Interview | 40 Jahre Aids-Hilfe - "Damals ging es ums Überleben, heute sind wir ein bisschen entspannter"
Als die Aids-Hilfe in den 80er Jahren anfing, sich um HIV- und Aids-Betroffene zu kümmern, ging es viel um Sterbebegleitung. Das hat sich geändert. Mit HIV kann man heute durchaus alt werden. Doch Themen gibt es immer noch für die Berliner Aids-Hilfe.
rbb|24: Herr Feret-Pokos, seit 40 Jahren gibt es die Aids-Hilfe in Deutschland. Hätte man damals zu hoffen gewagt, dass man heute ist, wo man ist mit Aids und HIV?
Blaise Feret-Pokos: Nein. Damals war das Dramatische, dass HIV den Tod bedeutete. Als das Virus entdeckt wurde, gab es noch keine medizinischen Möglichkeiten, es zu bekämpfen. Es war also wirklich ein Todesurteil, wenn man HIV-infiziert war.
Jemand, der HIV-positiv ist, ist aber erst einmal nicht einmal krank. Erst einmal muss sich noch Aids entwickeln. In den 70er- und 80er-Jahren war dieser Weg jedoch vorgezeichnet. Da steuerte man mit der HIV-Diagnose auf seinen Tod zu.
Keiner hätte damals gedacht, dass wir 40 Jahre später so weit gekommen sein könnten. Also dass HIV unter Behandlung zwar auch nicht hundertprozentig therapierbar ist, man aber bei rechtzeitiger Entdeckung und entsprechender medikamentöser Behandlung unter die Nachweisgrenze gelangen kann. Die Betroffenen sind dann heute nicht mehr ansteckend und können ganz normal leben. Die ersten Medikamente in den späten Neunzigern waren lange nicht so effektiv und es gab noch heftige Nebenwirkungen. Außerdem waren die Einnahmevorschriften für die vielen Tabletten, die man nehmen musste, sehr kompliziert.
Wo wir heute stehen, konnte am Anfang keiner vorhersehen. Die Dramatik vor 40 Jahren war eine ganz andere. Es sind so viele Menschen gestorben. 1985 gab es allein in Deutschland 5.000 Neuinfektionen. Das war ein massives Problem.
Wie weit genau ist man heute? Kann man sogar eine bereits begonnene Aids-Erkrankung wieder zurückdrehen?
Das ist schwierig. Ich bin zwar kein Arzt, aber ich kann sagen, dass - wenn jemand schon Aids entwickelt hat - es schwieriger ist, das Immunsystem wieder zu stabiliseren. Deswegen ist Sensibilisierungsarbeit so wichtig - und auch, dass die Menschen sich testen lassen.
Denn je frühzeitiger eine Infektion entdeckt wird, umso mehr Chancen hat man, mit einer medikamentösen Behandlung ein langes Leben trotz HIV zu führen. Was möglich ist, sobald jemand Aids entwickelt hat, muss jeweils der Arzt beantworten.
Wer steckt sich heute überhaupt noch an? Eine "Schwulen-Seuche", wie man HIV in den Achtzigern auch nannte, ist Krankheit ja schon lange nicht mehr.
Am Anfang waren vor allem hier in Deutschland tatsächlich homosexuelle Männer betroffen, die sich nach einer USA-Reise infiziert hatten. HIV hat sich dann in der schwulen Szene hierzulande weiterverbreitet. Dann kamen Drogen-gebrauchende Menschen hinzu. Das war die erste Welle. Danach kamen aber auch mehr heterosexuelle Menschen hinzu, die sexuelle Kontakte mit mehreren Partnern hatten. Bei ihnen ebenso wie bei Sexarbeitenden, Trans*- oder nicht binären Personen sehen wir bis heute ein gewisses Infektionsrisiko.
Das klingt ja, als seien so gut wie alle betroffen?
Ja. Deswegen sagen wir ja auch, dass es ein Problem ist, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Aber es gibt bis heute einige vulnerable Gruppen.
Für Männer, die Sex mit Männern haben, gibt es immerhin schon seit ein paar Jahren eine Präexpositionsprophylaxe (Anm. d. Redaktion: Hier nehmen HIV-Negative ein Medikament ein, das verhindert, dass sich das Virus nach dem Eindringen in den Körper vermehren kann). Das hat dafür gesorgt, dass es in dieser Gruppe weniger Infektionen gibt.
Und für Drogen-gebrauchende Menschen gibt es auch strukturelle Prävention durch kostenlose Kanülen und Spritzen. Auch der Zugang zu Substitutionsbehandlungen wurde erleichtert. Deshalb gibt es auch in dieser Gruppe eine Stagnation der Infektionszahlen. Aber das alles ist das, was wir in Deutschland sehen.
HIV ist also inzwischen ein Problem "anderswo"?
Es gibt noch immer einige Regionen in dieser Welt, wo Sensibilisierungsarbeit, Zugang zu Kondomen, Spritzen etc. nicht gegeben ist und wo die Entkriminalisierung von Sexarbeit und Drogengebrauch nicht stattfindet. So kann man keine vernünftige Präventionsarbeit durchführen. Vielfach ist das in Russland oder auch in Osteuropa so. In Russland führt das dazu, dass Trans* Personen bis heute nicht über Präventionsarbeit erreicht werden.
Und wenn keine Prävention stattfindet, haben Menschen Angst, sich zu testen. Denn wenn sich durch den Test erweist, dass jemand HIV-positiv ist, ist man Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Das ist ein Teufelskreis. In vielen Regionen der Welt wird also immer noch eine Vielzahl von Menschen infiziert.
Für die Ukraine wurde die HIV-Prävalenz (Anm. d. Redaktion: der Anteil/die Rate Betroffener) für 2019-2022 bezogen auf die Gesamtbevölkerung auf bis zu 1,0 Prozent geschätzt (zum Vergleich: In Deutschland lag sie bei etwa 0,1 Prozent) - und sie kann in bestimmten vulnerablen Gruppen noch deutlich höher liegen. Viele dieser Menschen sind wegen des Krieges nach Deutschland gekommen. Wenn sie sich hier untersuchen lassen und man bemerkt, sie sind HIV-positiv, muss das gemeldet werden. Das hat dazu geführt, dass auch hier die Zahlen gestiegen sind.
Auch in anderen Regionen der Welt - wie Afrika und Asien - ist die Situation etwas undurchsichtig. Aber die Welt ist schließlich ein Dorf geworden. Die Menschen sind immer in Bewegung. Das heißt, hier in Deutschland sind wir relativ weit - doch durch die Migration relativiert sich das etwas. So kommen die vulnerablen Gruppen zustande. Oft sind auch Sexarbeiter aus anderen Ländern betroffen.
Der Kampf gegen Aids ist vor allem ein Kampf gegen Unwissenheit. Über das Virus und seine Übertragungswege. Und auch über die medizinischen Fortschritte und die Behandlungsmöglichkeiten. Zudem gibt es Unwissenheit über die unzähligen Zugangsmöglichkeiten zu Tests, Beratung, Begleitung und Behandlung. Die Daseinsberechtigung der Aids-Hilfe wird daher auch weiter bestehen.
Ein Kampf gegen Krankheit und Ausgrenzung
Wie wirken sich die von Ihnen schon geschilderten Veränderungen auf die Arbeit in der Beratungsstelle aus? Quasi von der Sterbebegleitung hin zu Aufklärungsstelle?
Es gibt Veränderungen und Konstanten. Zu Anfang haben wir wirklich sehr viel Sterbebegleitung mit Patienten in Krankenhäusern gemacht. Das findet bis heute statt – aber natürlich nicht im gleichen Ausmaß. Damals ging es um das Überleben. Heute sind wir ein bisschen entspannter. Denn wenn frühzeitig erkannt wird, dass jemand infiziert ist und die medizinische Behandlung schnell beginnt, können die Betroffenen ganz normal leben. Genau wie viele andere Menschen, die eine chronische Erkrankung haben. Der psychische Druck ist also nicht mehr so hoch.
Aber wir begleiten auch noch einige Menschen, die sich in den 70er- und 80er-Jahren infiziert haben. Viele von ihnen sahen keine Perspektive und haben Schule, Ausbildung oder das Studium abgebrochen. Sie sind in prekäre Situationen geraten und bis heute wirtschaftlich nicht gut aufgestellt. Viele sind einsam.
Das Thema Einsamkeit spielt insofern heute eine relevante Rolle. Das wird auch morgen noch so sein. Auch das Thema Altwerden mit HIV ist wichtig. Da geht es beispielsweise um Altersheime, wo die Fachkräfte für das Thema HIV sensibilisiert sind. Das sind unsere Aufgaben der Zukunft.
Unsere Arbeit ist insgesamt im Lauf der Jahre etwas leichter geworden. Und es laufen auch derzeit viele vielversprechende Forschungen. Vielleicht ist das Ziel der UNO, Aids bis 2030 zu beenden, ja tatsächlich realisierbar. Das würde nicht heißen, HIV wäre vernichtet. Aber die medizinischen Fortschritte und das Wissen könnten dafür sorgen, dass weltweit kaum noch jemand mehr Aids entwickeln und daran sterben muss. Das ist die Hoffnung, die wir haben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: rbb24 Inforadio, 01.12.2023, 07:00 Uhr