Premierenkritik | "Unser Deutschlandmärchen" - Dichtende Arbeiterkinder
Hakan Savaş Mican bringt Dinçer Güçyeters Debütroman "Unser Deutschlandmärchen" auf die Bühne des Maxim-Gorki-Theaters. Eine musikalische, anrührende und warmherzige Feier der Generation türkischer Gastarbeiterinnen. Von Barbara Behrendt
Dass mit Dinçer und seiner Mutter Fatma nicht nur zwei Generationen aufeinanderprallen, sondern auch zwei Welten, das zeigt schon die Musik. Wenn Fatma einen Ausdruck für ihre Gefühle sucht, dann singt sie, beziehungsweise ihre Darstellerin Sesede Terzyan, herzzerreißende Liebeslieder aus der Türkei. Wenn ihr Sohn Dinçer sein Lieblingslied singen darf, dann schmettert der Schauspieler Taner Şahintürk die Ruhrpott-Lyrik von Herbert Grönemeyer: "Gib mir mein Herz zurück, du brauchst meine Liebe nicht. Gib mir mein Herz zurück, bevor es auseinanderbricht. Je eher du gehst, umso leichter wird's für mich."
Der Regisseur Hakan Savaş Mican hat Musik schon immer gern als Emotionsträger benutzt – seine Adaption des Debütromans von Dinçer Güçyeter "Unser Deutschlandmärchen" am Berliner Maxim-Gorki-Theater ist nun eine Art theatrales Konzert, bei dem die Musik die Sprachlosigkeit der Figuren überwindet und gleichzeitig die Zerrissenheit zwischen deutscher und türkischer Identität spiegelt. Die fünf starken Live-Musiker:innen werden auf der Bühne immer wieder ins Spiel des Mutter-Sohn-Duos eingebunden – darüber hinaus besteht das Bühnenbild aus lustigen Foto-Montagen und projizierten Jahreszahlen: von 1979 bis 2024 geht die Reise, die sich im Roman eigentlich auf ein ganzes Jahrhundert erstreckt.
"Als ob es nicht schlimm genug wäre, dass du liest und schreibst"
Der Lyriker Dinçer Güçyeter erzählt sie als autofiktionale Collage in blumiger, poetischer Sprache. In Briefen, Träumen, Gedichten, in fiktiven Reden der Mutter und Großmutter. Fatma wird als türkische Gastarbeiterin von ihrem Mann in den 1960er Jahren an den Niederrhein gebracht, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihr Mann macht eine Kneipe auf, verschuldet sich, bringt kein Geld nach Hause. Fatma schuftet wie blöd, auf dem Feld, in der Fabrik, mehrere Schichten pro Tag. Der Sohn Dinçer will es seiner Mutter recht machen und auch ein fleißiger Arbeiter werden, doch er liebt nun mal die Literatur und das Theater. Als er ihr sagt, dass er in Köln bei einer Theaterinszenierung mitmacht, antwortet sie: "Du bist ein Arbeiterkind in Deutschland! Als ob es nicht schlimm genug wäre, dass du die ganze Zeit liest und schreibst. Ich werde es nicht zulassen, dass du dein Leben wegwirfst."
Unmöglich wäre es für Dinçer, der Mutter zu erzählen, dass er früher heimlich ihre Stöckelschuhe getragen hat. Seine queere Seite – die hat in der traditionellen Welt der Mutter keinen Platz. Hier kennen echte Männer keine Tränen und erst recht keinen Nagellack. Doch auf der Bühne ist das anders. Hakan Savaş Mican lässt die Briefe, die Dinçer an seine Mutter schreibt, und ihre fiktiven Repliken zu realen Dialogen werden: "Jedes Mal, wenn du weg warst, hab ich die Schuhe angezogen und bin durch die Wohnung gelaufen. Ich hab Musik gehört, hab darin getanzt. Deshalb haben sie so eine komische Form. Hast du das nie bemerkt?", fragt er.
Ein Traumduo: Taner Şahintürk und Sesede Terzyan
Mican bringt nicht nur eine chronologische Ordnung in die Collage – sondern auch viel Wärme, Humor und Verständigung in die Mutter-Sohn-Geschichte. Taner Şahintürk und Sesede Terziyan sind dafür ein Traumpaar: Beide trägt sie eine Power und Leidenschaft – gleichzeitig spielen sie weich, durchlässig, verletzlich.
Man kann der Inszenierung durchaus vorwerfen, den Roman allzu weich zu spülen. Der Missbrauch der Frauen von ihren Männern und Arbeitgebern, die Härte ihres Lebens, die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen kommt hier eindeutig zu kurz.
Emotional, humorvoll, warmherzig und sentimental
Dafür ist dieser emotionale, humorvolle, warmherzige, auch sentimentale Abend eine große Feier der älteren Generation der Gastarbeiterinnen, der Frauen, die ihren Familien in Deutschland ein neues Leben erkämpft haben: "Unsere Männer liegen wie Vieh im Bett und unsere Kinder kommen mit uns aufs Feld, um mit uns zu arbeiten. Was ist das eigentlich für ein Scheißleben?" sagt Fatma einmal. Es ist ein großes Verdienst des Maxim-Gorki-Theaters, diesen viel zu wenig beachteten Teil der deutschen Geschichte in unterschiedlichen Perspektiven immer wieder neu auf der Bühne zu erzählen.
Als zum Schluss-Jubel der Autor mit seiner alten Mutter auf die Bühne steigt – er in Tränen, sie sichtlich voller Stolz auf ihren Sohn, dessen Theatermachen sie so lange verachtet hat – bekommt der Stoff eine neue Wahrhaftigkeit. Nun hat die Mutter ihrem Sohn also doch zugehört.
Sendung: rbb24 Radioeins, 06.04.2024, 18:00 Uhr