Fast nichts - Tiefer als das Sommerloch
Juni, Juli, August sind drei normale Monate. Fast. Sie liegen eben nur im Sommer und so stehen Urlaub, Strand und Sommerhosen im Mittelpunkt. Nachrichten und Politik ruhen. "Themenarmut" ist die Folge in den Redaktionen, Fachbegriff: Sommerloch. Eine Suche von Stefan Ruwoldt
Im Sommer sind alle weg. Also, wer es sich leisten kann und wer sich fürs Reisen was ansparen kann. Sie baden dann schön im Meer, gucken von Bergen, erleben Abenteuer oder trinken einfach nur in Frankreich einen Aperol Spritz, der da natürlich anders heißt.
Die Übriggebliebenen führen zuhause die Geschäfte. Sie müssen sich am Telefon abfragen lassen, ob alles läuft und wenn sie dann im Besprechungsraum auf die Sitzung warten, sind sie allein. Alle im Urlaub.
Im Sommer stimmt die alte Ordnung nicht mehr. Und die Unordnung auch nicht. Die, die wegfahren, sind weg. Die, die hier geblieben sind, fallen in ein Loch, ins Sommerloch.
Ein Loch - oder nur eine Auszeit?
In der Politik bedeutet Sommerloch, dass Politikerinnen und Politiker dafür sorgen, dass sie in Restaurants oder Eisboutiquen fotografiert werden. Man kann sie anfassen. Sie sind Urlauber. Gregor Gysi schlendert ins Sommertheater auf Hiddensee. Traditionsbewusste, konservative Kolleginnen und Kollegen warten am Wolfgangsee (der heißt wirklich so) darauf, dass irgendwer ihre Ähnlichkeit mit Helmut Kohl erkennt. Und Franziska Giffey postet ein Foto von sich im Schneidersitz am Strand. Sie nennen es Auszeit. Oder ist das schon Sommerloch?
Linken-Politiker mit Sonnenbrand, Sozialdemokraten mit Soße auf dem Chemisett und Christdemokraten beim Benzinrasenmäherkauf - wenn man über so viel Schönes berichten kann, ist es doch kein Sommerloch.
Uriah Heep im Stadion der Freundschaft
Sommerloch bedeutet, dass alle überall leidende Tiere sehen, dann bei der Polizei anrufen und wenn die nicht antwortet, ist die erste Juli-Meldung schon mal sicher. Dachzeile: Behördenignoranz. Im August wittern Fernsehköche ihre Chance und verkünden, im Winter die Talkshow von Anne Will zu übernehmen - also wahrscheinlich. Überschrift: Delikate Personalie. Und Ende August kommen auch die Brandenburger Modellbahn-Freunde zu ihrer Schlagzeile: Vorbereitung der Modellbahntage in der St. Johanniskirche laufen nach Plan. Der Sommer ist die beste Zeit, um ausführlich über Spurweiten zu sprechen - im Oktober würde das Thema untergehen. Sommerfahrplan.
Der offizielle Höhepunkt dieses sommerlich neuen Blicks auf den Nachrichtenwert von Ereignissen ist alljährlich die Tour de France Anfang Juli. Man schläft bei der Übertragung bei Kilometer 78 im Liegestuhl ein und wacht bei Kilometer 121 wieder auf. Massensturz. Und zwar Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Es gibt sogar Berichterstattung über den Tour-de-France-Ruhetag - die hohe Schule des Sommerlochs. Gleich danach ein typisches Lesestück für August: Uriah Heep spielen im Cottbuser Stadion der Freundschaft. Ausverkauft. Also wahrscheinlich spielen sie und bestimmt wird es dann ausverkauft sein. "Unverwüstlich" könnte dann das letzte Wort eines "Lesestücks" darüber lauten. Die Fender bekommt hier eine Lederjacke übergezogen (ohne was drunter). Sommergitarre.
Organische Ursachen des Sommerlochs
Wenn man es genauer betrachtet, macht das Sommerloch sogar einen wirklich guten Job. Unsichere sommerlochverängstigte Redaktionen geben ihrer eigenen Berichterstattung im Juli und August keine Chance und heben investigative Themen für September auf: "Das geht jetzt unter, lass es uns in KW 36 rausblasen. Da geht das steil." Unter diesen Bedingungen nicht alle Zuschauer, Leser, Hörer oder Nutzer zu verlieren ist die hohe Kunst. Publizistische Größe also beweisen jene Redakteure, die mit ihren Themen auch auf die Wochen 23 bis 35 setzen. Sommerhelden.
Es gibt Sommergrippe, Sommerfell, Sommerfahrplan und es gibt den Sommerschwund, das jedenfalls hat die Uni Graz herausgefunden und hat diesen Schwund "den Ferieneffekt" [uni-graz.at] genannt. Die Zeitung "Welt" ist unvorsichtiger und überschreibt ihre Berichterstattung über den Zusammenhang von Sommerwärme und Denkdefiziten: "Hitze und Dummheit". Die "Focus"-Redaktion entlastet für den Sommer alle, die in genau dieser Jahreszeit Sachen vergessen und schreibt in ihrem Denken-im-Sommer-Artikel: "Hitze sorgt für Gedächtnisverlust". Der Tenor all dieser Berichte lautet: Nicht wir sind für das Sommerloch zuständig, weil wir vielleicht zu wenig machen, oder zu wenig passieren lassen, oder zu wenig nachdenken und das dann verkünden. Nein, verantwortlich für die kleinen und großen Sommerdefizite ist unser Körper. Sommerbody.
Gediegen sommerlich
Die einzig wirklich gültige Begründung für den ganz eigenen Charakter der Sommerberichterstattung lautet: Sie ist gediegen. Und solch eine ganz eigene, ruhige Sommerberichterstattung sorgt dafür, dass die Zeit nicht so rast und dass der Sommer fast nicht altert und dass der Sommer auch fast niemals stirbt - etwa so wie Uriah Heep und das Stadion der Freundschaft. Sommersause.