ich musste mich zwangsläufig damit arrangieren. Er hat mir auch immer und immer wieder gesagt, dass es Liebe ist. Dass das alle Väter mit ihren Töchtern machen, und dass man nur nicht öffentlich darüber redet. Und das wollte ich dann auch glauben."
Trauma-Experten sehen bei vielen Betroffenen von sexualisierter Gewalt das Phänomen der "paradoxen Bindung". Das heißt, trotz der Gefahr von Gewalt können sie sich den Tätern nicht entziehen.
Dissoziation als Überlebensstrategie
Frank Zimmermann-Viehoff, Chefarzt an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Ernst von Bergmann in Potsdam spricht regelmäßig mit Betroffenen im Rahmen einer stationären Therapie, die die Klinik seit 2022 anbietet. "Das Kind hat in frühen Jahren eine Ohnmacht und eine Abhängigkeit erlebt. Das ist wie ein Programm im Gehirn gespeichert. Die Möglichkeiten, sich zu befreien, sind ausgeblendet." So kann es bei den Betroffenen in bedrohlichen Situationen zudem zu einer Art Trance-Zustand kommen, der Dissoziation. Während einer Dissoziation, so erklärt der Psychotrauma-Experte, "ist es nicht möglich zu sagen: 'Halt! Stopp! Es geht mir zu weit'."
Viele Patienten in der Potsdamer Klinik berichten, dass sie früh gelernt hätten, zu dissoziieren, ihr Gehirn also ein Stück weit auszuschalten, um den Ekel und die Gewalt auszuhalten. Dieses "Schutz-Programm" kann bei Täterkontakten jederzeit anspringen.
Austausch mit Betroffenen
Als Marion Princk 31 Jahre alt ist, stirbt ihr Vater an Krebs. Der Tod des Vaters ist für Marion Princk ein Wendepunkt: Erst da hören die Übergriffe auf. Gefühle, die lange unterdrückt wurden, kommen bei ihr hoch. Sie geht 2006 nach Berlin; eine Freundin, die in der Hauptstadt lebt, hatte ihr von einem Opferschutz-Verein erzählt.
Marion Princk kann sich gut erinnern: "Ich habe gespürt, wenn ich jetzt keine Hilfe annehme, dann gehe ich unter." In der Beratungsstelle arbeiten Betroffene. "Das hat mir sehr geholfen, um wieder Klarheit und Vertrauen zu finden." Dort findet ein Austausch mit selbst Betroffenen in regelmäßigen Gesprächsgruppen statt, es gibt aber auch Einzel-Gespräche mit dem Schwerpunkt Psychosomatik.
Verein gibt Anleitung zur Selbsthilfe
Marion Princk lebt heute mit ihren zwei Hunden in Berlin und engagiert sich inzwischen selbst ehrenamtlich für den Verein, seit 2012 als zweite Vorsitzende. Das Angebot: Telefonberatungen, Selbsthilfegruppen, Kurse zur Selbstverteidigung - und Aufklärung. Zudem versucht Marion Princk auf Kongressen mit anderen Beratungsstellen Kontakte auf zubauen.
"Bei den Telefonberatungen im Berliner Büro bieten wir Informationen an, wie die Betroffenen den Täter entkommen und sich gegen weitere Übergriffe schützen können - zum Beispiel, indem man den Täterkontakt abbricht, und Sicherheit in einem Opferschutzhaus sucht."
Princk ermutigt auch, aktiv zu werden und zum Beispiel das Türschloss auszuwechseln. Für Notfälle gibt es Opferschutz-Wohnungen. Hier können Frauen aufgenommen werden, die in akuten Bedrohungssituationen sind. Ein wichtiges Ziel des Vereines: Hilfe zur Selbsthilfe. Oft machten, so Princk, die Betroffenen die Erfahrung, dass ihnen bei ersten Schilderungen ihrer Erlebnisse nicht geglaubt wird. "Wir raten dann immer: nicht aufgeben, es noch einmal versuchen, auch wenn die erste Hilfe nicht passend war, oder nicht sensibel genug war."
Auch Angehörige oder Partnerinnen und Partner werden beraten. Besonders eine Sache hebt Princk aus eigener Erfahrung hervor: "Betroffene sollten nicht zu einem Gespräch gezwungen werden." Sie rät, ein Gespräch immer unter vier Augen zu initiieren, wenn man als Außenstehender den Eindruck hat, dass da etwas passiert ist. Anhaltspunkte dafür könnten sein, dass jemand auf bestimmte Menschen ängstlich reagiert, innerlich abwesend wirkt oder Körperberührungen verängstigt und schreckhaft ausweicht. "Ein erster Schritt kann dann sein, zu sagen: Ich bin da, wenn du Hilfe brauchst. Die wichtige Botschaft dabei: Du bist nicht allein."
Sendung: "Missbrauch im Kinderzimmer", 08.02.2023, 22:03 Uhr, rbb Fernsehen