Zirkuläres Bauen - Wenn Häuser zu Baustofflagern werden

Mo 12.12.22 | 07:09 Uhr | Von Konrad Spremberg
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Rohbau Zillestraße, Berlin-Charlottenburg (Quelle: rbb/Raphael Knop)
Audio: rbb24 Inforadio | 12.12.2022 | Raphael Knop | Bild: rbb/Raphael Knop

Zirkuläres Bauen gilt als Zukunftsvision für die Immobilienwirtschaft. Die Ideen dabei sind Wiederverwendung und Recycling. In der Charlottenburger Zillestraße kann man sich anschauen, wie das in der Praxis funktioniert. Von Konrad Spremberg

Die Wand im Keller ist frisch gemauert, aber neu sieht sie nicht aus. Die Ziegelsteine sind alt, manche zerbrochen, sie stammen aus einem Haus direkt um die Ecke, das gerade abgerissen wird. Hier in der Charlottenburger Zillestraße bekommen diese Steine ein neues Leben. Wenige Meter Transportweg, praktisch kein Rohstoffverbrauch – für nachhaltiges Bauen ist diese Mauer ein seltenes Musterbeispiel.

Die Mauer stützt jetzt einen Zweckbau aus den Fünfzigerjahren: Zuerst waren hier Labore untergebracht, dann zog eine Versicherung ein. Seit Anfang 2022 steht das Haus leer. Komplett abreißen, neu bauen, schöner und energiesparender, das hätte man machen können. Das wäre aber nicht klug gewesen, sagt der technische Direktor des Immobilienentwicklers Assiduus³. Das Berliner Unternehmen hat den Gebäudekomplex gekauft, um ihn nach den Grundsätzen zirkulären Bauens neu zu gestalten. Jetzt sollen hier Büros entstehen.

Rohbau Zillestraße, Berlin-Charlottenburg (Quelle: rbb)
| Bild: rbb

Stehen lassen, was stehen bleiben kann

Die erste Priorität zirkulären Bauens ist: stehen lassen, was stehen bleiben kann. In der Zillestraße ist das die Gebäudehülle, es sind aber zum Beispiel auch die alten Fenster. Lieber einige Jahrzehnte hinter mittelmäßig isolierenden Scheiben heizen, argumentiert Nils Noack, als jetzt alle rausreißen und durch Neue ersetzen. Ihm geht es um die Gesamtbilanz des Gebäudes auf lange Sicht. Energie- und Ressourcenverbrauch wären nicht im Sinne echter Nachhaltigkeit, wenn die Fenster neu hergestellt würden.

Die Fenster bleiben also drin, der bisherige Innenausbau dagegen ist fast komplett verkauft: Die Fahrstuhlschächte sind leer, die Deckenverkleidung abgenommen, Böden, Heizkörper und Türen abtransportiert. Teils sind die Materialien in anderen Gebäuden schon wieder in Benutzung. Das Berliner Startup Concular hat den Verkauf organisiert. "Wir sind Tinder für Baustoffe", sagt Annabelle von Reutern im Gespräch mit rbb|24. Die 2020 gegründete Firma bietet einen Online-Marktplatz von und für Baustellen, um Angebot und Nachfrage zusammenzubringen.

Leuchten und Treppengeländer aus zweiter Hand

Die Arbeit von Concular startet bereits, wenn Abriss oder Umbau noch nicht begonnen haben. Das Team sucht nach allem, was wiederverwendbar ist, misst aus, macht Fotos und bietet die Gegenstände und Baustoffe auf der eigenen Plattform an. Wer zum Beispiel gebrauchte Leuchten oder Treppengeländer kaufen möchte, kann sie direkt dort abholen, wo sie verbaut sind.

Neue Häuser aus alten Häusern? Der Architekt Alexander Rudolphi, Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, warnt gegenüber rbb|24 davor, die Recyclingfähigkeit jahrzehntealter Gebäude zu überschätzen. "Das ist sicher nicht die große Lösung", sagt er über die Versuche, alte Gebäudeteile im Neubau wiederzuverwenden.

Das Problem: In alten, häufig schadstoffbelasteten und nicht für die Demontage gedachten Bauten stecke schlicht zu wenig brauchbares Material, als dass es einen großen Unterschied machen könne. Eine fest verklebte Fassadenisolierung zum Beispiel lässt sich unmöglich unbeschadet trennen und wieder anbauen – die meisten Kunststoffe sind kaum recycelbar. Umso mehr müsse die Bauwirtschaft in die Zukunft zirkulären Bauens investieren: Mit Gebäuden, deren Wiederverwendbarkeit schon beim Bau mitgedacht wird.

Ein digitaler Gebäudepass

Dabei möchte Patrick Bergmann helfen, auch er setzt auf Digitalisierung. Seine Software Madaster dient wie Concular dazu, Gebäude mit ihren Einzelteilen zu katalogisieren. Der Fokus liegt hier aber nicht auf dem Verkauf. Madaster soll ein Material-Kataster sein und über die exakten Bestandteile eines Gebäudes Auskunft geben: Wie viele Tonnen Holz, Glas und Beton stecken in welcher Etage? Wie viel sind diese Materialien momentan wert? Wie groß ist ihr CO2-Fußabdruck?

Am Ende beantwortet die Software eine entscheidende Frage: Wie groß ist der Anteil am Gebäude, der einmal zurückgebaut und in einem neuen Gebäude wiederverwendet werden kann? Umso höher dieser Wert ist, desto mehr erfüllt der Bau die Grundsätze zirkulären Bauens. Madaster ist eine Entwicklung aus den Niederlanden, dahinter steht eine gemeinnützige Stiftung. Bergmann ist überzeugt, dass seine umfangreichen Datensätze früher oder später in die öffentliche Hand übergehen sollten.

Das passt zum Vorhaben der Bundesregierung, einen digitalen Gebäuderessourcenpass einzuführen. Die Ampel-Koalition nennt eine Kreislaufwirtschaft im Gebäudebereich als Ziel im Koalitionsvertrag. Auch die Europäische Union plant, Kriterien zirkulären Bauens in ihre Nachhaltigkeitskriterien aufzunehmen.

Architekt Jörg Finkbeiner (Quelle: rbb)Architekt Jörg Finkbeiner

Das Gebäude von hinten denken

Das alles ist noch vage, aber die politischen Vorhaben wirken sich laut Nils Noack vom Immobilienentwickler Assiduus³ schon heute auf das Verhalten von Investor:innen aus. Er beobachtet ein generelles Umdenken: „Ein Gebäude, dessen Materialien nicht erfasst sind, wird heute schon tendenziell schlechter bewertet, weil der Markt verstanden hat, dass ein vernünftig geplantes Gebäude im Prinzip ein großes Rohstofflager für die Zukunft ist“, so Noack.

Ein Haus als potenzielles Rohstofflager zu bauen, verlangt einiges Umdenken, erklärt Jörg Finkbeiner, Architekt des Zille Campus in Charlottenburg: „Das Interessante am zirkulären Bauen ist, dass man nicht so sehr darüber nachdenkt, wie man ein Gebäude zusammenbaut, sondern eher, wie man es wieder auseinanderbauen kann. Das dreht den gesamten Planungsprozess um, weil man das Gebäude von hinten denkt.“ Wenn die Zeit in einigen Jahrzehnten wieder reif ist für einen großen Umbau an der Zillestraße, dann wird fürs Auseinandernehmen und Wiederverwenden also schon alles vorbereitet sein.

Sendung: Abendschau, 12.12.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Konrad Spremberg

5 Kommentare

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  1. 5.

    Dringend angeraten. Die Erfahrungen vieler Ostdeutscher sichern.
    Auch wenn der Mangel andere Ursachen hatte, aber alte Ziegelsteine und andere Materialien wiederverwenden ist keine Erfindung aus 2022.
    Ich hab ja nur die Kindheit/Jugend in der DDR verbracht aber alten Mörtel von Ziegelsteinen klopfen war meine Aufgabe beim Bau des Wochenendhauses. Vater war froh, wenn er wieder einen Anhänger von irgendeinem Abrisshaus abholen konnte.
    Wie sang auch Jack Johnson von den 3 R‘s. reduce, reuse, recycle genau in der Reihenfolge.

  2. 4.

    Das ist in jedem Fall sinnvoll, sofern machbar, das es ressourcenschonend ist. Bei uns in der Siedlung werden die alten Häuser (BJ 1936) nach Verkauf abgerissen und ein hässlicher großer Betonwürfel mit Flachdach hin gebaut. Die Bausubstanz bei den alten Häusern sollte man auf jeden Fall erhalten, und dann darauf aufbauen bzw. erweitern. Wenn dann noch eine Dämmung und das Dach vernünftig gebaut werden, hat man immerhin einen Teil des Baumaterials eingespart und somit wieder verwertet. Das Problem bei vielen ist dass die Häuser heutzutage riesig sein müssen für nur 3 oder 4 Leute, und dabei wird vergessen, dass geheizt werden muss, sauber gemacht werden müssen etc., und im Alter wohnt man dann eh im Parterre, weil nicht jeder möchte einen Treppenlift. Und um das Bild zu vervollständigen wird ein Schottergarten angelegt, weil pflegeleicht. Auweia!

  3. 3.

    Dass der Versuch (und damit der Nachweis! erbracht werden kann), wie es um das Recycling auch im Bauen stehen kann, ist löblich. Gut, das Pilotprojekt ist ein Bürogebäude. Hoffentlich findet der sog. Ökologische Aufrechnungsprozess auch den Eingang in entsprechende Gesetzesgrundlagen. Denn da hapert es ganz schön noch! Bekanntlich ist es leichter ein Wohnhaus (mit auch sanierten Wohnungen!), in dem die Menschen gern und länger leben wollen, im Interesse sog. Eigentümer abzureißen, als sich auf eine Nichtinanspruchnahme, sprich Klartext: Erhalt, von vorhandenen Ressourcen zu konzentrieren.
    Bleibt also zu hoffen, dass auch der politische Wille schneller wächst, einfach Vernunft vor dem Verbrauch von neuen(nachwachsenden) Rohstoffen oder die CO² "reiche" Betonindustrie weiter zu unterstützen, walten zu lassen. Es ist ja kein Geheimnis mehr, dass sich die Stadt jedes Jahr den Verlust bewohnbaren Wohnraum in der Größenordnung von bis zu 1000 Wohn. leistet!

  4. 2.

    Toll. Aber ganz wichtig auch: Alle Häuser, die stehen bleiben können, bleiben stehen... Interessant wäre auch eine Übersicht hier im rbb: Gesamtenergieverbrauch eines altem Fenster versus neuem Fenster, neue Fassadendämmung versus ohne Fassadendämmung , gedämmter Keller mit Schimmel versus ungedämmter belüfteter Keller...
    Aber solche Ansätze werden wie die Magnet-Bahn in der Schublade verschwinden...

  5. 1.

    Also schön sieht anders aus. Was hinterlassen wir da als Erbe unseren Nachfahren

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