Opferschutzbeauftragter Berlins - "Unser Grundproblem bis heute ist, die Opfer zu erreichen"

Fr 18.11.22 | 06:59 Uhr | Von Ulf Morling
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Symbolbild:Eine Person hält eine Grabkerze zum Gedenken an Opfer in den Händen.(Quelle:dpa/Geisler-Fotopress)
Audio: rbb 88,8 | 18.11.2022 | Ulf Morling/Natascha Gutschmidt | Bild: dpa/Geisler-Fotopress

Vor zehn Jahren wurde Rechtsanwalt Roland Weber zum Opferschutzbeauftragten Berlins berufen. rbb|24 berichtet exklusiv über seinen neuen Bericht zur Situation der Opfer von Straftaten in Berlin. Darin mahnt Weber, nicht nachzulassen. Von Ulf Morling

"Zwischen dem, was ich 2012 vorgefunden habe und wie es heute ist, liegen Welten", sagt Rechtsanwalt Roland Weber. Er wurde vor zehn Jahren der erste Opferbeauftragte Berlins.

Bei der Senatsverwaltung für Justiz angesiedelt, war Weber zu Beginn allein für diesen Bereich zuständig. In seiner ehrenamtlichen Arbeit seit Oktober 2012 hat er unter anderem erreicht, dass es in der Senatsverwaltung ein Opferreferat "mit hochqualifizierten Mitarbeiter:innen" gibt, das sich mit den Fragen des Opferschutzes beschäftigt. Es gibt inzwischen auch eine zentrale Anlaufstelle im Falle eines Amoklaufs oder eines terroristischen Anschlags.

Es gibt inzwischen eine zentrale Anlaufstelle im Falle eines Amoklaufs oder eines terroristischen Anschlags, Arbeitsgruppen und Pilotprojekte, wie sie im Bundesgebiet einzigartig seien, sagt Weber. Die "ganz große Errungenschaft" sei aber die seit August 2021 tätige Servicestelle für Betroffene von Straftaten: "Proaktiv" in Berlin [proaktiv-berlin.org].

Ausbau der Hilfsangebote mit neuer Strategie

Nach wie vor sei das größte Problem, Opfer zu erreichen und dann über die Hilfsangebote in Berlin zu informieren. "Wir dürfen beim Opferschutz nicht nachlassen", sagt Weber im Exklusivinterview mit rbb|24.

Während der Gesetzgeber vorsah, dass Opfer von Straftaten allenfalls über Hilfsangebote zu informieren sind - "was oft schon nicht klappt" - habe er eine andere Herangehensweise verfolgt, sagt Weber: die Opfer proaktiv anzusprechen. Einer vergewaltigten und misshandelten Frau soll beispielsweise nicht lediglich von der Polizei ein Zettel in die Hand gedrückt werden, auf dem die Telefonnummern der Berliner Frauenhäuser zu lesen sind.

Um das zu ändern, sei im August in Berlin das bundesweit einmalige Pilotprojekt "Proaktiv" ins Leben gerufen worden. "Eine ganz, ganz wichtige Neuerung", so Weber. Die Opfer von Straftaten müssten nach einer Tat lediglich per Unterschrift ihr (auch datenschutzrechtliches) Einverständnis erklären, dass sie kontaktiert werden dürfen. "Und binnen zwei bis drei Tagen wird sich eine Opferhilfsorganisation melden und Angebote unterbreiten, wie diesem Opfer ganz konkret geholfen werden kann." 1.700 Opfer von Straftaten seien durch "Proaktiv" in einem Jahr an Hilfseinrichtungen vermittelt worden.

Weber betont in seinem aktuellen Bericht, dass auch 2021 die Zahl der Opfer von Straftaten bei über 80.000 Menschen gelegen habe - trotz der Corona-Pandemie der letzten Jahre. Während die Raubdelikte rückläufig waren, ist die Zahl gemeldeter Sexualdelikte und Delikte an Kindern laut polizeilicher Kriminalstatistik beispielsweise beim Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornographischer Schriften um 1.230 Fälle - also um 192,5 Prozent - gestiegen. Der Berliner Opferschutzbeauftragter folgert auch in diesem Jahresbericht, dass "allein die Gesamtzahl sämtlicher Opfer […] so hoch [ist], dass die Anstrengungen und Tätigkeiten beim Opferschutz nicht nachlassen dürfen."

Wichtige Verbesserungen der letzten zehn Jahre

Noch vor wenigen Jahren mussten Opfer von Straftaten zuerst bei der Polizei aussagen, später dann zum Teil mehrfach vor Gericht. "Besonders für schwer Traumatisierte war das überhaupt nicht gut", sagt Weber, weil wissenschaftlich bewiesen sei, dass die Gefahr von Retraumatisierungen dann besonders hoch sei - insbesondere für Kinder und schwer geschädigte Opfer.

Zwar würden Opfer nach einer Straftat immer noch durch die Polizei vernommen, aber insbesondere Kinder würden danach in einer Videovernehmung durch eine:n Ermittlungsrichter:in befragt, so dass sie nur noch selten in den Gerichtssaal müssten. Die Berliner Polizei habe auch technisch für Videovernehmungen enorm aufgerüstet "und zumindest in der Theorie verfügen alle Dienststellen über die Gerätschaften".

Seit 2017 gibt es darüber hinaus die "psychosoziale Prozessbegleitung", bei der geschulte Sozialarbeiter das Opfer zu Polizei- und Gerichtsterminen zu Hause abholen, zu den Terminen begleiten und Lebenshilfe leisten, so Rechtsanwalt Weber. "Sie reden mit den Opfern nicht über den Fall, dafür gibt es die Anwälte. Aber sie sollen sie begleiten und menschlich stärken."

Wir haben in den letzten zehn Jahren viel erreicht für die Opfer von Straftaten, dürfen aber niemals nachlassen

Roland Weber, Berlins Opferschutzbeauftragter

Im Jahr 2015/16 habe er bereits den proaktiven Zugang auf die Opfer von Straftaten angemahnt, der im Moment zwar nur als Modellprojekt in der Polizeidirektion 2 (zuständig für Spandau und Charlottenburg-Wilmersdorf) praktiziert würde, 2023 aber ausgeweitet werden solle.

Auch habe er opferbezogene Fortbildungen innerhalb der Polizei angeregt, sagt Weber. "Wenn ich jetzt meine Jahresberichte der letzten sechs bis acht Jahre durchblättere, ist interessant zu sehen, dass durch die im Netzwerk der im Opferschutz Tätigen und mir Dinge angemahnt wurden, die inzwischen tatsächlich umgesetzt sind." Bei der heutigen Ausbildung der Polizei würde darüber hinaus das Opfermodul ganz anders gelehrt: Es habe eine ganz andere Bedeutung, bei der es um Rechte und Möglichkeiten der Hilfe für die Opfer gehe. "Es wird ein sensiblerer Umgang mit Opfern gelehrt und auch praktiziert."

Riesenlücke bei der Betreuung von Verkehrsopfern

So sehr er sich als Opferbeauftragter Berlins auf der einen Seite über viele Fortschritte freue, so Weber im Interview, gebe es aber auf der anderen Seite "eklatante Defizite, insbesondere bei der Betreuung von Verkehrsopfern und deren Angehörigen". Zwar würde die Anzahl der Getöteten im Straßenverkehr ungefähr der Zahl der Opfer bei vorsätzlichen Straftaten entsprechen - dazu komme bei den Verkehrsopfern aber noch eine hohe Zahl an Schwerverletzten, die oft unter Langzeitfolgen litten, die deren Leben nachhaltig verändern. Weber sieht eine "Riesenlücke bei der Betreuung von Verkehrsopfern" und deren Hinterbliebenen. Diese Gruppe werde "schlecht bis gar nicht betreut".

In vielen Satzungen von Hilfsvereinen sei enthalten, dass sie Opfer von Vorsatzstraftaten betreuten. Damit seien Verkehrsopfer und deren Angehörige ausgeschlossen. Das betrifft unter anderem fahrlässig im Straßenverkehr Verletzte und Getötete, beispielsweise wenn ein PKW oder LKW beim Abbiegen einen Fußgänger oder Radfahrer nicht wahrnimmt und ihn tödlich verletzt. Zwar könnten Versicherungsleistungen in Anspruch genommen werden, aber die "menschlichen Aspekte der Begleitung von Opfern und Angehörigen, die dann oft so wichtig sind, fallen völlig hinten runter". Da müsse dringend nachgesteuert werden, sagt Weber.

Opferbeauftragter des Landes Berlin Roland Weber (Quelle: rbb/Ulf Morling)
Opferschutzbeauftragter Roland Weber. | Bild: rbb/Ulf Morling

Rechte Gewalt gegen Flüchtlinge

Der Berliner Opferbeauftragte mahnt in seinem aktuellen Opferbericht auch an, die Opfer rechter Gewalt gegen nach Deutschland Geflüchtete "verlässlich zu erfassen". Während die Berliner Polizei 2021 insgesamt 50 Straftaten im Bereich Ausländer-/Asylthematik erfasst habe, veröffentlichte "Reachout", eine Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in einer Presseerklärung, dass es in Berlin im Jahr 2021 zu 353 Angriffen mit rassistischen, rechten und antisemitischen Motiven gekommen sei - ohne allerdings die Gruppe der Geflüchteten einzeln zu erheben. Bei dieser Differenz dränge sich "eine genauere Untersuchung" auf, schreibt Weber im Opferbericht 2021. Zudem bezögen sich die genannten Zahlen auf das sogenannte Hellfeld, also die angezeigten Vorfälle. Viele Hilfseinrichtungen gingen aber davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher sei, weil Betroffene teils keine Anzeige erstatteten.

Im 2015/16 war in Berlin eine Weisung erlassen worden, die die Abschiebung von Opfern rechter Gewalt zumindest hinauszuzögern sollte, um sie beispielsweise als Zeugen für den Strafprozess nutzen können. Zwar begrüße er die Symbolwirkung der Regelungen, sagt Weber. Sie käme aber in der Praxis kaum zur Anwendung und sei "ungeeignet", um Opfer flüchtlingsspezifischer Gewalt zu schützen. Der Opferbeauftragte fordert eine bundeseinheitliche Änderung im Aufenthaltsgesetz […], die unter anderem eine Abschiebung von Flüchtlingen verhindert, die Opfer rechter Gewalt waren und als Zeugen für das Strafverfahren wichtig sind.

Als Fazit sagt der ehrenamtlich tätige Berliner Opferbeauftragte Roland Weber zu seinem Neunten Bericht zur Situation der Opfer von Straftaten im Land Berlin 2021: "Wir haben in den letzten zehn Jahren viel erreicht für die Opfer von Straftaten, dürfen aber niemals nachlassen."

Sendung: rbb24 88,8, 18.11.2022, 06:00 Uhr

Beitrag von Ulf Morling

6 Kommentare

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  1. 6.

    Das Problem ist, daß viele Opfer gar keine Anzeige erstatten und damit unerkannt im Dunkelfeld bleiben. Wenn es erst ein Urteil gibt, ist es sehr spät für Hilfe. Die Hilfe muß sofort nach der Straftat beginnen und nicht erst nach dem Urteil. Die Verbrecher müßten ihre Opfer sofort an die Opferschutzvereine melden. Da sie das aber nicht tun, muß es die Polizei machen. Das ist im Text auch so geschrieben. Damit bekommen die Opfer die Hilfe schon während der Ermittlungen und des Gerichtsverfahrens. @3: Warum verstehst du diesen Satz nicht? Für mich ist er klar verständlich. Ich würde die Forderung aber weiter fassen, daß Opfer rechter ausländerfeindlicher Straftaten nicht nur bis zu deren Aufklärung und Verurteilung in D bleiben dürfen, sondern für immer. Damit würden die Rechten mit ihren Verbrechen das Gegenteil von dem erreichen, was sie wollen. Die Kosten dafür müssen natürlich die Rechten übernehmen. @1+4+5 stimme ich zu.

  2. 5.

    Auffallend ist an diesem Bericht, dass ausdrücklich Opfer rechter Gewalt erwähnt und hervorgehoben werden. Von den Amokläufen durch Schutzsuchende, Messerattacken usw. oder terroristischen Anschlägen ist nur von Arbeitsgruppen und Pilotprojekten die Rede. Gibt es dafür einen Grund ? Hat man denn schon mal etwas von den Opfern vom Breitscheidplatz gehört und den Anderen, wie die Schulklasse von der Amokfahrt am Kudamm ? Alle wieder gesund und munter ?

  3. 4.

    Da hat er recht. Wir brauchen die Zeugen hier vor Ort.

  4. 3.

    @rbb Bemerkenswert und dringend änderungswürdig. Gern mehr über den Umgang mit Schwerverletzten von Verkehrsunfällen berichten; und wie es diesen Menschen damit geht.
    @rbb Folgender Satz ist für mich unverständlich: "Der Opferbeauftragte fordert "eine bundeseinheitliche Änderung im Aufenthaltsgesetz […], die unter anderem eine Abschiebung von Flüchtlingen, die Opfer rechter Gewalt waren und als Zeugen für das Strafverfahren wichtig sind."

  5. 2.

    Wie kommt man an die Opfer ran? Nach einem Urteil kennt man die Geschädigten und dessen Familien. Was wäre, wenn Richter im Urteil, genau diese Opferbetreuung und Schadenersatz gleich mitentscheiden? Dann wäre die Verbindlichkeit bindend, statt weiteres Rechteeinklagen.
    Oder anders, wenn dies nicht gemacht wird, ist die Gesetzeslage ungenügend. Die ist aber nicht "in Stein gemeißelt". Welche Politiker haben das auf der Agenda?
    Die Opferverbände verrichten sehr gute (unbezahlte) Carearbeit besser und professioneller als die "Handwerker des Rechts", also die Strafverfolger, je könnten.

    P.S. Inwieweit die Anzahl der kostenpflichtigen Prozesse gewollt/ungewollt ist, ist schwer zu sagen.

  6. 1.

    Es ist ein guter Schritt in die richtige Richtung, aber leider noch zuwenig. Oft auch, weil die Politik die Notwendigkeit dafür einfach ignoriert, statt selbst tätig zu werden. Gäbe es keine Initiativen von Ehrenamtlichen wie diesen, wäre der Opferschutz immer noch im Mittelalter.
    "...Riesenlücke bei der Betreuung von Verkehrsopfern..." Diese sollten gleichbehandelt werden wie alle Opfer. Nicht selten werden aufgrund von rücksichtlosen Rasern u. Fahrern, die meinen, die StVO gilt nicht für sie, Menschen zum Opfer. Die Traumata danach sind ähnlich wie bei Gewaltverbrechen. Nur Opfer von Vorsatzstraftaten werden betreut? Wie soll man es nennen, wenn Fahrer eines 400-600 PS-Boliden gegen jede Regel verstoßen und somit wissentlich Leben riskieren? Für mich klingt das nach Vorsatz, wenn jmd. so etwas billigend in Kauf nimmt. Aber auch hier ist die Politik gefragt, schnellstens das StGB zu modifizieren.

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