Interview | Babyboomer gehen in Rente - "Wir müssen uns über unseren kollektiven ökonomischen Wohlstand verständigen"
Die Babyboomer gehen in Rente - die bisher geburtenstärksten Jahrgänge. Es kommen nicht genug Arbeitskräfte nach, um das auszugleichen. Wieso das nicht nur ein Problem für die Wirtschaft ist, erklärt der Buchautor Stefan Schulz im rbb-Interview.
rbb: Herr Schulz, worin besteht aus Ihrer Sicht das größte Problem, wenn die Babyboomer in Rente gehen?
Stefan Schulz: Wir kennen das Problem noch zu wenig. Es macht uns alle zu Pionieren. Wir sind eine der ältesten Regionen, das älteste Land hier in unserem Einzugsbereich Europa und der westlichen Welt. Wir werden uns die Aufgabe stellen müssen, uns mit unserem eigenen Alter und auch mit den vielen Alten, die kommen werden, zu versöhnen. Kein Land hat uns das bisher vorgemacht - das müssen wir uns jetzt alles erarbeiten. Hoffentlich gelingt es im ersten Versuch.
Sie sprechen von Versöhnung. Welche Konfliktlinien sehen Sie da besonders?
Zum einen werden in den nächsten zehn Jahren ungefähr 18 Millionen Menschen in Rente gehen, aber nur elf Millionen nachrücken. Irgendwer wird diese älteren Menschen, die sich einen Lebensabend in Ruhe verdient haben, versorgen müssen. Das ist die Aufgabe der Jungen. Wir können es dann nicht auf große ökonomische Konflikte ankommen lassen.
Das bedeutet auch, dass wir erst einmal die jungen Menschen selbst wieder mit einer eigenen Perspektive auf ihr eigenes Alter ausstatten müssen. Bisher scherzt man darüber. Man fragt einen jungen Menschen: Hast du schon an die Rente gedacht? Und alle winken eher ab. Das braucht jetzt ein ordentliches Programm. Wir müssen uns wirklich Gedanken darüber machen, wie wir alle wieder mit Perspektive ausstatten.
Wo sehen Sie Lösungsansätze? Was für ein Programm könnte das sein?
Wir müssen uns über unseren kollektiven ökonomischen Wohlstand verständigen und dann auch die eine oder andere Verteilungsfrage klären. Und wir müssen auch da ansetzen, wo wir ökonomisch oder politisch gar nicht weiterkommen. Wir brauchen auch ein neues zivilgesellschaftliches Verständnis davon, wie Versorgungsprobleme aussehen. Das haben wir zum Beispiel bei Corona gesehen, als Nachbarschaftshilfe plötzlich eine Rolle spielte - allein, weil man sah, dass jemand alt und hilfsbedürftig ist, hat man sich angeboten.
Solche Projekte bräuchten wir im größeren Rahmen. Wir brauchen nicht nur eine Neuverteilung von Geld, sondern auch die Erschaffung neuer Möglichkeiten von Geselligkeit. Davon können dann alle profitieren. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass wir alle gut durch die Zeit kommen.
Sie haben es bereits angedeutet: Wenn zu wenige Menschen nachrücken, ist die Lastenverteilung ungerecht. Die jüngere Generation muss also unglaublich viel arbeiten, um das aufzufangen, was als Vakuum nun wirtschaftlich dasteht. Da kann man sich wahrscheinlich weniger um die Familienplanung kümmern. Wie sehr ist das ein Problem?
Das ist natürlich eines der größten Probleme. Es gibt viele Versuche, über Lebensarbeitszeit zu reden oder die Wochenarbeitszeit so auszudehnen, um die große Lücke in der Produktivität zu füllen. Wenn das Erwerbspersonenpotenzial um 20 Prozent schrumpft, kann man dann einfach 20 Prozent mehr Arbeit von jedem verlangen? Nein, das kann man nicht.
Wir wollen, dass die Jungen auch noch eigene Kinder in die Welt setzen, ihr eigenes Leben gestalten und sich nur nicht nur ökonomisch den Alten verschreiben, um deren Rente zu erwirtschaften. Meine Idee ist, dass wir - wie wir es mit dem Klimawandel machen - den demografischen Wandel politisch wirklich ernst nehmen: große Demografie, Gesetzespakete schnüren, uns wirklich Gedanken machen, wie Arbeitsverträge, Mietverträge und alle weiteren Verträge aussehen müssen, damit ein Kinderwunsch nicht immer als Allerletztes erfüllt wird.
Damit muss die eigene Erwerbsbiografie und das eigene Wohnen so gestaltet werden, dass man sich dann auch noch Kinder zutraut - dass man den Kinderwunsch nicht weiter kollektiv unterdrückt. So unterdrückt, wie wir es in Deutschland gerade haben: mit einer Geburtenzahl von 1,4 Kindern derzeit. Das liegt weit unter dem, was sich die Deutschen eigentlich wünschen.
Sie schreiben von 1,8 Kindern pro Frau - das wäre das, was Sie fordern. Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass der demografische Wandel nicht nur ein Problem für die Wirtschaft, sondern auch für unsere Gesellschaft und die Demokratie sei. Warum?
Die Demokratie ist nach 150 Jahren politischer Ideengeschichte und auch echter gelebter Praxis das politische Modell, auf das wir uns verständigt haben und das wir als das Beste ansehen - völlig zurecht. Aber die Demokratie ist eben am Ende auch nur das Ergebnis einer mathematischen Gleichung. Wir wählen, wir zählen durch, und dann verteilen wir die Mandate und Sitze in den Parlamenten.
Wenn wir Bundesländer wie Sachsen haben, wo die unter 30-Jährigen demnächst unter zehn Prozent ausmachen und andere Bundesländer, in denen es demnächst mehr Pflegefälle gibt als Wähler unter 30 Jahren oder 60 Prozent der Wähler über 50 Jahre alt sind, dann haben wir eine mathematische Schieflage, von der wir noch nicht wissen, wie wir die ausgleichen, bei der wir einfach nur feststellen, dass die Demografie die Demokratie schachmatt setzt.
Wir haben wenige Programme dagegen. Wir könnten über ein Familienwahlrecht nachdenken, den Kindern auch eine Stimme geben, ausgeübt beispielsweise über die Eltern. Wir brauchen vielleicht neue Arten von Wahlkämpfen, damit sich auch die Themen durchsetzen können, die nur von einer jüngeren Minderheit als wichtig empfunden werden - wie zum Beispiel der Wohnpreis. Wir haben sehr wenig Wahlkampf zum Thema Wohnpreis, obwohl die Wohnpreis-Inflation seit zehn Jahren über zehn Prozent liegt - und wir wissen ja, wie uns eine Inflationsrate von zehn Prozent unter Stress setzt.
Das sind alles Themen, die in Wahlkämpfen liegengeblieben sind. Vielleicht finden wir einen Modus, neue Wahlkämpfe mit neuen Themen zu führen, weil wir an der Demokratie selbst eigentlich nicht rütteln wollen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Shelly Kupferberg, rbbKultur. Es handelt sich um eine redigierte Fassung. Die Audiofassung können Sie anhören, wenn Sie oben links auf das Symbol im Bild klicken.
Sendung: rbbKultur, 26.10.2022, 7 Uhr