Die DDR plante Ende '89 neue, komplizierte Reiseregelungen. Günter Schabowski aber hatte bei der Verkündung am 9. November nur grobe Notizen zur Hand. Zum Glück, sagt der Politlinguist Steffen Pappert. Von Stefan Ruwoldt
Er war neu. Erst seit wenigen Tagen im Amt. Drei höhere Entscheider für Fachfragen sollten ihm assistieren. Vor ihnen warteten Journalisten. Vielleicht fünfzig oder mehr. Der Abend des 9. November 1989 in der Ostberliner Mohrenstraße startete mit einer Veranstaltung, wie sie heute üblich scheint. Es sollte um Entscheidungen gehen. Um Korrekturen, die aber keiner so richtig verantworten wollte. Reisemöglichkeiten würden wohl Thema sein, so viel war durchgesickert. Stellvertreter wurden vorgeschickt.
Glück, Höhepunkt, unfassbar, historisch - zum 35. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer erinnern Politikerinnen und Politiker an den Freudentaumel von damals. Für manche ein Ansporn, andere klingen fast schon melancholisch.
"Diese PK, das war das Gegenteil von gewöhnlich. Also für die DDR", sagt Steffen Pappert. Er ist Politlinguist und blickt genauer auf das, was gesprochen wird und wie es formuliert wird. Pappert nimmt sich die Wörter und Phrasen vor, in denen Entscheidungen daher kommen. Er ist in der DDR aufgewachsen und blickt genauer auf den Sprech der DDR-Amtsträger.
Für die DDR-Parteifunktionäre, die am Abend des 9. November 1989 in der Mohrenstraße in Berlin-Mitte im Podium saßen, waren solche Pressekonferenzen neu. Runden, wo plötzlich Fragen gestellt wurden und vor allem Nachfragen üblich waren, gehörten nicht zur Idee der sozialistischen Pressearbeit.
"Versatzstückkommunikation" sollte als Schleier dienen
"Es war erst die zweite PK, die vom Politbüro so abgehalten wurde, also die dann auch live übertragen wurde", erklärt Pappert die Situation in diesem Wendeherbst 1989. Der entscheidende Punkt sei hier, dass die DDR-Praxis der Amtsträger nicht länger funktionierte. "Denen war es eingehämmert, wie geredet wurde." Pappert nennt es "Versatzstückkommunikation" - feste Formulierungshülsen, die die Wahrheit in einen Schleier hüllten, sodass nach der Wortmeldung die eigentliche Information gar nicht mehr zu erkennen war. "Der Sprachgebrauch der Funktionäre."
In exakt diese Routine sei Schabowski verfallen, als er nach den neuen Reiseregelungen gefragt wurde. "Sprachlich und inhaltlich wurde vorgefertigt gesprochen in der DDR", erläutert Pappert. "Es wurde nicht geantwortet. Diese Funktionärssprache war gar nicht darauf ausgelegt, dass man auf etwas antwortete." Schabowski war vor dieser PK nur bruchstückhaft informiert worden, wie er später erklärte. Und er hatte offenbar auch nur bruchstückhaft informieren wollen, wie sein Notizzettel wiedergibt. "Parteilatein reichte aus", sagt Pappert über diese Art von Funktionärsantworten. Doch dann kam eine Nachfrage von einem Journalisten.
Am 9. November wird an den Mauerfall vor 35 Jahren erinnert. Ein Höhepunkt ist das Konzert der "Band für Freiheit". Tausende Musiker spielen und singen "Freiheitssongs" entlang des ehemaligen Mauerverlaufs. Es moderiert Volker Wieprecht. rbb|24 streamt live.
"Das steht hier so"
Entsprechend dieser erlernten Routine war es auch für Pappert nachvollziehbar, was Schabowski dann machte. Er schnappte sich seine Zettel und las vor: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.(...) Ähh, ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu West-Berlin erfolgen."
"Man muss nur mal die Ähs zählen", sagt Pappert. "Schabowski klebte an diesem Zettel." Das Dilemma des erst seit wenigen Tagen als eine Art Pressesprecher der SED-Parteiführung amtierenden Schabowski sei eben gewesen, dass Widerspruch an diesem Abend erlaubt war. Und Nachfragen. Antworten auf solche Nachfragen aber gab Schabowskis Zettel nicht her, so Pappert. Der Funktionär war verloren, weil sein Zettel die geforderten Antworten nicht hergab: "Und genau das hat er dann auch so gesagt", sagt der Historiker und verweist zum Beleg für die beschriebene Hilflosigkeit auf Schabowskis Stammeln: "Das steht hier so."
Ablesen, um nicht die Verantwortung tragen zu müssen
Der Verlauf der Abend- und Nachtereignisse an der Bornholmer Straße in Ostberlin am 9. November 1989 nach genau dieser PK ist dokumentiert und unzählige Male wiederholt und berichtet. Die beiden Westsender ZDF und ARD vermeldeten - mit unterschiedlichem Formulierungsmut - die neu verfügte DDR-Reiseregelung. Und das, so Pappert, habe dann auch den Unterschied gemacht: "Der Inhalt von Schabowskis Aussagen war eigentlich kurz: Die Grenzen sind offen! Warum aber hat Schabowski eben genau das nicht gesagt?" Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs formulierte drei Stunden nach der PK: "Der Reiseverkehr Richtung Westen ist frei." Sechs Wörter. Kein einziges "Äh".
Pappert sieht in Schabowskis Zettel einen Beleg für die Feigheit der Funktionäre, die ablasen, weil sie dann die Verantwortung nicht zu tragen brauchten. Sie trugen vor, was die Partei beschlossen hatte. So sei es auch für Schabowski an diesen Abend gewesen: "Den Zettel hatte er, weil er ihn brauchte - auch um die Verantwortung abgeben zu können. Denn damit war er draußen."
Ob Pfosten, Gemäuer oder Tunnel - in Berlin werden immer mal wieder Funde von Überresten der ehemaligen DDR-Grenzanlagen gemacht. Experten vermuten, dass auch in den nächsten Jahren noch weitere Reste auftauchen werden. Von Anna Bordel
Die Hintertüren des Phrasensprech der Funktionäre
Pappert erzählt von dieser Pressekonferenz nicht in akademischen Schleifen. Kein "wenn" und kein "aber" und schon gar kein "allerdings" steckt in seinen Sätzen. Er war im DDR-Wehrdienst in dieser Zeit. Er war Anfang zwanzig und durfte im November und Dezember 1989, also den Wochen nach dieser PK, nicht die Kaserne verlassen, wie er berichtet. Erst wieder im Januar. Auch diese Haltung, die er dort in den Wochen nach dem 9. November erlebt habe, dass eben an der Kaserne "die LKW für den Einsatz innerhalb der DDR bereitstanden", sieht er in diesem Kontext. Irgendwo versteckten die Funktionäre in ihrem Phrasensprech sich immer eine Hintertür.
"Verantwortung übernehmen? - Selbst für diese Reiseregelung wollte Schabowski nicht", schlussfolgert Pappert und sagt dann etwas, das ihn eher als empörten Jugendlichen in der DDR ausweist denn als Wissenschaftler. 35 Jahre nach diesem Tag. "Unerträglich", sagt er.
Wie Mauerreste im heutigen Berlin präsentiert sind, ist ganz unterschiedlich. Zu sehen sind nicht nur Gemäuer, sondern auch Türme oder Tunnel.
Sofort? - So war das nicht gedacht!
Kurz darauf ist Pappert aber wieder analytisch: "Spannend wollte Schabowski das nicht machen. Es war die pure Unsicherheit. Und ich glaube auch nicht, dass er wusste, was er da - in der Konsequenz - verkündete." Denn wie später dokumentiert wurde, aber an diesem Abend und auch in den kommenden Tagen kein Thema mehr war, sah das neue Gesetz weiter sehr viel DDR-Bürokratie vor. "Gedacht war diese Reiseregelung anders als es Schabowski sagte: All das sollte eben nicht 'sofort', also an diesem Abend starten, sondern am 10. November. Und: Es sollte eine Regelung mit Reisepässen und Anträgen auf Visa geben."
Pappert begnügt sich nicht mit seiner Analyse der Sprache und Formulierungen. Er sagt, dass zu dieser verantwortungslosen Vorlesekultur der Funktionäre auch gehört habe, Stellungnahmen aus dem Weg zu gehen. "Schabowski war weg nach der PK. Er war nicht da, um all die tausend Fragen bei solch einer komplett neuen Regelung zu beantworten."
Lange verschwunden und nun in Bonn
Schabowskis Zettel war lange verschollen in den Jahren nach der Wende, dann konnte das Haus der Geschichte in Bonn ihn 2015 erwerben. Der damalige Besitzer und Verkäufer wurde nicht bekannt gegeben. Schabowskis Notizen wurden dann vom Museum transkribiert. Heute kann so jeder nachlesen, was Schabowski niedergeschrieben hatte, um sich festzuhalten.
Eine Notiz auf diesem Zettel fällt ins Auge, wenn man nach dem DDR-Funktionärssprech sucht: "weisendes Konzept d. Erneuerung (Strat.)" steht da. Es ist ziemlich gut zu entziffern. "Strat." heißt natürlich "Strategie", ein Synonym für ganz große Idee. An das "weisende Konzept" von diesem Zettel wollte Schabowski bei seinem Vortrag ganz sicher noch ein "weg-" ranhängen. In der DDR war schließlich alles "wegweisend", wenn es von der Partei kam. Und zur "Erneuerung" gehörte für die Funktionäre immer das, was sie sich gerade ausgedacht hatten. Natürlich steckte außerdem hinter allem das große "Konzept".
Schabowski hatte sie dabei, die große SED-Floskellehre. Es war ihr letzter Gültigkeitstag. Am 10. November hatte sie ausgedient.
Grenzpolizei, Gräben und Graffiti
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14. August 1961, Ost-Berlin schottet sich ab: Soldaten mit Maschinengewehren bewachen die ersten Absperrungsmaßnahmen mit Stacheldraht. Der Bau der Mauer hat in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 begonnen, bekannt als "Operation Rose". Noch im Juni 1961 erklärte Walter Ulbricht öffentlich: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!" Die endgültige Entscheidung fiel bei einem Treffen zwischen dem sowjetischen Regierungschef Chruschtschow und Ulbricht am 3. August 1961 in Moskau. Zuvor hatte sich die sowjetische Führung lange gegen ein solches Vorhaben gesträubt.
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Wenige Wochen später behauptet die DDR-Führung nun, die Mauer diene dem Schutz vor "revanchistischen und militaristischen Kräften Westdeutschlands und West-Berlins". In Wirklichkeit richtet sich die Mauer primär gegen die eigene Bevölkerung, um deren Flucht zu verhindern und das System zu stabilisieren. Zwischen 1949 und 1961 hatten bereits rund 2,5 Millionen Menschen die DDR verlassen, viele von ihnen gut ausgebildet.
Westberliner blicken von der Bernauer Straße aus auf die eingemauerte Versöhnungskirche. Die Mauer trennt nicht nur die Stadt, sondern auch Familien und Freunde für Jahrzehnte. Knapp 44 Kilometer verlaufen entlang der Sektorengrenze zwischen West- und Ost-Berlin, insgesamt ist die Mauer 155 Kilometer lang. Das entspricht in etwa der Entfernung vom Brandenburger Tor bis Dresden.
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DDR-Propaganda am Checkpoint Charlie in Kreuzberg 1962. Mit "Hier beginnt die Freiheit" haben die Verantwortlichen die Barriere aus Stahlbeton und Stacheldraht dahinter bezeichnet. Zwischen 1961 und 1988 versuchen mehr als 100.000 DDR-Bürger über die innerdeutsche Grenze zu fliehen. Mindestens 140 davon kommen bei Fluchtversuchen an der Berliner Mauer ums Leben - die meisten von ihnen werden von DDR-Grenzsoldaten erschossen.
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US-Präsident John F. Kennedy (r.) bei seinem Besuch in Berlin am 26.06.1963 auf einer Aussichtsplattform an der Berliner Mauer und dem Brandenburger Tor. Da hat er noch wenige Monate zu leben. Hinter Kennedy steht der Regierende Bürgermeister Willy Brandt. Die USA reagieren zunächst sehr zurückhaltend auf den Mauerbau. Für Kennedy bleiben drei Grundpfeiler der US-Politik zu Deutschland unberührt: Der freie Zugang nach Berlin, die Anwesenheit der Westmächte in der Stadt und die Freiheit der West-Berliner Bevölkerung. Er will nichts riskieren.
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Kennedys berühmter Besuch in Berlin 1963 mit seiner "Ich bin ein Berliner"-Rede wird zu einem wichtigen symbolischen Akt der Solidarität - auch wenn er die Realität der Mauer und der Menschen auf beiden Seiten nicht ändert. Hier nutzen Ostberliner Kinder unmittelbar hinter dem Grenzzaun an der Schwedter Straße, Ecke Kopenhagener die offene Straßendecke als Buddelplatz.
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Eine Frau wird am 05.10.1964 in Berlin aus einem Ausstiegsschacht nach oben gezogen. Dieser Schacht ist Teil eines Fluchttunnels. Insgesamt fliehen 57 Menschen durch ihn nach West-Berlin - bis er entdeckt wird. Fluchthelfer holen Tausende DDR-Flüchtlinge in die Bundesrepublik. Einer von ihnen ist der Medizinstudent Burkhart Veigel. "Ich habe mich aber von Mensch zu Mensch zuständig gefühlt. Was die Politik macht, hat mich eigentlich wenig interessiert", erinnert sich Veigel im Gespräch mit rbb|24.
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Eine Gruppe Kinder tummelt sich im März 1972 an und auf der Mauer am Legiendamm im Westberliner Stadtteil Kreuzberg. Auf der Mauer sind mit weißer Farbe die Worte "Einigkeit und Freiheit für Berlin" aufgemalt. Doch zu dieser Zeit ist eine deutsche Wiedervereinigung sehr unwahrscheinlich geworden. Die innerdeutschen Beziehungen haben sich normalisiert, was auch am neuen Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR liegt.
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Der Vertrag sieht "normale gutnachbarliche Beziehungen" vor. Für die Bundesrepublik bleibt die Wiedervereinigung ein Auftrag des Grundgesetzes - auch wenn sich bis auf Weiteres niemand die Finger daran verbrennen will. Die DDR versucht, den westdeutschen Standpunkt einer fortbestehenden deutschen Nation zurückzuweisen. Eine Wiedervereinigung wird von der Staatsführung nur für den Fall in Aussicht gestellt, dass sich der Sozialismus in der Bundesrepublik durchsetzen würde - was höchst unwahrscheinlich ist. Hier der Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße in Mitte Anfang der 1970er Jahre zu sehen.
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Ein Bild wie eine dystopische Fototapete: Eine Berlinerin macht am 1. Januar 1976 einen Neujahrsspaziergang mit ihrem Hund auf der Rudower Höhe (heute: Dörferblick). Links kann man die Mauer und den Todesstreifen erkennen.
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Eine Schrebergartenlaube in Berlin-West direkt an der Mauer, aufgenommen 1982. Die lange Dauer der Teilung führt mit der Zeit zu einer gewissen Akzeptanz des Status quo: Die Erinnerungen an ein geeintes Deutschland verblassen zunehmend.
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Sowohl die Welt als auch viele Deutsche selbst gewöhnen sich an den Zustand der deutschen Teilung. Dieser Kreuzberger pflegt seine Balkonblumen mit Ausblick auf den Todesstreifen am Bethaniendamm. Es wirkt, als würde er die Mauer gar nicht mehr bewusst wahrnehmen - für ihn und die anderen Berliner ist sie Alltag.
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Was Einheimischen wohl nicht mehr groß auffällt, ist für viele Touristen ein absurder Anblick: Das Brandenburger Tor (hier im Jahr 1984) liegt mitten in der Stadt - aber auch mitten im Grenzstreifen und ist darum für keinen zugänglich. Zu Beginn des Jahrzehnts sieht es noch immer aus, als würde sich daran nichts ändern. Doch langsam kommt etwas ins Rutschen.
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Die Erfolge der unabhängigen polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność, der neue sowjetische KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow und seine Reformen von Perestroika und Glasnost - das alles erhöht den Druck auf die DDR-Führung. Hier feiern junge Ost-Berliner bei einem privat organisierten Punkkonzert am 18. Mai 1985 im Hirschhof in der Oderberger Straße.
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Zugleich geht die Zahl der erfolgreichen Fluchtversuche deutlich zurück, auch deshalb, weil das Regime die Grenzsicherung verstärkt hat. Drei Beispiele von jungen Menschen, die es nicht geschafft haben: Marienetta Jirkowsky ist 18 Jahre alt, als sie 1980 bei einem Fluchtversuch an der Mauer bei Frohnau von DDR-Grenzern angeschossen wird. Sie stirbt am nächsten Tag. Ihre Familie darf keine Todesanzeige veröffentlichen. Silvio Proksch (21 Jahre) wird 1983 in Pankow von Grenzsoldaten angeschossen und verblutet, weil er keine medizinische Hilfe bekommt. Michael Schmidt (20 Jahre) stirbt 1984 nahe des S-Bahnhofs Wollankstraße, als ihn ein Soldat beim Versuch erschießt, mit einer Leiter über die Mauer zu klettern.
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Unzählige Fans versammeln sich zu einem Konzert des britischen Rockmusikers David Bowie am 06. Juni 1987 vor dem Reichstagsgebäude in West-Berlin. Obwohl die Bühne nach Westen ausgerichtet war, überquert die Musik die Mauer und erreicht die Ostseite, wo sich etwa 5.000 junge Menschen versammelt haben, um zuzuhören. Bowie, der zwei Jahre in Berlin gelebt hat, richtet bewusst eine Botschaft an sie: "Wir schicken unsere besten Wünsche zu all unseren Freunden, die auf der anderen Seite der Mauer sind." Diese Geste der Solidarität hat eine starke symbolische Bedeutung - und löst letztlich eine Gruppendynamik unter ostdeutschen Jugendlichen aus, die als "Pfingstunruhen von 1987" in die DDR-Geschichte eingehen wird.
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Die Aussichtstürme sind für viele im Westen nicht nur eine gute Möglichkeit, einen Blick in die "Zone" zu wagen: Weil die Ostler nicht rüber können, und manche Westler nicht in den Osten reisen können oder dürfen, winken sie sich hier zu. Aussichtsplattform mit Besuchern am Potsdamer Platz in West-Berlin. Links stehen Grenzbeamte hinter Absperrgittern. Aufnahme vom 1988.
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Nein, das sind keine "Stormtrooper" bei Krieg der Sterne - sondern mit Gasmasken und Kamera ausgerüstete DDR-Grenzsoldaten. Sie gucken am 21.06.1988 über die Mauer am Potsdamer Platz. Da bleiben ihr nur noch knapp eineinhalb Jahre, aber das ahnt damals keiner. Was überdeutlich ist: Die wirtschaftliche und politische Situation in der DDR verschlechtert sich zunehmend. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, so wie die Zahl der Ausreiseanträge und Fluchtversuche.
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Gorbatschows Reformen erhöhen den Druck auf die DDR-Führung, ebenfalls Veränderungen anzustoßen. Das ermutigt die Opposition und nährt Hoffnungen. Auch in Westdeutschland und international wächst die Erwartung, dass sich auch in der DDR etwas bewegen könnte. Hier machen zwei West-Berliner Amateurfotografen im Morgengrauen Schnappschüsse von einer Aussichtsplattform.
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DDR-Grenzpolizisten am Brandenburger Tor. Die Aufschrift zu ihren Füßen: "Erich gib doch endlich auf". Wahrend aber die Bürger Hoffnung durch die Veränderungen in der Sowjetunion schöpfen, reagiert das SED-Politbüro mit strikter Abgrenzung von Gorbatschow und beharrt auf dem Status Quo - was die Entfremdung zur Bevölkerung verstärkt. Am 4. September 1989 findet in Leipzig die erste offizielle Montagsdemonstration statt. Teilnehmer entrollen Transparente mit Forderungen wie "Für ein offenes Land mit freien Menschen" und "Reisefreiheit statt Massenflucht". Dann geht alles schnell, so schnell.
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Am Vormittag des 9. November überarbeitet die DDR-Führung unter dem Druck der Demonstrationen den Entwurf eines neuen Reisegesetzes. Um kurz vor 19 Uhr verkündet das Politbüromitglied Günter Schabowski überraschend, dass DDR-Bürger "ohne Vorliegen von Voraussetzungen" und "sofort, unverzüglich" ausreisen dürften. Gegen 20:30 Uhr treffen die ersten Ost-Berliner an den Grenzübergängen Sonnenallee, Invalidenstraße und wie hier Bornholmer Straße ein, um zu sehen, was los ist - und die Öffnung der Grenze zu fordern. Ohne eindeutigen Befehl öffnen die DDR-Grenzsoldaten tatsächlich mehrere Übergänge.
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Allmählich wird klar: Nach 28 Jahren ist die Teilung der Stadt Geschichte. Es wird eine Nacht, die niemand vergessen wird. Berliner aus beiden Teilen der Stadt stürmen die Mauer am Brandenburger Tor, umarmen sich, feiern gemeinsam. Millionen sitzen vor den Fernsehern und können nicht fassen, was sie da sehen.
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Der Platz hallt vom Klopfen der "Mauerspechte" wider, die mit Hämmern und Meißeln Teile der Mauer auf der Westseite bearbeiten. Um 0:20 Uhr werden etwa 30.000 Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) in "erhöhte Gefechtsbereitschaft" versetzt. Weil aber keine weiteren Befehle folgen, stellen die Kommandeure der Grenzregimenter diese Maßnahmen auf eigene Verantwortung ein. Von den Grenzübergängen strömen die Menschen zum Kurfürstendamm, der bis zum frühen Morgen in eine Partymeile verwandelt wird.
In den nächsten Stunden und Tagen verstopfen Tausende Trabis die Straßen - wie der dieser Familie am Grenzübergang Bornholmer Straße, am 10. November. Wie diese Frau werden viele Menschen von ihren Gefühlen übermannt.
Bild: akg-images / Kai-Olaf Hesse
Am Nachmittag des 10. November gibt der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse eine bedeutsame Erklärung: Er betont, dass die Sowjetunion die Ereignisse in der DDR als eine interne Angelegenheit der neuen Führung und des Volkes betrachte und ihnen dabei vollen Erfolg wünsche. Am Potsdamer Platz begrüßen sich am gleichen Tag wildfremde Menschen.
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Die euphorische Stimmung setzt sich in den folgenden Tagen fort, vor Banken in West-Berlin bilden sich lange Schlangen von DDR-Bürgern, die ihr Begrüßungsgeld abholen wollen. Tausende Menschen aus Ost und West strömen weiterhin über die offenen Grenzübergänge, wie hier an der Puschkinallee zwischen Kreuzberg und Treptow. Da sind bereits jede Menge Betonsegmente aus der Mauer herausgetrennt.
Bild: picture-alliance / dpa | Lehtikuva Oy
An das Danach denkt in diesen Tagen des Glücks kaum jemand. Viele machen sich keine Vorstellungen, was nun aus ihrem untergehenden Land wird - und wie ihre Zukunft aussehen soll, wenn sie vollkommen frei darüber entscheiden können. Die für viele ehemalige DDR-Bürger brutalen Verwerfungen und Verletzungen der Nachwendejahre wirken im Rückblick zu diesem Zeitpunkt unendlich weit entfernt - und sind es doch nur wenige Jahre.
Bild: IMAGO / imagebroker
Die DDR-Regierung erkennt schnell das wirtschaftliche Potenzial der Mauerteile: Im Dezember 1989 übernimmt "Limex", eine Firma des DDR-Außenhandelsministeriums, offiziell den Verkauf der Mauerreste. Bemalte Teile werden bei Auktionen versteigert, sie finden Käufer in der ganzen Welt. Im Sommer 1990 ist die einstige hochbewachte Mauer nur noch eine Ruine: Menschen spazieren auf Höhe der Heidelberger Straße im einstigen Todesstreifen. Bis Ende November 1990 werden allein in Berlin 184 Kilometer Mauer, 154 Kilometer Grenzzaun, 144 Kilometer Signalanlagen und 87 Kilometer Sperrgräben entfernt.
Bild: picture alliance/Eventpress Hohlfeld
Noch die kleinsten Bröckchen werden zu Souvenirs verarbeitet - wie hier auf Postkarten vor einem Souvenirladen am Pariser Platz. Echtheitszertifikat? Eher unwahrscheinlich.
Der Großteil der Mauer aber wird zu Bauschutt. Nach Schätzungen der Grenztruppenführung fallen rund 1,7 Millionen Tonnen davon an. Viele dieser Teile werden vermutlich im Straßenbau wiederverwendet. In der Bernauer Straße ist ein Stück Mauer 1998 für eine Gedenkstätte erhalten geblieben. Die meisten Touristen aber zieht es heute dazu an das nicht wiederzuerkennende, schicke (manche sagen auch neureiche) Spreeufer: Die 1,3 Kilometer hier heißen nun "East Side Gallery". Von Profis bunt bemalt, "instagramable" - wenig erinnert heute noch an den Schrecken und das Leid, das diese Schlange grauen Stahlbetons in Berlin verursacht hat. Von Sebastian Schneider, Julia Sie-Yong Fischer und Caroline Winkler | Mehr zur Berliner Mauer | 35 Jahre Mauerfall | Weitere Bildergalerien
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Ich denke, es handelt sich um Wahrnehmungen aus Sicht der verschiedenen Beteiligten. Selber war ich nicht da, kenne aber persönlich Jemanden, der dort gewesen ist und nicht gänzlich unmaßgeblich war - auf Seiten der Demonstrierenden.
Der Ausspruch "Wir fluten jetzt" könnte aber auch eine einschlägige Film-Aussage sein. ;-
Eindeutigkeit wird aber wohl schwer zu erzielen sein, wo sich die Beteiligten der Pressekonferenz selber nicht einig sind, wer denn "die entscheidende Frage" stellte. Das hängt auch viel persönliches Prestige dran, dass auf diesen Umstand allein zu konzentrieren.
Nach meinem Gefühl hatte aber Ehrmann die maßgeblichste Rolle gespielt, durch die Mitteilung an ANSA, wo alle anderen noch verstrickt waren im typisch-deutschen Sprachdickicht, den weder die einen noch die anderen hierzulande aufzulösen vermochten. ;-
>>>Ich werde nie den entsetzten und entgeisterten Blick des einen Stasimitarbeiters der Passkontrolleinheit vergessen<<<
29.
Lieber rbb,
Ihr habt es geschafft, in diesem nicht besonders langen Artikel den Namen "Pappert" geschlagene FÜNFZEHN! Mal zu erwähnen. Das nervt! Geht's nicht auch etwas geschmeidiger?
Sie hatte eben nicht "Hand und Fuß" und umgesetzt werden sollte sie so auch nicht. Das kommt eben davon wenn Funktionärssprech der DDR auf die Wirklichkeit und nachfragende westliche Journalisten trifft.
Es wurde bereits erwähnt, hätte es die Nachfrage(n) nicht gegeben, wäre der entscheidende Satz nie gefallen.
Das stimmt so nicht ganz. Es gab später Berichte darüber was passiert war. Ich werde nie den entsetzten und entgeisterten Blick des einen Stasimitarbeiters der Passkontrolleinheit vergessen wie er den Menschenmassen die nach Westberlin strömten fassungslos zuguckte. Für den brach eine Welt zusammen.
"Der Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße, Harald Jäger, ein Oberstleutnant der PKE, fragte bei seinen Vorgesetzten immer wieder nach, wie weiter zu verfahren sei, erhielt von diesen jedoch keine oder nichtssagende Anweisungen. [...]
Von seinen Vorgesetzten alleingelassen, ließ Harald Jäger, einerseits unter dem Druck der Verhältnisse, andererseits offenbar zornig über das Verhalten der Vorgesetzten und vor dem Problem resignierend, am 9. November 1989 nach weiteren zwei Stunden um 23:29 Uhr eigenmächtig und entgegen der Befehlslage die Grenzübergangsstelle öffnen und sämtliche Passkontrollen einstellen."
Und dass es der Prenzlauer Berg am nächsten gelegene Grenzübergang Bösebrücke / Bornholmer Straße war, war m. E. auch kein Zufall. Die Orientierungslosigkeit der Grenzer, die trotz mehrerer Versuche Keinen erreichten, kulminierte dann m. W. auch belegt im Ausspruch: "Wir fluten jetzt."
"Schabowski hat nicht die Mauer geöffnet. Die Mauer wurde gestürmt."
So habe ich es als Wessi in verschiedenen Dokus ebenfalls wahrgenommen. So überfordert wie Schabowski, waren es auch die Grenzer. Orientierungslos. Die Menschen an den Grenzübergängen haben mit ihrem Druck und ihrem Mut die Grenze unsinnig gemacht. Die ersten mussten sogar Angst haben, nicht mehr zurück zu dürfen.
Ich auch nicht. Ist mir unerklärlich, warum die Leute der sogenannten "Alternative" aber auch der Light-Version namens "Sarah" so unkritisch auf den Leim gehen. Ein Schlag in die Fresse derer, die z. B. am 09.10.89 in Leipzig zur Runden Ecke gezogen sind.
An diesem Abend lief im Fernsehen das DFB Pokal Spiel Stuttgart - Bayern, was Stuttgart damals sensationell gewonnen hat.
Zwischendurch haben wir umgeschaltet zu den Nachrichten und dann war es so weit. Die Mauer wurde geöffnet.:-)
Das sofort und unverzüglich habe ich am nächsten Tag auf der A2 gesehen, als ich nach Hause fuhr. Der Stau reichte, über beide Fahrbahnen bis zurück nach Magdeburg.
14.
Ich habe die Sendung mit Schabowski gesehen, live und in Farbe. Er hat umfassend erläutert, dass jeder DDR-Bürger in den Westen Deutschlands reisen kann, wenn er sich bei der zuständigen Meldebehörde einen entsprechenden Stempel abholt. Allerdings waren zum genau diesen Zeitpunkt alle Meldestellen bereits geschlossen, große Schlangen in der Nacht vom Sonntag zum Montag waren zu erwarten gewesen. Ein Reporter fragte: Wann tritt das in Kraft? Und Schabowski antwortete: "sofort, unverzüglich". Er meinte natürlich das bürokratische Verfahren, das einerseits die Reisefreiheit der DDR-Bürger gestatten sollte, andererseits auch die Souveränität der DDR erhalten sollte.
Was für eine irre Idee.
Schabowski hat nicht die Mauer geöffnet. Die Mauer wurde gestürmt.
Ich würde auch nicht mit einer Partei gemeinsame Sache machen, die die Demokratie verhöhnt und offenbar nur wegen ihrer rassistischen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Positionen gewählt wird. Sowas hatten wir schon. Brauchen wir nicht wieder.
Das "das Volk" diese Regierung nicht mehr möchte, ist genau so unseriös, wie eine Partei behauptet, sie habe mit 30 Prozent Wähleranteil einen Regierungsauftrag, obwohl sie von 70 Prozent nicht gewählt wurde.
Ich misstraue Jeder undJedem, der für dich pauschal "das Volk" in Anspruch nimmt oder in sonstiger Art meint, für "das Volk" zu sprechen.