ARD-Reportage "Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen" - Jessy Wellmer spricht mit Ostdeutschen über Frust und neue Ostidentität

Fr 22.09.23 | 14:00 Uhr
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Pierre Bartholomäus steht in seiner Werkstatt und spricht mit Jessy Wellmer (Quelle: rbb/NDR/beckground TV)
Bild: rbb/NDR/beckground TV

Die AfD im Aufwind, Vorurteile über "Ossis" und die Fehler des Westens: 33 Jahre nach der Wiedervereinigung wird über den Osten Deutschlands emotionaler gestritten denn je. Jessy Wellmer ergründet für eine neue ARD-Reportage die ostdeutsche Gefühlslage.

Pierre Bartholomäus ist Fluggerätemechaniker und dafür mitverantwortlich für die Flugzeugsicherheit. Er ist zufrieden mit seinem Job, sagt er. Aber eines nervt ihn: Er, der Ostdeutsche, muss jede Woche zweieinhalb Stunden länger arbeiten als sein West-Kollege - bei gleichem Gehalt.

"Das trifft mich emotional ganz hart, muss ich wirklich sagen. Also es nervt die Leute, auch ständig an zweiter Stelle zu stehen, also so Mitarbeiter zweiter Klasse zu sein. Wir diskutieren hier permanent über die Gleichberechtigung von Mann und Frau und schaffen es aber nicht, hier Ost und West irgendwie mal anzugleichen", sagt Bartholomäus der ARD-Journalistin Jessy Wellmer. Nach ihrer letzten Reportage über das Verhältnis der Ostdeutschen zu Russland schrieb er ihr kritisch - jetzt ist er selbst Teil der neuen Reportage "Hört uns zu! Wir Ostdeutschen und der Westen" geworden.

AfD liegt in Umfragen im Osten vorn

Jessy Wellmer ist selbst Ostdeutsche, im mecklenburgischen Güstrow geboren und aufgewachsen. Sie begibt sich auf eine Reise durch Deutschlands Osten, um zu verstehen, was die Menschen gerade umtreibt, wie sie sich fühlen und wie sie das Verhältnis zum Westen sehen. Denn auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das Thema Wiedervereinigung offenbar nicht abgeschlossen: Gerade aktuell wird intensiv über den Osten debattiert.

Das liegt zum einen an den jüngsten Erfolgen der AfD im Osten: Die AfD stellt seit diesem Sommer bundesweit den ersten Landrat in Thüringen, den ersten hauptamtlichen Bürgermeister in Sachsen-Anhalt - in Umfragen liegt die AfD vor allen anderen Parteien in Sachsen, Thüringen und Brandenburg - wo im kommenden Jahr neue Landtage gewählt werden. Wellmer spricht mit Menschen, die wie so viele im Osten die rechtspopulistische AfD für eine politische Alternative halten, wie Bürger im brandenburgischen Seelow. "Wenn ich sehe, was da für ein Kasperletheater oben sitzt - es ist alles nur noch unmenschlich und die kriegen Geld für sinnlose Scheiße", sagt ihr ein Seelower über die Volksvertreter.

"Für jemand aus dem Osten bist du ganz nett"

Die lautstarken Debatten werden aber auch geführt, weil vermehrt ostdeutsche Stimmen zu hören sind, die in einem zornigen Ton den Westen, seinen Umgang mit dem Osten und eigene Diskriminierungserfahrungen anprangern. Der Zorn ist offenbar nicht nur dem Wunsch geschuldet, vom Westen gehört und besser verstanden zu werden. Er könnte auch Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins und einer ausgeprägten Ostidentität sein.

Der Autor Dirk Oschmann ist mit diesen Themen in den vergangenen Monaten zu einer Art Star des Ostens aufgestiegen. Wie kein zweiter befeuert er die aktuelle Ost-West-Debatte. Sein Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" ist eine polemische Abrechnung mit dem Westen. "Der Westen produziert Ausschlussmechanismen ohne Ende", sagt er Wellmer aufgebracht. Bei seinem Publikum kommen seine Thesen, wie "Der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet" gut an. Wellmer spricht in ihrer Reportage mit einer Besucherin: "Eins ist mir auch klar geworden durch die Lektüre des Buches: Es existiert nach wie vor die Diskriminierung. Es ist immer ein großes Erstaunen, was, du bist aus dem Osten, Du bist doch eigentlich ganz nett." Sie spreche solche Diskriminierungen inzwischen mit ihrem größeren ostdeutschen Selbstbewusstsein an.

Ausgeprägte Ostidentität unter Jüngeren

Teil des Films sind eigens in Auftrag gegebene repräsentative Umfragen, die die Stimmung in Ost- und Westdeutschland abbilden. Eine Umfrage zeigt zum Beispiel deutlich die unterschiedliche Identitätswahrnehmung von "Ossis" und "Wessis": In Ostdeutschland fühlen sich 40 Prozent eher als Ostdeutsche - und als Deutsche 52 Prozent, in Westdeutschland nur 18 Prozent als Westdeutsche - und als Deutsche 76 Prozent.

Junge Ostdeutsche stolz und gegen rechts

Das Erstaunliche: Vor allem für die Jüngeren, in den 1980ern und 1990ern Geborenen spielt das Thema Ost und West wieder eine große Rolle. Laut einer Studie der Otto-Brenner Stiftung von 2019 fühlen sich 68 Prozent der Ostdeutschen, die nach Mauerfall geboren wurden, dem Osten besonders verbunden. "Alle werden immer so gebasht dafür, dass sie im Osten leben. Und es ist doch ein bisschen geil, wenn man manchmal sagt, ja nö – ich find’s geil!", sagt Nina Kummer von der Chemnitzer Band Blond.

Ihr und ihren Bandmitgliedern, Schwester Lotta Kummer und Johann Bonitz, ist es wichtig, sich klar gegen das Vorurteil abzugrenzen, dass im Osten alle rechts wählen. "Das darf man nie vergessen, dass es hier einfach wirklich ein Haufen Nazis wohnen. Und das ist ein Problem. Aber wir wohnen halt auch hier und wir haben auch eine Geschichte zu erzählen und die ist positiver. Ich möchte eigentlich, dass man sich mit den Strukturen auseinandersetzt, die bekämpft und ich hier einfach trotzdem in der Stadt wohne, die mir gefällt", sagt Kummer.

Promis, Politiker, Bürgerinnen und Bürger kommen zu Wort

Auf der Suche nach Antworten spricht die Journalistin mit Menschen unterschiedlichen Alters und Hintergrunds, prominent als auch weniger bekannt. Neben Bestseller-Autor Dirk Oschmann und der Indie-Pop-Band Blond aus Chemnitz sind das unter anderem der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der Fußballtrainer Steffen Baumgart vom 1. FC Köln und der langjährige Chefredakteur der "Super-Illu" Jochen Wolff.

Jessy Wellmer reist nach Seelow und Zeuthen in Brandenburg und Leipzig, trifft Sozialwissenschaftler und Kommunalpolitiker, Bürgerinnen und Bürger, die stolz, frustriert, enttäuscht oder aktivistisch unterwegs sind. Sie alle eint, dass sie reden und gehört werden möchten.

Die ARD-Reportage "Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen" läuft am Montag, 25. September 20:15 Uhr im Ersten - oder ab Freitag, 22. September 18 Uhr in der ARD Mediathek.

Sendung: Im Ersten, 25.09.2023, 20:15 Uhr

47 Kommentare

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  1. 47.

    "Der Alltag war so normal wie heute auch" - "Aber in einigen Punkten wird es heute schlimmer als es in der DDR war"
    ECHT JETZT? Wünschen Sie sich zurück: Zensur + Reiseverbot + MFS-Übewachung + unfreie Wahlen + Konsum mit völlig eingeschränktem Warenangebot + Ostcola + Ostschokolade + Ostkaffee + Equisitläden + Intershops usw. usw. ???

  2. 45.

    Also meiner Familie und mir ging es sehr gut in der DDR. Die ewig übertriebenen Darstellungen heute wie furchtbar alles war - Quatsch. Der Alltag war so normal wie heute auch. Abstriche musste man damals wie heute machen. Aber in einigen Punkten wird es heute schlimmer als es in der DDR war. Man hat sich 1989 weniger bieten lassen von der Politik als heute.

  3. 44.

    Holla, bei vielen hier hat offenbar schon wieder mal die Gnade des erfolgreichen Verdrängens für verklärende Rückblicke gesorgt. Die gegenseitige Spitzelei und regide soziale Kontrolle, wegen der keiner (!) sicher sein konnte, ob nicht die eine oder andere Info beim MfS landet, war natürlich ganz "normal", aber klaro ....

  4. 43.

    "Bis 1989 hatte in der DDR eigentlich niemand ein normales Leben ..."
    Also im Westen hat man "normal" gelebt und im Osten "unnormal"?
    Heißt ja dann auch alle in den westlichen Demokratien ist das Leben normal und die anderen ...
    Genau solche Aussagen treiben diesen ganzen Ost-West-Sch...!

  5. 42.

    Meine Antwort bezieht sich auf Kommentar #35 von "Suse", 10:25 Uhr.

  6. 41.

    Dir wurde Deine West-Identität/Herkunft nicht genommen. Es gab auch keine Vereinigung sondern ein überstülpen des Westens. Wir wurden nun mal als Boomer in einem „anderen Land geboren/aufgewachsen“. Wenn man Dir diese Identität nimmt (Darstellung, Kunst, Geschichte usw) und alles nur miesgeredet wird von West-Seite, dann bildet sich da eine innere Mauer weil man klein gemacht wird. Und der RBB ist mehr SFB statt 50% DFF-Historie. Die Mehrheit ist Ost-Sendegebiet, findet aber nicht statt

  7. 40.

    Genauso sehe ich das auch. Warum ist immer noch die Rede von "alten" Bundesländern und "neuen" Bundesländern. Hört endlich auf damit! Es sind alles einfach deutsche Bundesländer!
    In meinem Umfeld ist das auch nie ein Thema, wer aus dem Osten, Westen oder sonstwo herkommt. In unserer Firma weiß so gut wie niemand, welche Kolleg:innen aus dem Westen und welche aus dem Osten kommen - es interessiert schlichtweg auch niemanden. Wir sind ein super Team und kommen miteinander gut aus. Wir haben allerdings auch viele ausländische Kolleg:innen - Franzosen, Bulgaren, Tschechen, Türkischstämmige, Russen, Inder - alles bunt durcheinander und international. Wir sind allerdings auch ein großer Konzern, wo dies einfach normal ist.

  8. 39.

    Wo hast Du denn „Deine“ Aussage kopiert? Die Sprüche sind doch eh alt und kommt immer zu passenden Anlässen raus. Glaube Dir das nicht annähernd was Du schreibst. Die Vor-Kommentare stimmen absolut. Ich hatte auch ein „normales“ Leben in der DDR. Mir ging es gut und fühlte mich nicht verfolgt. Klar war nicht alles toll - ist es heute auch nicht. Aber Dir scheint man die eigene Identität bereits geraubt zu haben. Du müsstest langsam aber merken wo es wieder hingeht wenn Du so argumentierst

  9. 38.

    Wenn ich als Wessi im ÖRR immer höre, Osten, Westen, dann zeigt doch ganz deutlich auf dass die Medien die Trennung immer aufrecht erhalten. Man, es ist nicht der Osten oder der Westen, es ist Deutschland, begreift das endlich!

  10. 37.

    Bis 1989 hatte in der DDR eigentlich niemand ein normales Leben, weil die Menschen dort verdammt nochmal in einer Diktatur gelebt haben. Das Verharmlosen einer Diktatur und gleichzeitiges verächtlich machen einer Demokratie ist irgendwie typisch rechtsextrem...

  11. 36.

    "... Höhenflug der AfD ..."
    Wird dieser in den alten Bundesländern auch so viel "Aufmerksamkeit" beigemessen?
    Hessen, NRW, Saarland ect. Zuwächse von 5 bis 17 %.

  12. 35.

    Na die Geheule-Art von Dir müssen wir schon medial seit 33 Jahren ertragen. Ich hatte auch bis 89 ein normales Leben im Osten. Und heute ist vieles bereits schlimmer als zu DDR-Zeiten

  13. 34.

    Zum Thema: Gleichberechtigung zwischen Ossi und Wessi: Wir sind alle Deutsche, uns trennen nur die Himmelsrichtungen

  14. 33.

    Das beobachten wir auch seit Mitte der 90er gerade in Ungarn (Balaton jedes Jahr). Und wenn die Politik (Orban) dagegen steuert dann ist er der Böse für den Westen.

  15. 32.

    Nach dem wegfallen der Mauer bin ich gleich nach München gefahren um meine Obdachlosigkeit dort zu fristen. erstaunt hatte mich wie viele. Westdeutsche das gleiche Schicksal mit mir teilen mussten das Leid war das gleiche.

  16. 31.

    Stimmt, und nun macht es Deutschland in Brüssel mit der gesamten EU so. Wer öfter mal nach Ungarn, Polen, exCSSR usw muss sieht das sofort. Einheimisches wird aufgekauft und platt gemacht, danach wird mit Westwaren, Handelsketten und andere Industrie/Agra-Firmen, der Rest wird im Handel abgeschöpft. Auch eine ökonomischer Form Imperialismus - aber wir sind ja „die Guten“.
    Dazu noch Medien übernehmen (Presse/TV) und Ideologie verbreiten.

  17. 30.

    Dieses ewige Gejammer geht mir gehörig auf den Geist, diese freiwillige Selbstverzwergung.
    Die nachträgliche Schönfärberei, wie toll es in der DDR angeblich gewesen sei, ebenfalls.
    Warum gab es dann aus Ihrer Sicht 1989 diese Massenproteste? Weil alle so zufrieden mit ihrem Leben waren?
    Ich stamme selbst aus Leipzig und weiß, wovon ich rede.
    Ein Staat, der seine Bevölkerung mit einer Art Gefängnismauer glaubt einhegen zu können, ist völlig zu recht untergegangen. Nach über 33 Jahren sollte doch mal ein Stück Selbstreflektion einsetzen, meinen Sie nicht auch?
    Eine kritische Sicht auf die DDR-Zeit. Es hatte seine Gründe, warum die Entwicklung so kam.

  18. 29.

    Nach Honecker kam die Treuhand um das Elend größer zu machen. Dann ging es etwas aufwärts bis zur Ampelregierung die uns den Rest gibt. Alles schon 2x erlebt - der Osten ist da sensibler. Im Westen kennt man es nicht anders - bisher. Die lernen noch dazu, ganz sicher

  19. 28.

    Ich lebte gern in der DDR, es ging mir gut und wir hatten einen normalen Alltag, Kinder, Job usw.
    Nach 1990 war alles plötzlich schlecht - Künstler, eigene Geschichte, eigene glückliche Jugend, Job, Filme. Der Westen war nicht gezwungen seine Identität komplett abzulegen und alles zu verleugnen. Und heute sieht man eine Entwicklung die man schonmals erlebte seit 1988 auf der Ostseite. Die Boomer kennen es noch, was nach 1980 im Osten geboren wurde kennt es bewusst kaum noch.

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