Zirkuläres Bauen - Wenn Häuser zu Baustofflagern werden
Zirkuläres Bauen gilt als Zukunftsvision für die Immobilienwirtschaft. Die Ideen dabei sind Wiederverwendung und Recycling. In der Charlottenburger Zillestraße kann man sich anschauen, wie das in der Praxis funktioniert. Von Konrad Spremberg
Die Wand im Keller ist frisch gemauert, aber neu sieht sie nicht aus. Die Ziegelsteine sind alt, manche zerbrochen, sie stammen aus einem Haus direkt um die Ecke, das gerade abgerissen wird. Hier in der Charlottenburger Zillestraße bekommen diese Steine ein neues Leben. Wenige Meter Transportweg, praktisch kein Rohstoffverbrauch – für nachhaltiges Bauen ist diese Mauer ein seltenes Musterbeispiel.
Die Mauer stützt jetzt einen Zweckbau aus den Fünfzigerjahren: Zuerst waren hier Labore untergebracht, dann zog eine Versicherung ein. Seit Anfang 2022 steht das Haus leer. Komplett abreißen, neu bauen, schöner und energiesparender, das hätte man machen können. Das wäre aber nicht klug gewesen, sagt der technische Direktor des Immobilienentwicklers Assiduus³. Das Berliner Unternehmen hat den Gebäudekomplex gekauft, um ihn nach den Grundsätzen zirkulären Bauens neu zu gestalten. Jetzt sollen hier Büros entstehen.
Stehen lassen, was stehen bleiben kann
Die erste Priorität zirkulären Bauens ist: stehen lassen, was stehen bleiben kann. In der Zillestraße ist das die Gebäudehülle, es sind aber zum Beispiel auch die alten Fenster. Lieber einige Jahrzehnte hinter mittelmäßig isolierenden Scheiben heizen, argumentiert Nils Noack, als jetzt alle rausreißen und durch Neue ersetzen. Ihm geht es um die Gesamtbilanz des Gebäudes auf lange Sicht. Energie- und Ressourcenverbrauch wären nicht im Sinne echter Nachhaltigkeit, wenn die Fenster neu hergestellt würden.
Die Fenster bleiben also drin, der bisherige Innenausbau dagegen ist fast komplett verkauft: Die Fahrstuhlschächte sind leer, die Deckenverkleidung abgenommen, Böden, Heizkörper und Türen abtransportiert. Teils sind die Materialien in anderen Gebäuden schon wieder in Benutzung. Das Berliner Startup Concular hat den Verkauf organisiert. "Wir sind Tinder für Baustoffe", sagt Annabelle von Reutern im Gespräch mit rbb|24. Die 2020 gegründete Firma bietet einen Online-Marktplatz von und für Baustellen, um Angebot und Nachfrage zusammenzubringen.
Leuchten und Treppengeländer aus zweiter Hand
Die Arbeit von Concular startet bereits, wenn Abriss oder Umbau noch nicht begonnen haben. Das Team sucht nach allem, was wiederverwendbar ist, misst aus, macht Fotos und bietet die Gegenstände und Baustoffe auf der eigenen Plattform an. Wer zum Beispiel gebrauchte Leuchten oder Treppengeländer kaufen möchte, kann sie direkt dort abholen, wo sie verbaut sind.
Neue Häuser aus alten Häusern? Der Architekt Alexander Rudolphi, Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, warnt gegenüber rbb|24 davor, die Recyclingfähigkeit jahrzehntealter Gebäude zu überschätzen. "Das ist sicher nicht die große Lösung", sagt er über die Versuche, alte Gebäudeteile im Neubau wiederzuverwenden.
Das Problem: In alten, häufig schadstoffbelasteten und nicht für die Demontage gedachten Bauten stecke schlicht zu wenig brauchbares Material, als dass es einen großen Unterschied machen könne. Eine fest verklebte Fassadenisolierung zum Beispiel lässt sich unmöglich unbeschadet trennen und wieder anbauen – die meisten Kunststoffe sind kaum recycelbar. Umso mehr müsse die Bauwirtschaft in die Zukunft zirkulären Bauens investieren: Mit Gebäuden, deren Wiederverwendbarkeit schon beim Bau mitgedacht wird.
Ein digitaler Gebäudepass
Dabei möchte Patrick Bergmann helfen, auch er setzt auf Digitalisierung. Seine Software Madaster dient wie Concular dazu, Gebäude mit ihren Einzelteilen zu katalogisieren. Der Fokus liegt hier aber nicht auf dem Verkauf. Madaster soll ein Material-Kataster sein und über die exakten Bestandteile eines Gebäudes Auskunft geben: Wie viele Tonnen Holz, Glas und Beton stecken in welcher Etage? Wie viel sind diese Materialien momentan wert? Wie groß ist ihr CO2-Fußabdruck?
Am Ende beantwortet die Software eine entscheidende Frage: Wie groß ist der Anteil am Gebäude, der einmal zurückgebaut und in einem neuen Gebäude wiederverwendet werden kann? Umso höher dieser Wert ist, desto mehr erfüllt der Bau die Grundsätze zirkulären Bauens. Madaster ist eine Entwicklung aus den Niederlanden, dahinter steht eine gemeinnützige Stiftung. Bergmann ist überzeugt, dass seine umfangreichen Datensätze früher oder später in die öffentliche Hand übergehen sollten.
Das passt zum Vorhaben der Bundesregierung, einen digitalen Gebäuderessourcenpass einzuführen. Die Ampel-Koalition nennt eine Kreislaufwirtschaft im Gebäudebereich als Ziel im Koalitionsvertrag. Auch die Europäische Union plant, Kriterien zirkulären Bauens in ihre Nachhaltigkeitskriterien aufzunehmen.
Das Gebäude von hinten denken
Das alles ist noch vage, aber die politischen Vorhaben wirken sich laut Nils Noack vom Immobilienentwickler Assiduus³ schon heute auf das Verhalten von Investor:innen aus. Er beobachtet ein generelles Umdenken: „Ein Gebäude, dessen Materialien nicht erfasst sind, wird heute schon tendenziell schlechter bewertet, weil der Markt verstanden hat, dass ein vernünftig geplantes Gebäude im Prinzip ein großes Rohstofflager für die Zukunft ist“, so Noack.
Ein Haus als potenzielles Rohstofflager zu bauen, verlangt einiges Umdenken, erklärt Jörg Finkbeiner, Architekt des Zille Campus in Charlottenburg: „Das Interessante am zirkulären Bauen ist, dass man nicht so sehr darüber nachdenkt, wie man ein Gebäude zusammenbaut, sondern eher, wie man es wieder auseinanderbauen kann. Das dreht den gesamten Planungsprozess um, weil man das Gebäude von hinten denkt.“ Wenn die Zeit in einigen Jahrzehnten wieder reif ist für einen großen Umbau an der Zillestraße, dann wird fürs Auseinandernehmen und Wiederverwenden also schon alles vorbereitet sein.
Sendung: Abendschau, 12.12.2022, 19:30 Uhr