Abzug der Alliierten vor 30 Jahren - Die Euphorie des Abschieds

Sa 31.08.24 | 08:09 Uhr | Von Jonas Waack
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Archivbild: Eine Berlinerin überreicht einem russischen Offizier einen Blumenstrauß und gibt ihm einen Abschiedskuß, aufgenommen am 31. August 1994 am Ehrenmal in Berlin-Treptow. (Quelle: dpa/Peter Kneffel)
Audio: rbb24 Abendschau | 23.08.2024 | Ulli Zelle | Bild: dpa/Peter Kneffel

Heute wirkt das naiv, aber: Als 1994 die russischen Truppen Deutschland verlassen, glauben viele, jetzt sei für immer Frieden, erzählt Hans Joachim Jung. Der Militärdolmetscher hatte auch das Abschiedslied der russischen Truppen übersetzt. Von Jonas Waack

Die Orden wackeln an den Uniformen. Tausend russische Soldaten marschieren am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park im Gleichschritt auf der Stelle, die Gewehre an die Brust gepresst. Der Soldatenchor schmettert: "Deutschland, wir reichen dir die Hand, und kehr’n zurück ins Vaterland." Nur ganz leicht hört man den russischen Akzent heraus – der Chor hat viel geprobt für diesen Anlass.

Es ist der 31. August 1994, die russischen Truppen verabschieden sich aus Deutschland. Vor ihnen stehen Bundeskanzler Helmut Kohl und der russische Präsident Boris Jelzin. Nur wenige Meter dahinter, in der sechsten Reihe, sitzt Oberstleutnant Hans Joachim Jung. Die gute Aussprache des Chors ist auch ihm zu verdanken, vor allem aber hat er das Lied, "Die Heimat ist empfangsbereit", übersetzt.

Militärdolmetscher Hans Joachim Jung (Quelle: privat)
Militärdolmetscher Hans Joachim Jung | Bild: privat

Die Bundeswehr übernahm nur wenige NVA-Offiziere

Damals, Anfang der 1990er sah es so aus, als sei der Konflikt zwischen Ost und West vorbei. Zur deutschen Wiedervereinigung 1990 war Jung 49 Jahre alt. 31 davon hatte er bei der Nationalen Volksarmee (NVA) verbracht. Jetzt wurde die Armee der DDR aufgelöst.

Die Bundeswehr übernahm damals nur wenige NVA-Offiziere, Jung musste zum Personalgespräch beim Bundeswehr-Stadtkommandanten in Berlin, Hasso Freiherr von Uslar-Gleichen. "Wer sind Sie, was können Sie, was haben Sie?", habe der gefragt, erzählt Jung. "Und da habe ich ihm erzählt, was ich so gemacht habe und so weiter."

Was er gemacht hat und so weiter: Zum Beispiel jahrzehntelang vom Französischen, Englischen und Russischen ins Deutsche übersetzt – und umgekehrt. Jung war im Dolmetschertross, als der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow zum 40. Jahrestag die DDR besuchte – und übersetzte auch den Ausspruch von Gorbatschows außenpolitischem Sprecher Gerassimiow, nach dem Treffen zwischen Gorbatschow und dem DDR-Staatschef Honnecker. Den Spruch, der später als das Gorbatschow-Zitat "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" in die Geschichtsbücher einging.

Annäherung an den ehemaligen Feind

Jungs Qualifikation überzeugte, er wurde nach der Wiedervereinigung von der Bundeswehr übernommen – als Verbindungsoffizier zu den Truppen der vier Siegermächte in Berlin. Die Situation in der Stadt war mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung plötzlich sehr anders. Die Sowjetarmee und die NATO-Truppen waren keine Feinde mehr, aber sie wussten nicht, wie sie miteinander umgehen sollen.

Jung organisierte also Gelegenheiten für die Soldaten und Offiziere, sich kennenzulernen. Er erinnert sich an einen Abend, an dem das russische Gesangs- und Tanzensemble und das Balalaika-Orchester im französischen Quartier spielte - der heutigen Julius-Leber-Kaserne im Wedding. "Der ganze Saal schmiss seine Barrette und Käppis in die Höhe. Die waren nicht mehr einzukriegen."

Hochprozentige Geschenke

Auch die West-Berliner waren an Kontakten interessiert. Bei einem Empfang wurde Jung von einem Supermarktbesitzer angesprochen, womit der den russischen Soldaten denn eine Freude machen könne. "Da hab ich gesagt, Weihnachten steht vor der Tür, vielleicht kann man den Soldaten ein kleines Geschenkpaket vorbereiten", erzählt Jung. "Aber denkt daran: kein Alkohol!"

Einige Wochen später fuhren sechs Lastwagen mit Geschenkpaketen auf dem Exerzierplatz der russischen Armee in Karlshorst vor, als dort "zweitausend Mann mindestens" beim Appell waren, erinnert sich Jung.

Der Supermarktbesitzer hielt sich offenbar nicht an die Anweisungen Jungs: Später habe er in der Kaserne einen Raum gesehen, "übersät mit leeren Schnapsflaschen!", so Jung.

Archivbild: Russische Soldaten marschieren am 31. August 1994 in Berlin über die Straße des 17. Juni zum Brandenburger Tor. (Quelle: dpa/Peter Kneffel)

Die Russen mussten allein marschieren

1994 sollten die ausländischen Truppen endgültig aus Berlin abziehen. Großbritannien, Frankreich und die USA wollten am 18. Juni ein letztes Mal eine Parade auf der Straße des 17. Juni abhalten, am Armed Forces Day, wie sie es während des Kalten Krieges getan hatten.

Auch die Russen wollten mitmarschieren: Kommandant Markow bat darum, mit einem Ehrenzug und dem russischen Orchester teilnehmen zu dürfen. Aber die Stadt lehnte ab mit der Begründung, das Datum der Parade sei zu nah am 17. Juni, dem Jahrestag des Volksaufstands in der DDR 1953, der unter anderem von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde. "Den Brief mit der Absage habe ich sogar übersetzt", erzählt Jung. "Mein General hat mir später erzählt, die Briten und die Franzosen waren für eine gemeinsame Parade, nur die Amerikaner waren dagegen."

Also mussten die russischen Truppen ihre eigene Parade abhalten, und auch die Verabschiedung fand getrennt statt. "Die Russen waren nicht amused", erinnert sich Jung.

Mein General hat mir später erzählt, die Briten und die Franzosen waren für eine gemeinsame Parade, nur die Amerikaner waren dagegen.

Hans Joachim Jung

Jung übersetzte das Abschiedslied

Und so kam es zu der Parade am sowjetischen Ehrenmal. Die russische Militärführung ließ eigens ein Lied für den Anlass komponieren. Den Text schrieb der ukrainische Sänger Wladimir Sarkow, die Melodie kam von Gennadi Lushezki, dem künstlerischen Leiter des Gesangs- und Tanzensembles der russischen Truppen in Deutschland.

Lushezki und Jung kannten sich, und so bekam Jung den Auftrag, einen Teil des Liedes zu übersetzen. "Dichten war immer schon mein Hobby", sagt er, "aber Nachdichten ist natürlich etwas anderes. Man muss sich dicht ans Original halten, und im besten Fall reimt es sich auch noch."

Die Heimat ist empfangsbereit

„Wir verlassen nun für immer deutsche Erde,
Denn der Kriegsherd, der ist ja schon lange aus.
In der Hoffnung, dass nun ewig Friede währe,
Rollen Panzer und Geschütze jetzt nach Haus.
Wir ziehen ab, doch uns’re Lieder werden bleiben,
Uns erinnern noch an manche gute Tat.
Mutter Heimats Freude ist kaum zu beschreiben,
dass nun heimkehrt ihr russischer Soldat.

Deutschland, wir reichen dir die Hand
Und kehr’n zurück ins Vaterland.
Die Heimat ist empfangsbereit.
Wir bleiben Freunde allezeit.
Auf Frieden, Freundschaft und Vertrauen
Sollten wir uns’re Zukunft bauen.
Die Pflicht erfüllt! Leb wohl, Berlin!
Uns’re Herzen heimwärts ziehen.“

Nach dem Abzug der Siegermächte blieb Jung noch einige Jahre bei der Bundeswehr, zuerst als Verbindungsoffizier, später als Pressesprecher. Heute ist er längst im Ruhestand und führt Besucher durch das deutsch-russische Museum Karlshorst und über den Invalidenfriedhof. Und er nimmt auch an Podiumsdiskussionen zum Abzug der Alliierten teil.

Damals, 1994, sei er gerührt und hoffnungsvoll gewesen, erinnert sich der 83-Jährige. "Wir haben gedacht, dass nach dem Abzug der große Frieden ausbricht. Das ist leider nicht eingetroffen."

Diese Spuren haben die Alliierten in Berlin hinterlassen

Sendung: rbb24 Abendschau, 31.08.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Jonas Waack

25 Kommentare

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  1. 25.

    Ihr Putin-Bild ist mir bekannt, deshalb ist es sinnlos, darüber eine Debatte zu führen. Nur zu Ihrer Beruhigung: Meine Einschätzung von Putin ist nicht diejenige von Gerhard Schröder, der von einem "lupenreinen Demokraten" sprach. (Bei einem, der schon in der niedersächsischen Staatskanzlei mit dem Spruch aufwartete "Hier kann Jeder machen, was ich will", war nichts anderes zu erwarten. ;- )

  2. 24.
    Antwort auf [Fine] vom 31.08.2024 um 20:24

    Und warum muß man im Osten aufgewachsen sein um das AfD Gequatsche zu verbreiten?

  3. 23.

    Es hat schon deshalb nicht ausgeschlossen werden können, weil die betreffenden Staaten selbstständige und souveräne Staaten sind. Ansonsten wären sie dasjenige gewesen, was Sie ihnen ggf. immer vorwerfen: Vasallenstaaten eines Blocks.

    Ich teile die Weiterführung des Blockdenkens in keinster Weise, so wie ich hier schrieb. Die Auflösung BEIDER Blöcke wäre das Optimum gewesen. Und dennoch sollte die Entscheidung souveräner Staaten anerkannt werden, anstatt sie nur als willige Befehlsempfänger - diesmal zu etwas angenommenen Richtigem - zu betrachten. ;-

  4. 22.

    Naja nicht den Sinneswandel. Es war von Anfang an so geplant. Sonst hätten die westlichen Besatzungsmächte ebenfalls abziehen können. Dass Genscher und Baker in die laufenden Kameras die Natoosterweiterung quasi ausgeschlossen haben. Und jetzt versucht wird, diese im öffentlich rechtlichen Weltspiegel ausgestrahlte Tatsache zu unterdrücken oder zu zerreden ist schon ungeheuerlich. Man muss nur nach den beiden Namen suchen und dann unter Videos schauen. Wie hier systematisch Geschichte verleumdet wird und Immanuels darauf reinfallen ist unerträglich.

  5. 21.

    Hätte Russland den Sinneswandel des Westens einkalkulieren können?

    Sie währen wohl nicht abgezogen.

  6. 19.

    Mir geht es ähnlich, in Bezug auf die Franzosen und Briten. Die Freitag-Abende im Irish Folk Pub Sam Kutschi.... auch legendär :-D
    Im Amerikanischen Sektor war ich zu selten.

  7. 17.

    Helmut Krüger:
    "Selbstkritisch als Deutscher angemerkt : Es ist zu viel von penibel ausformulilerten Vertragswerken die Rede und zu wenig von Vertrauensbildung. Gerade dadurch kommt es zu "doppelten Botschaften", weil wenn Zwei etwas lesen, das noch lange nicht dasselbe ist."

    Vertrauensbildung mit einem Ex-KGB-Agenten, der seit der Auflösung der Sowjetunion von der Kolonisation der ehemaligen Sowjetrepubliken unter seiner stalinistischen Diktatur träumt? Wohl kaum möglich!

  8. 16.

    Marv:
    "Am Ende wurde Russland mehrfach mündlich belogen und das Ergebnis daraus erleben wir heute. Es hätte anders kommen können wenn nicht Macht und Geld und Militärische Interessen überwogen hätte seitens des Westens. Aber man treibt diese Spiel heute derart auf die Spitze dass unser aller Existenz gefährdet ist. Dazu die dümmste Regierung aller Zeiten (fachlich und moralisch)."

    Wohl eher: Der dümmste Kommentar aller Zeiten (fachlich und moralisch)!

  9. 15.

    Helmut Krüger:
    "Es wurde durch Unachtsamkeit eine riesige Chance vertan, an dessen Ende sogar die Auflösung BEIDER Blöcke hätte stehen können."

    Die Blockbildung wurde durch einige Sowjetrepubliken aufgelöst, wie Estland, Lettland, Littauen, Ukraine. Russland und Belarus weigern sich, weil es ihre Dikattur zerstören würde. Nach der Wahl des Ex-KGB Putin gab es für Russland keine Chance mehr, weil Putin zielstrebig eine Macho-Diktatur anstrebte! Das gleiche gilt für Belarus und Lukaschenko!

    Helmut Krüger:
    "wer mit Russen und Vertretungen der ihnen verwandten Kulturen verhandelt, wird stärker als bei uns auf eine Weltentrennung zwischen "Niemals!" und "Immerwährend" treffen - dazwischen ist dann sehr wenig."

    Putin: Niemals Demokratie, Menschenrechte und Frieden! Immerwährend Diktatur, Unterdrückung, Imperialismus und Krieg!

  10. 14.

    Und? Können sie auch noch etwas anderes außer rechtsextreme Stammtischparolen zu blöken?

  11. 13.

    Wir sind „An der Wuhlheide“ groß geworden, dort war das Panzer-Garderegiment (Karlshorst). Sind mit Soldaten und deren Familien, Kinder bekannt geworden, gingen dort im Armee-Shop einkaufen oder am ansässigen Freibad zusammen baden oder spielen. Mir taten die immer Leid. Am Ende wurden die vom heutigen Westen verarscht. Da merkt man aber auch wie ferngesteuert und hörig unsere Politiker sind. Keinen Anstand und Ar…. in der Hose, blinde Mitläufer bis zum Untergang

  12. 12.

    ... vor der militärischen Aufrüstung und Eskalation steht die verbale, gleich gegen wen sie sich richtet. KRIEG dem Krieg war noch nie Frieden.

  13. 11.

    "Wer mit Russen und Vertretungen der ihnen werwandten Kulturen verhandelt, wird stärker als bei uns...."
    Welche ihnen verwandte Kulturen sollen es sein?
    Mir fällt da keine Kutur ein.

    Pardon, aber das in diesem Zusammenhang gezeichnete Bild von US-Amerikanern entbehrt jeden Realitätsbezug, da haben eher die Britten ein Show - Gehabe etc.an den Tag gelegt.

  14. 10.

    Offensichtlich sind die Russen die einzigen denen Ehre, Abmachungen, Verträge und Gleichberechtigung etwas bedeuten.

  15. 8.

    Ein wenig vermisse ich die Briten schon. Nicht das ich mir "Besatzungszeiten" zurückwünsche, aber die Veranstaltungen hatten einen gewissen Charme. Geblieben sind der alte Landy III - über 40 Jahre alt, restauriert, knurrt wie ein Corgy, die Liebe zum Dartspiel und viele schöne Erinnerungen.

  16. 6.

    Dem kann ich nur zustimmen. Unsere Regierung ist nicht nur dumm sondern für unser Land auch gefährlich, vor allem in Gestalt der Außenministerin. Die unfähigste die es jemals in der deutschen Geschichte gegeben hat.

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