Boom der modularen Synthesizer - Hier stehen die wohl komplexesten Musikinstrumente der Welt
Modulare Synthesizer wurden einst durch Bands wie Pink Floyd groß. Nun erobern neue Künstler mit der alten Technik die Clubs der Welt. Für die Szene zentral ist ein Musikladen in Berlin. Von Larissa Kahr
Im Keller des Berliner Musikgeschäfts "Schneidersladen" steht Jessica Kert vor einem Kasten, der an ein Raumschiff erinnert. Mit bunten Kabeln verbindet sie Anschlüsse, drückt Knöpfe, und aus einem zuvor dröhnenden Brummen wird ein sphärischer Sound - typisch für einen modularen Synthesizer. Zufrieden blickt sie auf: "Das macht einfach unglaublich Spaß."
Mit modularen Synthesizern bis ins Berghain
Dutzende von Modulen reihen sich im Keller des Neuköllner Musikgeschäfts aneinander, flankiert von Bergen an bunten Kabeln. Wer möchte, kann hier das - manchmal als komplexestes Musikinstrument der Welt bezeichnete - Gerät ausprobieren. Unterstützung gibt es von Kert, die hier arbeitet und selbst eine leidenschaftliche Modular-Künstlerin ist.
Der Sound der modularen Synthesizer, der in den 1970er-Jahren durch Künstler wie Pink Floyd oder Jean-Michel Jarre populär wurde, ist heute wieder in den Clubs weltweit präsent. Ein Beispiel dafür ist Sibel Koçer alias JakoJako, die als jüngste Resident-DJ im legendären Berghain oft mit modularen Synthesizern auflegt.
Das Besondere: Die Künstler hinter dem DJ-Pult arbeiten nicht klassisch mit Pre-Sets oder Schallplatten. Stattdessen erzeugen sie die Musik durchweg live. Dafür verbinden sie verschiedene Module oder Elemente der Klangerzeugung miteinander. Die Möglichkeiten bei dieser Art des Musizierens: fast grenzenlos.
Weltstars zu Besuch im Laden
In einem schwarzen Rolli steht Jessica Kert hinter der massiven Theke im Eingangsbereich von "Schneidersladen". Was vor 25 Jahren als Reparaturservice für Synthesizer begann, ist heute ein Treffpunkt der modularen Szene. Kert hat hier bereits Größen wie Richie Hawtin, Ricardo Villalobos und Elektropionier Jean-Michel Jarre beraten - ein echter Fangirl-Moment für sie.
Die Kunden kommen oft regelmäßig, bleiben mehrere Stunden und drehen Regler, testen die neusten Module oder holen sich bei Kert einen Kaffee an der Theke. Es wirkt wie ein Ort zum Verweilen, ein musikalisches Zuhause, und gleichzeitig beeinflusst er die Modulare-Szene weltweit.
Das beweist auch der nächste Kunde: Colin Benders, alias Kyteman, wirkt fast unscheinbar. Doch in der Szene zählt er zu den Großen, tourt um den Globus und füllt Hallen.
Im Laden wird er begrüßt wie jeder andere. Da gibt es eine Umarmung, einen Espresso und einen Plausch über die neusten Modular-News. 80 Prozent seines Equipments stammt von hier. "Dieser Ort hat einen großen Einfluss auf mich. Immer wenn ich herkomme nach Berlin, halte ich hier", sagt er. Wenige Minuten später drückt Benders Knöpfe an einem Synthesizer und probiert ein neues Gerät aus.
Woher kommt der Boom?
Während der Corona-Pandemie habe sich die Modular-Szene enorm entwickelt, erzählt Kert. Viele Leute hätten da zuhause gesessen, Zeit gehabt und geübt. Der Hype aktuell sei eher eine organische Folge: Die Menschen beherrschen ihr Instrument und bringen es auf die Bühnen.
Außerdem auffällig: JakoJako, Sarah Sommers oder eben Kert - viele Frauen spielen die hochtechnischen Geräte. Für die 42-Jährige ist das eine Frage der Sichtbarkeit: "Mittlerweile ziehen mehr und mehr Frauen nach und tragen es auch nach außen. Sie sind nicht mehr so schüchtern und in sich gekehrt, wie sie es meiner Erfahrung nach waren. Sondern sind offener und zeigen auch, was sie fähig sind, damit zu tun."
Für Jessica Kert ist das Geschäft zu ihrem Alltag geworden. Eigentlich hatte sie Fotografie studiert und ist nur zufällig an den Job gekommen. Das ist mittlerweile zwölf Jahre her. Trotzdem beginnen ihre Augen zu leuchten, wenn sie von ihrem Platz am Tresen ihre Gäste beobachtet oder die modularen Schätze mustert.
"Ich kann mir mein Leben ehrlich gesagt nicht mehr ohne einen Synthesizer vorstellen, für mich ist das die absolute Freiheit", sagt Kert. Und davon gibt sie jeden Tag etwas an ihre Kunden weiter.
Sendung: Tagesthemen, 18.11.2024, 22:15 Uhr