Schabowskis PK am 9. November 1989 - Die abgelesene Maueröffnung

Sa 09.11.24 | 16:09 Uhr | Von Stefan Ruwoldt
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Pressekonferenz von SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski (Foto) am 9. November 1989 in Berlin. (Quelle: rbb)
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Audio: rbb24 Radioeins | 09.11.2024 | Tobias Hausdorf | Bild: rbb Presse & Information

Die DDR plante Ende '89 neue, komplizierte Reiseregelungen. Günter Schabowski aber hatte bei der Verkündung am 9. November nur grobe Notizen zur Hand. Zum Glück, sagt der Politlinguist Steffen Pappert. Von Stefan Ruwoldt

Er war neu. Erst seit wenigen Tagen im Amt. Drei höhere Entscheider für Fachfragen sollten ihm assistieren. Vor ihnen warteten Journalisten. Vielleicht fünfzig oder mehr. Der Abend des 9. November 1989 in der Ostberliner Mohrenstraße startete mit einer Veranstaltung, wie sie heute üblich scheint. Es sollte um Entscheidungen gehen. Um Korrekturen, die aber keiner so richtig verantworten wollte. Reisemöglichkeiten würden wohl Thema sein, so viel war durchgesickert. Stellvertreter wurden vorgeschickt.

"Diese PK, das war das Gegenteil von gewöhnlich. Also für die DDR", sagt Steffen Pappert. Er ist Politlinguist und blickt genauer auf das, was gesprochen wird und wie es formuliert wird. Pappert nimmt sich die Wörter und Phrasen vor, in denen Entscheidungen daher kommen. Er ist in der DDR aufgewachsen und blickt genauer auf den Sprech der DDR-Amtsträger.

Für die DDR-Parteifunktionäre, die am Abend des 9. November 1989 in der Mohrenstraße in Berlin-Mitte im Podium saßen, waren solche Pressekonferenzen neu. Runden, wo plötzlich Fragen gestellt wurden und vor allem Nachfragen üblich waren, gehörten nicht zur Idee der sozialistischen Pressearbeit.

"Versatzstückkommunikation" sollte als Schleier dienen

"Es war erst die zweite PK, die vom Politbüro so abgehalten wurde, also die dann auch live übertragen wurde", erklärt Pappert die Situation in diesem Wendeherbst 1989. Der entscheidende Punkt sei hier, dass die DDR-Praxis der Amtsträger nicht länger funktionierte. "Denen war es eingehämmert, wie geredet wurde." Pappert nennt es "Versatzstückkommunikation" - feste Formulierungshülsen, die die Wahrheit in einen Schleier hüllten, sodass nach der Wortmeldung die eigentliche Information gar nicht mehr zu erkennen war. "Der Sprachgebrauch der Funktionäre."

In exakt diese Routine sei Schabowski verfallen, als er nach den neuen Reiseregelungen gefragt wurde. "Sprachlich und inhaltlich wurde vorgefertigt gesprochen in der DDR", erläutert Pappert. "Es wurde nicht geantwortet. Diese Funktionärssprache war gar nicht darauf ausgelegt, dass man auf etwas antwortete." Schabowski war vor dieser PK nur bruchstückhaft informiert worden, wie er später erklärte. Und er hatte offenbar auch nur bruchstückhaft informieren wollen, wie sein Notizzettel wiedergibt. "Parteilatein reichte aus", sagt Pappert über diese Art von Funktionärsantworten. Doch dann kam eine Nachfrage von einem Journalisten.

"Das steht hier so"

Entsprechend dieser erlernten Routine war es auch für Pappert nachvollziehbar, was Schabowski dann machte. Er schnappte sich seine Zettel und las vor: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.(...) Ähh, ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu West-Berlin erfolgen."

"Man muss nur mal die Ähs zählen", sagt Pappert. "Schabowski klebte an diesem Zettel." Das Dilemma des erst seit wenigen Tagen als eine Art Pressesprecher der SED-Parteiführung amtierenden Schabowski sei eben gewesen, dass Widerspruch an diesem Abend erlaubt war. Und Nachfragen. Antworten auf solche Nachfragen aber gab Schabowskis Zettel nicht her, so Pappert. Der Funktionär war verloren, weil sein Zettel die geforderten Antworten nicht hergab: "Und genau das hat er dann auch so gesagt", sagt der Historiker und verweist zum Beleg für die beschriebene Hilflosigkeit auf Schabowskis Stammeln: "Das steht hier so."

Und genau das hat er dann auch so gesagt: Das steht hier so.

Der Politlinguist Steffen Pappert über Günter Schabowskis Auftritt am 9. November 1989

Ablesen, um nicht die Verantwortung tragen zu müssen

Der Verlauf der Abend- und Nachtereignisse an der Bornholmer Straße in Ostberlin am 9. November 1989 nach genau dieser PK ist dokumentiert und unzählige Male wiederholt und berichtet. Die beiden Westsender ZDF und ARD vermeldeten - mit unterschiedlichem Formulierungsmut - die neu verfügte DDR-Reiseregelung. Und das, so Pappert, habe dann auch den Unterschied gemacht: "Der Inhalt von Schabowskis Aussagen war eigentlich kurz: Die Grenzen sind offen! Warum aber hat Schabowski eben genau das nicht gesagt?" Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs formulierte drei Stunden nach der PK: "Der Reiseverkehr Richtung Westen ist frei." Sechs Wörter. Kein einziges "Äh".

Pappert sieht in Schabowskis Zettel einen Beleg für die Feigheit der Funktionäre, die ablasen, weil sie dann die Verantwortung nicht zu tragen brauchten. Sie trugen vor, was die Partei beschlossen hatte. So sei es auch für Schabowski an diesen Abend gewesen: "Den Zettel hatte er, weil er ihn brauchte - auch um die Verantwortung abgeben zu können. Denn damit war er draußen."

Die Hintertüren des Phrasensprech der Funktionäre

Pappert erzählt von dieser Pressekonferenz nicht in akademischen Schleifen. Kein "wenn" und kein "aber" und schon gar kein "allerdings" steckt in seinen Sätzen. Er war im DDR-Wehrdienst in dieser Zeit. Er war Anfang zwanzig und durfte im November und Dezember 1989, also den Wochen nach dieser PK, nicht die Kaserne verlassen, wie er berichtet. Erst wieder im Januar. Auch diese Haltung, die er dort in den Wochen nach dem 9. November erlebt habe, dass eben an der Kaserne "die LKW für den Einsatz innerhalb der DDR bereitstanden", sieht er in diesem Kontext. Irgendwo versteckten die Funktionäre in ihrem Phrasensprech sich immer eine Hintertür.

"Verantwortung übernehmen? - Selbst für diese Reiseregelung wollte Schabowski nicht", schlussfolgert Pappert und sagt dann etwas, das ihn eher als empörten Jugendlichen in der DDR ausweist denn als Wissenschaftler. 35 Jahre nach diesem Tag. "Unerträglich", sagt er.

Sofort? - So war das nicht gedacht!

Kurz darauf ist Pappert aber wieder analytisch: "Spannend wollte Schabowski das nicht machen. Es war die pure Unsicherheit. Und ich glaube auch nicht, dass er wusste, was er da - in der Konsequenz - verkündete." Denn wie später dokumentiert wurde, aber an diesem Abend und auch in den kommenden Tagen kein Thema mehr war, sah das neue Gesetz weiter sehr viel DDR-Bürokratie vor. "Gedacht war diese Reiseregelung anders als es Schabowski sagte: All das sollte eben nicht 'sofort', also an diesem Abend starten, sondern am 10. November. Und: Es sollte eine Regelung mit Reisepässen und Anträgen auf Visa geben."

Pappert begnügt sich nicht mit seiner Analyse der Sprache und Formulierungen. Er sagt, dass zu dieser verantwortungslosen Vorlesekultur der Funktionäre auch gehört habe, Stellungnahmen aus dem Weg zu gehen. "Schabowski war weg nach der PK. Er war nicht da, um all die tausend Fragen bei solch einer komplett neuen Regelung zu beantworten."

Nach Öffnung der DDR-Grenzen zum Westen (9.11.1989). - Ostberliner passieren den Grenzübergang an der Bornholmer Straße (Wedding). (Quelle: dpa/akg-images)

Lange verschwunden und nun in Bonn

Schabowskis Zettel war lange verschollen in den Jahren nach der Wende, dann konnte das Haus der Geschichte in Bonn ihn 2015 erwerben. Der damalige Besitzer und Verkäufer wurde nicht bekannt gegeben. Schabowskis Notizen wurden dann vom Museum transkribiert. Heute kann so jeder nachlesen, was Schabowski niedergeschrieben hatte, um sich festzuhalten.

Eine Notiz auf diesem Zettel fällt ins Auge, wenn man nach dem DDR-Funktionärssprech sucht: "weisendes Konzept d. Erneuerung (Strat.)" steht da. Es ist ziemlich gut zu entziffern. "Strat." heißt natürlich "Strategie", ein Synonym für ganz große Idee. An das "weisende Konzept" von diesem Zettel wollte Schabowski bei seinem Vortrag ganz sicher noch ein "weg-" ranhängen. In der DDR war schließlich alles "wegweisend", wenn es von der Partei kam. Und zur "Erneuerung" gehörte für die Funktionäre immer das, was sie sich gerade ausgedacht hatten. Natürlich steckte außerdem hinter allem das große "Konzept".

Schabowski hatte sie dabei, die große SED-Floskellehre. Es war ihr letzter Gültigkeitstag. Am 10. November hatte sie ausgedient.

Grenzpolizei, Gräben und Graffiti

Sendung: rbb24 Radioeins, 09.11.2024, 07:10 Uhr

Beitrag von Stefan Ruwoldt

31 Kommentare

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  1. 31.

    Ich denke, es handelt sich um Wahrnehmungen aus Sicht der verschiedenen Beteiligten. Selber war ich nicht da, kenne aber persönlich Jemanden, der dort gewesen ist und nicht gänzlich unmaßgeblich war - auf Seiten der Demonstrierenden.

    Der Ausspruch "Wir fluten jetzt" könnte aber auch eine einschlägige Film-Aussage sein. ;-

    Eindeutigkeit wird aber wohl schwer zu erzielen sein, wo sich die Beteiligten der Pressekonferenz selber nicht einig sind, wer denn "die entscheidende Frage" stellte. Das hängt auch viel persönliches Prestige dran, dass auf diesen Umstand allein zu konzentrieren.

    Nach meinem Gefühl hatte aber Ehrmann die maßgeblichste Rolle gespielt, durch die Mitteilung an ANSA, wo alle anderen noch verstrickt waren im typisch-deutschen Sprachdickicht, den weder die einen noch die anderen hierzulande aufzulösen vermochten. ;-

  2. 30.

    Steht doch im Beitrag:

    >>>Ich werde nie den entsetzten und entgeisterten Blick des einen Stasimitarbeiters der Passkontrolleinheit vergessen<<<

  3. 29.

    Lieber rbb,
    Ihr habt es geschafft, in diesem nicht besonders langen Artikel den Namen "Pappert" geschlagene FÜNFZEHN! Mal zu erwähnen. Das nervt! Geht's nicht auch etwas geschmeidiger?

  4. 28.

    Sie hatte eben nicht "Hand und Fuß" und umgesetzt werden sollte sie so auch nicht. Das kommt eben davon wenn Funktionärssprech der DDR auf die Wirklichkeit und nachfragende westliche Journalisten trifft.

    Es wurde bereits erwähnt, hätte es die Nachfrage(n) nicht gegeben, wäre der entscheidende Satz nie gefallen.

  5. 26.

    Die einzige Aussage von einem Politiker die Hand und Fuß hatte und umgesetzt wurde.

  6. 25.

    Das stimmt so nicht ganz. Es gab später Berichte darüber was passiert war. Ich werde nie den entsetzten und entgeisterten Blick des einen Stasimitarbeiters der Passkontrolleinheit vergessen wie er den Menschenmassen die nach Westberlin strömten fassungslos zuguckte. Für den brach eine Welt zusammen.

    "Der Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße, Harald Jäger, ein Oberstleutnant der PKE, fragte bei seinen Vorgesetzten immer wieder nach, wie weiter zu verfahren sei, erhielt von diesen jedoch keine oder nichtssagende Anweisungen. [...]

    Von seinen Vorgesetzten alleingelassen, ließ Harald Jäger, einerseits unter dem Druck der Verhältnisse, andererseits offenbar zornig über das Verhalten der Vorgesetzten und vor dem Problem resignierend, am 9. November 1989 nach weiteren zwei Stunden um 23:29 Uhr eigenmächtig und entgegen der Befehlslage die Grenzübergangsstelle öffnen und sämtliche Passkontrollen einstellen."

  7. 24.

    Genau da bin ich damals vom Osten in den Westen und lag mir mit meinen 19 Jahren mit vollkommen fremden Leuten in den Armen. Unvergesslich!!!

  8. 23.

    Und dass es der Prenzlauer Berg am nächsten gelegene Grenzübergang Bösebrücke / Bornholmer Straße war, war m. E. auch kein Zufall. Die Orientierungslosigkeit der Grenzer, die trotz mehrerer Versuche Keinen erreichten, kulminierte dann m. W. auch belegt im Ausspruch: "Wir fluten jetzt."

  9. 22.

    "Die ersten mussten sogar Angst haben, nicht mehr zurück zu dürfen."

    Die Angst war höchst real, es gab einen Vermerk im Pass der dafür sorgen sollte.

  10. 21.

    "Schabowski hat nicht die Mauer geöffnet. Die Mauer wurde gestürmt."

    So habe ich es als Wessi in verschiedenen Dokus ebenfalls wahrgenommen. So überfordert wie Schabowski, waren es auch die Grenzer. Orientierungslos. Die Menschen an den Grenzübergängen haben mit ihrem Druck und ihrem Mut die Grenze unsinnig gemacht. Die ersten mussten sogar Angst haben, nicht mehr zurück zu dürfen.

  11. 19.

    Ich auch nicht. Ist mir unerklärlich, warum die Leute der sogenannten "Alternative" aber auch der Light-Version namens "Sarah" so unkritisch auf den Leim gehen. Ein Schlag in die Fresse derer, die z. B. am 09.10.89 in Leipzig zur Runden Ecke gezogen sind.

  12. 16.

    An diesem Abend lief im Fernsehen das DFB Pokal Spiel Stuttgart - Bayern, was Stuttgart damals sensationell gewonnen hat.
    Zwischendurch haben wir umgeschaltet zu den Nachrichten und dann war es so weit. Die Mauer wurde geöffnet.:-)

  13. 15.

    Das sofort und unverzüglich habe ich am nächsten Tag auf der A2 gesehen, als ich nach Hause fuhr. Der Stau reichte, über beide Fahrbahnen bis zurück nach Magdeburg.

  14. 14.

    Ich habe die Sendung mit Schabowski gesehen, live und in Farbe. Er hat umfassend erläutert, dass jeder DDR-Bürger in den Westen Deutschlands reisen kann, wenn er sich bei der zuständigen Meldebehörde einen entsprechenden Stempel abholt. Allerdings waren zum genau diesen Zeitpunkt alle Meldestellen bereits geschlossen, große Schlangen in der Nacht vom Sonntag zum Montag waren zu erwarten gewesen. Ein Reporter fragte: Wann tritt das in Kraft? Und Schabowski antwortete: "sofort, unverzüglich". Er meinte natürlich das bürokratische Verfahren, das einerseits die Reisefreiheit der DDR-Bürger gestatten sollte, andererseits auch die Souveränität der DDR erhalten sollte.
    Was für eine irre Idee.
    Schabowski hat nicht die Mauer geöffnet. Die Mauer wurde gestürmt.

  15. 13.

    Ich würde auch nicht mit einer Partei gemeinsame Sache machen, die die Demokratie verhöhnt und offenbar nur wegen ihrer rassistischen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Positionen gewählt wird. Sowas hatten wir schon. Brauchen wir nicht wieder.

  16. 12.

    Das "das Volk" diese Regierung nicht mehr möchte, ist genau so unseriös, wie eine Partei behauptet, sie habe mit 30 Prozent Wähleranteil einen Regierungsauftrag, obwohl sie von 70 Prozent nicht gewählt wurde.
    Ich misstraue Jeder undJedem, der für dich pauschal "das Volk" in Anspruch nimmt oder in sonstiger Art meint, für "das Volk" zu sprechen.

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