Sozialpädagogin in Berlin-Wedding - "Unsere Jugendlichen fühlen sich nicht gesehen, nicht akzeptiert und nicht gehört"

Mi 03.07.24 | 07:28 Uhr
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Symbolbild: Jugendliche langweilen sich auf einer Parkbank vor der Tauben Nahrung suchen. (Quelle: IMAGO/Christoph Hardt)
Audio: rbb|24 | 02.07.2024 | O-Ton aus dem Gespräch mit Juli Alegra | Bild: IMAGO/Christoph Hardt

Eine aktuelle Sozialstudie belegt, wie machtlos und unbeachtet sich viele Jugendliche in Deutschland fühlen. Wie sehr, hängt auch vom Sozialstatus der Familien ab. Eine Sozialpädagogin aus dem Berliner Wedding erzählt im Interview aus ihrer Realität.

rbb|24: Frau Alegra, Sie sind Sozialpädagogin in einem Jugendclub im Wedding. Welche Jugendlichen kommen zu Ihnen?

Juli Alegra: Vor allen Dingen Jugendliche, die im Umkreis wohnen. Der Kiez ist mit hoher Arbeitslosigkeit belastet. Somit sind die Kinder häufig auch von Armut bedroht oder betroffen. Der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist sehr hoch bei uns.

Zur Person

Juli Alegra

ist Sozialpädagogin und Projektverantwortliche in einem Jugendclub im Berliner Ortsteil Wedding. In den Club können Jugendliche ab zwölf Jahren kommen. Ihnen stehen unterschiedliche offene und halboffene Angebote zur Verfügung.

Es heißt ja oft, es gehe den Kindern und Jugendlichen seit Corona nicht gut. In welcher Verfassung sind die Jugendlichen, die zu Ihnen kommen?

Dass es den Jugendlichen schlecht geht, ist milde untertrieben. Vielen geht es katastrophal. Das kommt jetzt erst so langsam raus. Während der Coronazeit sind sie vereinsamt und haben den Anschluss verloren. Das versuchen für mein Gefühl einige durch den Konsum von Suchtmitteln zu kompensieren. Entsetzlich hoch ist der Anteil der Jugendlichen, die vapen. Ich kannte das gar nicht und musste mir von Zwölfjährigen erklären lassen, dass das ok sei. Wie kann das sein, dass das Zeug wie Mango-Saft schmeckt?

Viele von unseren Jugendlichen kämpfen außerdem mit Depressionen, Perspektivlosigkeit und Zukunftsängsten.

Was sind die Hauptthemen, die Ihre Jugendlichen beschäftigen?

Tatsächlich die Armut. Sie wollen da raus. Am liebsten wollen die meisten mit schnellem Rap-Business oder auch krummen Geschäften das dicke Geld machen und der Mama eine bessere Zukunft bieten.

Passieren diesen Jugendlichen in der Welt und in ihren Familien gefühlt mehr gute oder schlechte Dinge?

Gefühlt passiert ihnen fast ausschließlich Schlechtes. Mindestens 70 Prozent unserer Jugendlichen fühlen sich regelmäßig ungerecht behandelt. Ihrer Meinung nach läuft da was ganz doll schief. Sie haben ja auch mitbekommen, dass bis vor Kurzem ganz Wedding davon bedroht war, dass die Jugendclubs geschlossen werden sollten. Da geht es um das zweite Zuhause dieser Kids. Da haben sie sich überhaupt nicht gesehen und gehört gefühlt. Positiverweise wurden die Schließungen im letzten Moment noch abgewendet – jetzt stehen aber fürs nächste Jahr Kürzungen an. So haben die Jugendlichen zwar einen Teilerfolg erlebt, aber letzten Endes auch das Gefühl, dass es sich um das Kämpfen gegen Windmühlen handelt.

Sozialstudie - Wie gerecht ist Deutschland?

Wie gerecht empfinden Kinder und Jugendliche ihr Leben in Deutschland? Mit dieser Frage hat sich eine aktuelle Sozialstudie, die im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung von der Universität Bielefeld durchgeführt wurde, beschäftigt [abchealthcaregmbh.sharepoint.com]. Für die repräsentative Studie wurden Kinder und Jugendliche und deren Eltern befragt. Das Ergebnis: Generell beurteilen Kinder Deutschland als gerechter als die gesamte Welt, sie fühlen sich aber auch politisch machtlos und unbeachtet. Die Studie offenbart zudem große Unterschiede, wie Kinder aus unterschiedlichen sozialen Umfeldern die Gerechtigkeit in Deutschland empfinden.

Es gibt eine neue Studie, die aussagt, dass sich viele Jugendliche am Thema Gerechtigkeit abarbeiten. In welcher Hinsicht fühlen sich Ihrer Erfahrung nach Jugendliche ungerecht behandelt?

Unsere Jugendlichen fühlen sich von der Gesellschaft nicht gesehen, nicht akzeptiert und nicht gehört. Sie fragen sich beispielsweise, warum ohnehin schon reiche Menschen immer mehr verdienen dürfen, sie selbst aber nicht ein wenig Geld hinzuverdienen dürfen, ohne dass es ihren Eltern von den Bezügen gekürzt wird.

Einige unserer Jugendlichen haben einen muslimischen Hintergrund und sind sehr von der derzeitigen Palästina-Situation betroffen. Ganz viele haben es auch als sehr ungerecht empfunden, als der Ukraine-Krieg begonnen hat, dass die hierher Geflüchteten gleich arbeiten gehen durften und sie Bezüge bekamen. Sie fühlen sich davon wenig wertgeschätzt, weil sie ja teilweise sogar in Deutschland geboren sind und für sie und ihre Familien teils nicht dasselbe gilt.

Interessieren sich die Jugendlichen auch für andere marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderung oder Obdachlose und die Ungerechtigkeiten, mit denen diese kämpfen?

Sie interessieren sich vor allem für das, was in ihrem Kiez vorkommt. Ein Beispiel: direkt am Jugendclub gibt es einen großen Spielplatz. Dort spielt regelmäßig ein autistisches Kind. Für dieses Kind fühlen sich sämtliche Kinder und Jugendliche verantwortlich. Sobald es in die Nähe einer Tür gerät und die Gefahr entsteht, dass es auf die Straße geraten könnte, sind sie kollektiv im Einsatz. Was ich damit sagen will: Intern ist der Zusammenhalt sehr groß.

Unsere Jugendlichen regen sich beispielsweise über die woken "Regenbogen-Themen" eher auf. Sie finden, dass der Fokus viel zu stark darauf liegt, während sie mit ihren ganzen Themen total unwichtig sind.

Sie versuchen, sich auf ihren Wegen Geld zu verschaffen. Einige verkaufen inzwischen legale und illegale Substanzen. Andere erleichtern Dritte um ihr Geld

Juli Alegra, Sozialpädagogin

Gibt es denn etwas, das die Jugendlichen unternehmen, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen?

Sie versuchen, sich auf ihren Wegen Geld zu verschaffen. Einige verkaufen inzwischen legale und illegale Substanzen. Andere erleichtern Dritte um ihr Geld. Ich bekomme auch mit, dass viele Jugendliche Überfälle auf Spätis machen. Da sind sie der Meinung, dass die gegen solche Verluste versichert sind. Außerdem haben sie ihrer Meinung nach oft "unkorrekte Preise". Eine interessante moralische Vorstellung zeigt auch die Argumentation, dass so ein Überfall durchaus gerechtfertigt sei, wenn ein Späti Zigaretten an Minderjährige verkaufe.

Es ist auch relativ gang und gäbe, dass Jugendliche aus ärmeren Bezirken in Gruppen in Bezirke gehen, wo sie mehr Geld vermuten, und dort die nach Geld aussehenden Jugendlichen abziehen. Sie gehen dann davon aus, dass denen von ihren Eltern dann ein neues Handy gekauft wird.

Haben die Jugendlichen den Eindruck, politisch einwirken zu können? Haben sie beispielsweise gewählt bei der Europawahl?

Die Jugendlichen haben sich gefragt, was sie bei der Europawahl sollen. Sie gingen erstmal davon aus, keine Stimme zu haben und nicht wählen zu dürfen. Wir haben das dann im Jugendclub thematisiert, aber viele fanden trotzdem, dass sie sowieso nichts bewirken würden.

Aber vereinzelt gibt es doch immer wieder Jugendliche, die versuchen sich zu engagieren. Da gibt es immer wieder Lichtmomente. Und die haben dann auch oft eine Vorbildfunktion.

Was müsste für die Jugendlichen, die Sie betreuen, passieren, damit sich etwas bessert?

Wenn mal mehr hinter die Fassaden geschaut würde und nicht immer von oben auf sie herab. Man muss das in der Realität mal sehen: Das Bürgergeld ist nicht wenig Geld an sich. Aber es ist zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben.

Weil sie von ihren Eltern oft sehr wenig mitbekommen, müssten Jugendliche wie unsere meiner Meinung nach schon viel früher im Bildungssystem aufgefangen werden. Gerade in der Schule fühlen sich die Jugendlichen oft über den Tisch gezogen und ungerecht behandelt. Sie berichten oft, dass Lehrer ihre Machtpositionen fies ausüben und sie stereotyp behandeln.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess.

Sendung: rbb24 Inforadio, 02.07.2024, 14 Uhr

48 Kommentare

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  1. 48.

    Sie machen richtig Mut, Rosa. Wo gedenken Sie die denn alle unterzubringen?

  2. 47.

    Herzlichen Dank, dass Sie auf dieses Thema verweisen. Selten so einen weitsichtigen, klugen Kommentar gelesen.
    Alle jammern rum und hetzen wegen "illegaler" Migration, aber verdrängen, dass es wegen Land unter Wasser und Hungersnöten wegen Ausbreitung von Wüstengebieten Flüchtlingsströme mir Hunderten Millionen Menschen gibt/geben wird.

  3. 46.

    Oh mein Gott! Hier geht es um Kinder - um Kinder und Jgendliche und die meisten hier schwafeln Geiz und Neid gesteuert von Faulheit und Bürgergeld!
    Die Studien beweisen imo, dass es in DE nach wie vor keine Chancengleichheit gibt. Kinder und Jugendliche der Unterschicht haben nie, absolut nie die Möglichkeit auf ne einkunftsreiche Karriere, es sei denn ... Kein Wunder, dasss sie sich nicht beachtet fühlen.
    Und bezüglich "keine Lust auf Arbeit": Wie sieht es denn bei den Millionärs-/Milliardärserben aus?

  4. 45.

    Ehrlich gesagt, diese Macht die wir Erwachsenen über Kinder und Jugendliche ausüben ist gruselig. Kinder haben zwar irgendwie Rechte aber irgendwie noch mehr Pflichten. Kinder und Jugendliche werden zu wenig in Entscheidungsprozesse mit einbezogen. Ihre Meinung zählt so gut wie gar nicht. Wir Erwachsene bestimmen wo es lang geht. Kinder und Jugendliche müssen diese Kröte schlucken. Getreu nach dem Motto: Deal with it, komm damit klar. Nur noch zum Kopfschütteln.



  5. 44.

    Also ich hacke nicht auf ,,den jugendlichen'' rum! Was haben denn diese für eine tolle Zukunft zu erwarten? Es wird massive
    Klimakatastrophen geben, was in vielen Ländern die Armut erhöht und damit Flüchtlingsströme in der ganzen Welt auslöst. Es ist unverzeihlich, wie die CDU/CSU+FDP Jahrzehnte, trotz Warnungen, Nichts gegen die Klimaveränderung getan haben - verpennt. Und nun sehen unsere Kinder schwarz!

  6. 42.

    Lohnunterschiede sind logisch in einem freien Belohnungssystem. Niedrige Löhne wird es immer geben, „damit die Leute noch zum Friseur gehen“. Hohe Löhne auch. Weil Bildungsanstrengungen zurückverdient werden müssen. So ist die Regel und nicht die Ausnahme (über die gesondert geredet werden muss wenn es besser passt). (Bildungs)Anstrengungen lohnen doch!

  7. 41.

    Der Trend geht aber genau umgekehrt : Weniger anstrengen, mehr bekommen und nichts abgeben. Besonders die zukünftigen Bewahrer dieses Landes stehen doch für diese Art der Lebensgestaltung.

  8. 40.

    "Gleiche Steuerlast" Wenn die Niedrigverdiener die gleiche Steuerlast, wie die Gutverdiener hätten, dann wäre gar nichts mehr übrig zum Leben bei Niedrigverdienern. Ihr Vorschlag ist mehr als unsozial. Es braucht im Gegenteil ein deutlich abgesenkte Steuerlast im Niedriglohnbereich, damit sich das Arbeiten spürbar lohnt.

  9. 39.

    Ich kann Ihrem Kommentar vollkommen zustimmen, in meiner Jugend war es genauso.
    Nur, ich kann es so nicht schreiben, weil ich in der DDR groß geworden bin.

  10. 38.

    Meine Eltern hatten mich damals mehr oder weniger dezent aus der Wohnung herausgebeten, aber sie wussten auch, dass ich eine eigene finde, wenn ich arbeiten gehe.
    Waschmaschine, Fernseher, Möbel und Klamotten hatte ich mir dann von den ersten Löhnen abgespart.
    Auch aus armem Hause, konnte man auf eigenen Beinen stehen. Das ist ja heute für die Unterschicht teilweise llusorisch.

  11. 37.

    Es gäbe so viele tolle Ideen:
    Wohnungen für Auszubildende bei bestandener Prüfung.
    Sondervermögen Jugend.
    Dies würde die Jugend bestimmt gern später abzählen, wenn dadurch ihre Chancen höher wären.
    Stattdessen begünstigt die Politik ganz andere Leute.
    Da kennen dann die Milliarden keine Grenzen.

  12. 36.

    Wenn ich mir so meine Jugend "ansehe"; es gab Jugendfreizeitheime, staatl. und kirchliche, mit den unterschiedlichsten Angeboten. Irgendwo war immer was los und für jeden war was bei. Sportvereine hatten für kleines Geld Jugendangebote - vom Fußball über Leichtathletik bis zum Kanufahren. Schwimmen lernte man spätenstens in der Schule - und musste nicht "Eierkäses Stadtrundfahrt" machen um ein funktionierendes Bad zu finden. Wo ist das alles geblieben? In der Schule gab es eine klare Kante, kein Kuschelkurs, es wurde Tacheless gesprochen und niemand hat danach zum Stuhlkreis gebeten. Nicht jeder hatte betuchte Eltern und wenn die Kohle knapp war hab' ich halt Zeitungen ausgetragen, Hunde gassi geführt, dem Opa von nebenan im Garten geholfen u.v.m. Geschadet hat es jedenfall nicht - eher im Gegenteil - geholfen; nicht nur monetär. Sicher war "damals" nicht alles "feine Sahne" - aber die verniedlichte Darstellung der Sozialpädagogin finde ich doch ziemlich befremdlich.

  13. 35.

    Es steht doch indirekt im Text: Ein Teil der Eltern darf in Deutschland nicht arbeiten. (anders als eben die gerade erst aus der Ukraine geflüchteten - was natürlich als ungerecht empfunden wird, denn das ist es ja auch)
    Und manche Eltern arbeiten, bekommen aber so wenig Lohn, dass sie zusätzlich Bürgergeld beziehen müssen.
    Diesen Kindern wird oft in der Schule erzählt, dass aus ihnen sowieso nichts wird - da ist es schwer, eine gute Perspektive zu finden.

  14. 34.

    Wir müssen uns alle anstrengen. Mehr anstrengen um mehr abzugeben. Können wir nicht eine prozentuale Jugend-Migrationshilfe vom Lohn einführen? Natürlich an deren Eltern ausgezahlt, wegen des Wirtschaftens.

  15. 33.

    Sorry, aber was finden Sie an diesem Kommentar zynisch?
    Es werden Arbeitskräfte an allen Ecken und Enden gesucht, da ist sicher auch für den einen oder anderen Elternteil der Kids was dabei. Wäre einerseits sinnvoll, sich dort zu bemühen und sein eigenes Geld zu verdienen und gleichzeitig den Kids ein gutes Vorbild sein zu können.
    Auf die Logik, zu klauen oder andere abzuziehen, um seiner Mama was bieten zu können, muss man erstmal kommen.

  16. 32.

    Aber dann nicht meckern wenn ich als 75 jähriger noch LKW fahre.

  17. 31.

    Bitte setzen Sie einmal kurz eine andersfarbene Brille auf und machen sich die Mühe zu recherchieren, wie es seit 1984 hier tatsächlich aussieht.

    Via Erwerbsarbeit kommen die meisten Berufe immer weniger zurecht. Gerade die, die niemals Aktien erwerben könnten geschweige denn in "private Altenvorsorge" einzahlen.

  18. 30.

    Mein Vorschlag, alle Vermögen über 5 Millionen € werden mit einer progressiven Armutssteuer belegt. Das ist demokratisch und gerecht.
    Das Geld wird für Bildungs- und Sozialarbeit verwendet.

  19. 29.

    Gleiche Steuerlast und gleiche Chanceen für allee wären gerecht. De facto horten 10% der "Bevölkerung" 70% aller Güter hier. Die ganz unten kommen niemals über Niedriglohn hinaus. Sie spüren und wissen das. Sie auch, oder?

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