Opferschutzbeauftragter Berlins - "Unser Grundproblem bis heute ist, die Opfer zu erreichen"
Vor zehn Jahren wurde Rechtsanwalt Roland Weber zum Opferschutzbeauftragten Berlins berufen. rbb|24 berichtet exklusiv über seinen neuen Bericht zur Situation der Opfer von Straftaten in Berlin. Darin mahnt Weber, nicht nachzulassen. Von Ulf Morling
"Zwischen dem, was ich 2012 vorgefunden habe und wie es heute ist, liegen Welten", sagt Rechtsanwalt Roland Weber. Er wurde vor zehn Jahren der erste Opferbeauftragte Berlins.
Bei der Senatsverwaltung für Justiz angesiedelt, war Weber zu Beginn allein für diesen Bereich zuständig. In seiner ehrenamtlichen Arbeit seit Oktober 2012 hat er unter anderem erreicht, dass es in der Senatsverwaltung ein Opferreferat "mit hochqualifizierten Mitarbeiter:innen" gibt, das sich mit den Fragen des Opferschutzes beschäftigt. Es gibt inzwischen auch eine zentrale Anlaufstelle im Falle eines Amoklaufs oder eines terroristischen Anschlags.
Es gibt inzwischen eine zentrale Anlaufstelle im Falle eines Amoklaufs oder eines terroristischen Anschlags, Arbeitsgruppen und Pilotprojekte, wie sie im Bundesgebiet einzigartig seien, sagt Weber. Die "ganz große Errungenschaft" sei aber die seit August 2021 tätige Servicestelle für Betroffene von Straftaten: "Proaktiv" in Berlin [proaktiv-berlin.org].
Ausbau der Hilfsangebote mit neuer Strategie
Nach wie vor sei das größte Problem, Opfer zu erreichen und dann über die Hilfsangebote in Berlin zu informieren. "Wir dürfen beim Opferschutz nicht nachlassen", sagt Weber im Exklusivinterview mit rbb|24.
Während der Gesetzgeber vorsah, dass Opfer von Straftaten allenfalls über Hilfsangebote zu informieren sind - "was oft schon nicht klappt" - habe er eine andere Herangehensweise verfolgt, sagt Weber: die Opfer proaktiv anzusprechen. Einer vergewaltigten und misshandelten Frau soll beispielsweise nicht lediglich von der Polizei ein Zettel in die Hand gedrückt werden, auf dem die Telefonnummern der Berliner Frauenhäuser zu lesen sind.
Um das zu ändern, sei im August in Berlin das bundesweit einmalige Pilotprojekt "Proaktiv" ins Leben gerufen worden. "Eine ganz, ganz wichtige Neuerung", so Weber. Die Opfer von Straftaten müssten nach einer Tat lediglich per Unterschrift ihr (auch datenschutzrechtliches) Einverständnis erklären, dass sie kontaktiert werden dürfen. "Und binnen zwei bis drei Tagen wird sich eine Opferhilfsorganisation melden und Angebote unterbreiten, wie diesem Opfer ganz konkret geholfen werden kann." 1.700 Opfer von Straftaten seien durch "Proaktiv" in einem Jahr an Hilfseinrichtungen vermittelt worden.
Weber betont in seinem aktuellen Bericht, dass auch 2021 die Zahl der Opfer von Straftaten bei über 80.000 Menschen gelegen habe - trotz der Corona-Pandemie der letzten Jahre. Während die Raubdelikte rückläufig waren, ist die Zahl gemeldeter Sexualdelikte und Delikte an Kindern laut polizeilicher Kriminalstatistik beispielsweise beim Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornographischer Schriften um 1.230 Fälle - also um 192,5 Prozent - gestiegen. Der Berliner Opferschutzbeauftragter folgert auch in diesem Jahresbericht, dass "allein die Gesamtzahl sämtlicher Opfer […] so hoch [ist], dass die Anstrengungen und Tätigkeiten beim Opferschutz nicht nachlassen dürfen."
Wichtige Verbesserungen der letzten zehn Jahre
Noch vor wenigen Jahren mussten Opfer von Straftaten zuerst bei der Polizei aussagen, später dann zum Teil mehrfach vor Gericht. "Besonders für schwer Traumatisierte war das überhaupt nicht gut", sagt Weber, weil wissenschaftlich bewiesen sei, dass die Gefahr von Retraumatisierungen dann besonders hoch sei - insbesondere für Kinder und schwer geschädigte Opfer.
Zwar würden Opfer nach einer Straftat immer noch durch die Polizei vernommen, aber insbesondere Kinder würden danach in einer Videovernehmung durch eine:n Ermittlungsrichter:in befragt, so dass sie nur noch selten in den Gerichtssaal müssten. Die Berliner Polizei habe auch technisch für Videovernehmungen enorm aufgerüstet "und zumindest in der Theorie verfügen alle Dienststellen über die Gerätschaften".
Seit 2017 gibt es darüber hinaus die "psychosoziale Prozessbegleitung", bei der geschulte Sozialarbeiter das Opfer zu Polizei- und Gerichtsterminen zu Hause abholen, zu den Terminen begleiten und Lebenshilfe leisten, so Rechtsanwalt Weber. "Sie reden mit den Opfern nicht über den Fall, dafür gibt es die Anwälte. Aber sie sollen sie begleiten und menschlich stärken."
Im Jahr 2015/16 habe er bereits den proaktiven Zugang auf die Opfer von Straftaten angemahnt, der im Moment zwar nur als Modellprojekt in der Polizeidirektion 2 (zuständig für Spandau und Charlottenburg-Wilmersdorf) praktiziert würde, 2023 aber ausgeweitet werden solle.
Auch habe er opferbezogene Fortbildungen innerhalb der Polizei angeregt, sagt Weber. "Wenn ich jetzt meine Jahresberichte der letzten sechs bis acht Jahre durchblättere, ist interessant zu sehen, dass durch die im Netzwerk der im Opferschutz Tätigen und mir Dinge angemahnt wurden, die inzwischen tatsächlich umgesetzt sind." Bei der heutigen Ausbildung der Polizei würde darüber hinaus das Opfermodul ganz anders gelehrt: Es habe eine ganz andere Bedeutung, bei der es um Rechte und Möglichkeiten der Hilfe für die Opfer gehe. "Es wird ein sensiblerer Umgang mit Opfern gelehrt und auch praktiziert."
Riesenlücke bei der Betreuung von Verkehrsopfern
So sehr er sich als Opferbeauftragter Berlins auf der einen Seite über viele Fortschritte freue, so Weber im Interview, gebe es aber auf der anderen Seite "eklatante Defizite, insbesondere bei der Betreuung von Verkehrsopfern und deren Angehörigen". Zwar würde die Anzahl der Getöteten im Straßenverkehr ungefähr der Zahl der Opfer bei vorsätzlichen Straftaten entsprechen - dazu komme bei den Verkehrsopfern aber noch eine hohe Zahl an Schwerverletzten, die oft unter Langzeitfolgen litten, die deren Leben nachhaltig verändern. Weber sieht eine "Riesenlücke bei der Betreuung von Verkehrsopfern" und deren Hinterbliebenen. Diese Gruppe werde "schlecht bis gar nicht betreut".
In vielen Satzungen von Hilfsvereinen sei enthalten, dass sie Opfer von Vorsatzstraftaten betreuten. Damit seien Verkehrsopfer und deren Angehörige ausgeschlossen. Das betrifft unter anderem fahrlässig im Straßenverkehr Verletzte und Getötete, beispielsweise wenn ein PKW oder LKW beim Abbiegen einen Fußgänger oder Radfahrer nicht wahrnimmt und ihn tödlich verletzt. Zwar könnten Versicherungsleistungen in Anspruch genommen werden, aber die "menschlichen Aspekte der Begleitung von Opfern und Angehörigen, die dann oft so wichtig sind, fallen völlig hinten runter". Da müsse dringend nachgesteuert werden, sagt Weber.
Rechte Gewalt gegen Flüchtlinge
Der Berliner Opferbeauftragte mahnt in seinem aktuellen Opferbericht auch an, die Opfer rechter Gewalt gegen nach Deutschland Geflüchtete "verlässlich zu erfassen". Während die Berliner Polizei 2021 insgesamt 50 Straftaten im Bereich Ausländer-/Asylthematik erfasst habe, veröffentlichte "Reachout", eine Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in einer Presseerklärung, dass es in Berlin im Jahr 2021 zu 353 Angriffen mit rassistischen, rechten und antisemitischen Motiven gekommen sei - ohne allerdings die Gruppe der Geflüchteten einzeln zu erheben. Bei dieser Differenz dränge sich "eine genauere Untersuchung" auf, schreibt Weber im Opferbericht 2021. Zudem bezögen sich die genannten Zahlen auf das sogenannte Hellfeld, also die angezeigten Vorfälle. Viele Hilfseinrichtungen gingen aber davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher sei, weil Betroffene teils keine Anzeige erstatteten.
Im 2015/16 war in Berlin eine Weisung erlassen worden, die die Abschiebung von Opfern rechter Gewalt zumindest hinauszuzögern sollte, um sie beispielsweise als Zeugen für den Strafprozess nutzen können. Zwar begrüße er die Symbolwirkung der Regelungen, sagt Weber. Sie käme aber in der Praxis kaum zur Anwendung und sei "ungeeignet", um Opfer flüchtlingsspezifischer Gewalt zu schützen. Der Opferbeauftragte fordert eine bundeseinheitliche Änderung im Aufenthaltsgesetz […], die unter anderem eine Abschiebung von Flüchtlingen verhindert, die Opfer rechter Gewalt waren und als Zeugen für das Strafverfahren wichtig sind.
Als Fazit sagt der ehrenamtlich tätige Berliner Opferbeauftragte Roland Weber zu seinem Neunten Bericht zur Situation der Opfer von Straftaten im Land Berlin 2021: "Wir haben in den letzten zehn Jahren viel erreicht für die Opfer von Straftaten, dürfen aber niemals nachlassen."
Sendung: rbb24 88,8, 18.11.2022, 06:00 Uhr