Tegeler Flüchtlingszentrum - "Diese Kleinstadt braucht einen Bürgermeister"

Mi 11.10.23 | 18:57 Uhr | Von Sebastian Schöbel
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Berlin Tegel Ankunftszentrum (Quelle: rbb)
Bild: rbb

Mehr als 7.000 Menschen könnten bald im Tegeler Flüchtlingszentrum leben. Im Berliner Senat gibt es nun Streit über das weitere Management. Die SPD hält den Standort für groß genug für eine eigene Projektgruppe. Von Sebastian Schöbel

Valentina beißt genüsslich in ein Brötchen und rührt dabei eine Paprikasuppe mit Hähnchenwürfeln um. Ihr Rollstuhl steht ein wenig weg von der Bierzeltgarnitur, aber das scheint sie genauso wenig zu stören wie der Lärm, der in der Essensausgabe im Tegeler Flüchtlingszentrum um sie herum tobt. "Wie im Paradies" sei das hier, sagt die 84-Jährige.

Sie faltet die Hände zusammen und lacht, ihre Zahnprothesen glitzern metallisch. Überall werde ihr geholfen, auch zu Terminen fahre sie immer jemand. "Gute Menschen sind das", sagt sie.

In ihrer Heimat Saporischschja habe sie es wegen der ständigen Bombardierungen nicht mehr ausgehalten. Sie wirft die Hände in die Luft und blickt für einen Moment sehr ernst. "Die Russen versuchen die ganze Zeit, die Stadt einzunehmen, das habe ich nicht mehr ausgehalten."

Sabri und Emine stehen am Rand der Essensausgabe in der Leichtbauhalle und schauen etwas skeptischer: Das junge Ehepaar ist aus der Türkei geflohen. "Sie wissen, wie es da aussieht", sagt Sabri und senkt den Blick. Wie er nennen viele seiner Landesleute, die zurzeit die größte Gruppe der Berliner Flüchtlinge ausmachen, die politische Lage und die schweren Erdbeben mit fast 60.000 Todesopfern als Grund für ihre Flucht.

Ständig fahren in Tegel Busse vor

Im Ankunftszentrum Tegel sind sie seit Mitte September, die Orientierung falle noch schwer. "Für Kinder ist es etwas problematisch", sagt Emine. Man sei enger zusammengepfercht. Ihr Sohn ist acht, die Tochter sechs Jahre alt, beide Kinder seien gesundheitlich angeschlagen. Große Probleme habe man aber nicht, ihnen werde mit allem geholfen.

Die alte Dame aus der Ukraine und die vierköpfige Familie aus der Türkei gehören zu den rund 4.200 Bewohner:innen des Ankunftszentrums in Tegel. Etwa 3.000 kommen wie sie aus der Ukraine, etwas mehr als 1.100 weitere sind Asylsuchende aus anderen Ländern. Die Zahlen verändern sich täglich, ständig fahren neue Busse vor.

Im früheren Terminal C, wo noch sämtliche Schilder aus der Flughafenzeit hängen und Gepäckbänder stehen, sitzen Neuankömmlinge auf riesigen Taschen, während um sie herum Bewohner:innen für Besorgungen herumlaufen. In langen Leichtbauhallen, die nur von weiter weg wie Zelte aussehen, schläft man in Tegel auf schlichten Doppelstockbetten.

Überall hängen mehrsprachige Hinweisschilder: wo es zum Tanz- und Boxkurs geht, wo zur Essensausgabe, und dass man auf Taschendiebe achten müsse. Zwischen den Hallen spielen Kinder Fußball auf dem Beton, es fahren Busse und Autos im Minutentakt auf markierten Fahrbahnen, überall sind Menschen unterwegs.

Bis Jahresende könnten 7.000 Menschen in Tegel leben

Im Hintergrund stehen bereits die Gerüste für weitere Leichtbauhallen: 760 weitere Plätze sollen hier noch im Oktober bezogen werden. Bis Ende des Jahres könnten mehr als 7.000 Menschen im Flüchtlingszentrum leben. Zwar akquiriert und baut das LAF ständig weitere Unterkünfte, doch der Zustrom von Geflüchteten hält an.

Von Januar bis September kamen fast 12.000 Menschen aus der Ukraine und beinahe genauso viele als Asylsuchende aus anderen Ländern, vor allem der Türkei, Syrien und Afghanistan. Rund ein Drittel, so die Prognose der Sozialverwaltung, bleibt langfristig in Berlin.

"Jeder, der behauptet, das ist der schönste Ort der Welt, würde lügen", sagt Sozialstaatssekretär Aziz Bozkurt (SPD). "Wir machen das Nötigste, das Schnellste, was wir hinbekommen." Bozkurt leitet kommissarisch auch das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), das den Standort Tegel maßgeblich aufgebaut hat. Von einem temporären Ankunftszentrum oder einer Drehscheibe redet er längst nicht mehr. Er nennt es eine "kleine Stadt", in der Menschen inzwischen mehrere Monate leben, manche schon seit fast einem Jahr.

"Diese Kleinstadt braucht einen Bürgermeister, Dezernenten und Stadträte", sagt der SPD-Politiker. Gemeint ist das im übertragenen Sinne: Bozkurt wünscht sich für das größte Berliner Flüchtlingslager eine eigene Projektgruppe, die eigenständig und tagesaktuell entscheiden kann. "Das ist in diesem Bereich das größte, was Deutschland je gemacht hat, da gibt es nirgendwo Erfahrung", so Bozkurt. "Wir müssen schnell schauen, wie diese Kleinstadt zum Leben gebracht wird."

Bozkurt widerspricht Wegner

Damit widerspricht Bozkurt allerdings dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner von der CDU. Der hatte am Dienstag nach der Sitzung des Senats betont, dass die derzeitigen Entscheidungsstrukturen ausreichend seien. Überlegungen, eine zusätzliche Projektsteuerung für die Unterkunft in Tegel einzurichten, wie es zuvor schon Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) senatsintern vorgeschlagen hatte, lehnte Wegner ab.

"Jetzt können wir über Jahre Strukturdebatten führen", so Wegner, "aber es geht doch darum, dass wir jedem Menschen ein Dach über dem Kopf anbieten". Damit ging Wegner auf Distanz zu seinem Koalitionspartner SPD und vor allem der zuständigen Sozialsenatorin, die ohnehin nur mit großen Bauchschmerzen die von Wegner bevorzugten Massenunterkünfte ausbaut. Wer das Gefühl habe, man bekomme es nicht hin, solle dies offen sagen, fügte Wegner hinzu.

Das Flüchtlingszentrum in Tegel soll bislang bis Ende 2024 in Betrieb bleiben. Dass man die winterfesten Leichtbauhallen deutlich länger brauchen könnte, ist ein offenes Geheimnis. Nach rbb-Informationen kostet der Standort allein im Monat rund 35 Millionen Euro. Die Unterbringung in Hotels und Hostels sei günstiger, hört man von Insidern.

Doch ohne die schnell errichteten und ausbaufähigen Kapazitäten in Tegel geht es einfach nicht. Modulare Unterkünfte, sogenannte MUFs, sollen als langfristige Lösung gebaut werden: Die vollwertigen, wenn auch einfachen Häuser, halten rund 80 Jahre, stoßen allerdings in den Bezirken immer wieder auf Widerstand von Anwohnern und Lokalpolitik.

Preiswerter und nachhaltiger als die Massenunterkunft in Tegel seien sie aber allemal, rechnet Bozkurt vor. Für die Kosten, die in Tegel anfallen, könne er "jeden Monat eine MUF bauen", so der LAF-Chef.

Valentina aus der Ukraine könnte die trubelige Unterkunft im Berliner Norden vielleicht bald verlassen. Ein Antrag auf eine Wohnung ist gestellt. Wie lange Sabri und Emine mit ihren Kindern in Tegel bleiben müssen, steht derweil in den Sternen.

Sendung: rbb24 Abendschau, 11.10.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Sebastian Schöbel

19 Kommentare

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  1. 19.

    Antwort auf "gottfried" vom Donnerstag, 12.10.2023 | 10:08 Uhr
    "Ist es noch Demokratie, wenn Scholz & Co einfach so weiter machen?" Ja, natürlich! Diese Regierung wurde gewählt! Kein Grund, die Demokratie infrage zu stellen.
    "Der SPD Funktionär gibt sich vollmundig. Die Frage ist, welche Legitimation haben diese Leute eigentlich noch?" Die Legitimation der demokratisch Gewählten!

  2. 18.

    Antwort auf "NochNeMeinung" vom Donnerstag, 12.10.2023 | 08:06 Uhr
    "Politisches Ziel sollte es daher eher sein, solche Notunterkünfte gar nicht mehr brauchen zu müssen." Momentan BRAUCHEN wir Sie aber und darum geht es hier. Immer die bekannten Binsenweisheiten hervorzukramen hilft null.

  3. 17.

    Natürlich gibt es auch jetzt Strukturen, ohne die ein Lager ja nicht funktionieren kann. Ich haben den im Artikel genannten Vorschlag jedoch als stärkere Einbeziehung der Migranten in die Lagerverwaltung verstanden. Da die Menschen dort ja in der Regel länger- bis langfristig untergebracht sind, finde ich es durchaus richtig, wenn länger dort Wohnende auch Funktionen innerhalb dieser Verwaltung haben und nicht nur irgendwie mitarbeiten. Aber diese „Migranten-Funktionäre“ müssen koordiniert und geleitet werden. Es muss geregelt werden, inwieweit sie neben und inwieweit mit der offiziellen Verwaltung arbeiten. Und um politische Spannungen innerhalb des Lagers zu verhindern, müssen sämtliche Migrantengruppen einbezogen werden. Das läuft letztlich auf einen teils selbstständig agierenden „Migranten-Beirat“ im Lager hinaus.

  4. 16.

    Der SPD Funktionär gibt sich vollmundig. Die Frage ist, welche Legitimation haben diese Leute eigentlich noch? Selbst in Hessen haben 80 Prozent der Wahlberechtigten ihre Zustimmung für die Politik der „Ampel“ verweigert. Das deckt sich mit den Umfragewerten zum Beispiel für die Genderei und Habecks Heizungsgesetz. Ist es noch Demokratie, wenn Scholz & Co einfach so weiter machen?

  5. 15.

    Eine Notunterkunft für Flüchtlinge kann schon vom Wesen her keine auf Dauer angelegte Gemeinde sein; denn niemand will dort bleiben. Politisches Ziel sollte es daher eher sein, solche Notunterkünfte gar nicht mehr brauchen zu müssen.

  6. 14.

    Antwort auf "Su Vali" vom Mittwoch, 11.10.2023 | 19:57 Uhr
    "Nur braucht man dafür einen Rahmen, in dem das geschieht, und jemanden, der den Überblick und das Sagen hat und letztlich auch die Verantwortung trägt." Ich meine, das gibt es schon, das Ankunftszentrum besteht ja schon länger und es kann ja nicht die ganze Zeit ohne "Köpfe" funktioniert haben. Dort arbeiten 54 Mitarbeitende vom Land Berlin (44 vom LAF und 10 Polizeibeamt*innen ) Rd. 1.000 Mitarbeitende der Berliner Hilfsorganisationen (im Drei-Schicht-Betrieb) [die Zahlen sind aus März, können jetzt anders sein], da gibt's doch schon eine Struktur.

  7. 13.

    Sie verstehen mich falsch, die Menschen werden verwaltet aber nicht eingebunden. Das könnte man aber mit einer Selbstverwaltung, wenn auch nur zum Teil, erreichen.

    Nicht noch mehr "Schlipstrager"!

  8. 12.

    Antwort auf "Karsten" vom Mittwoch, 11.10.2023 | 19:24 Uhr
    "Und genau dafür bräuchte es eine Organisationsstruktur vor Ort." Aber die gibt es doch schon, musste sich personell aufgestockt werden, aber nicht durch mehr Schlipstrager...

  9. 11.

    Doch, um die Menschen im Flüchtlingszentrum besser in die Verantwortung einzubinden und so mit sinnvollen Tätigkeiten zu beschäftigen, statt sie nur zu verwalten.

  10. 10.

    Da stimme ich Ihnen zu: alle dort Untergebrachten sollten einbezogen werden und ihren Fähigkeiten entsprechend mitarbeiten dürfen und in gewissem Grade auch ein Mitspracherecht haben. Nur braucht man dafür einen Rahmen, in dem das geschieht, und jemanden, der den Überblick und das Sagen hat und letztlich auch die Verantwortung trägt. Ob man die Person jetzt Bürgermeister oder Flüchtlingslagerverwalter nennt, spielt letztlich keine Rolle.

  11. 9.

    Sicher braucht es eine zuständige Verwaltungsstruktur, jedoch nicht zwingend vor Ort und keineswegs als Selbstverwaltung.

  12. 7.

    Ein Bürgermeister für 7000 Personen? Das macht dann 500 Bürgermeister für ganz Berlin

  13. 6.

    Merkwürdiger Vorschlag, wozu soll das gut sein? Das käme für mich der Gründung eines Ghettos gleich. Lieber das bestehende Team aufstocken und den dort lebenden Flüchtlingen das mitarbeiten erlauben. Warum sollen z. B. ukrainische Erzieher und Lehrer sich nicht um die Kinder kümmern und sie beschulen? Das würde deren Leben etwas Struktur geben.

  14. 5.

    Diese Forderung des SPD Mitglieds, dass die Flüchlingsunterkunft in Tegel eines "Bürgermeisters und weiters Personals" bedürfe, ist in keinster Weise nachvollziehbar und kostet unnütz viele Euro an Steuergeldern.

    Und zwar GELD welches für die Schulen und den Wohnungsneubau dringendst benötigt wird.

  15. 3.

    Diese furchtbare Rechtschreibkorrektur! Statt „ Amtsgericht Gemeinden“ soll es natürlich „amtsfreie Gemeinden“ heißen.

  16. 2.

    vllt weil der Unterschied darin besteht, dass es sich nicht um eine über Jahrzehnte gewachsene Gemeinde handelt, deren Funktionalität nur aufrechterhalten und in vergleichsweise kleineren Punkten verändert werden muss, sondern um ein explosionsartig gewachsenes Zentrum mit Herausforderungen jenseits unser kleinbürgerlichen Vorstellungskraft.

  17. 1.

    In Brandenburg werden Ämter und Amtsgericht Gemeinden unter 10000 Einwohnern als zu klein angesehen und systematisch zu größeren Einheiten fusioniert. Wieso sollen in Berlin für nur 7000 Personen dann Strukturen eingerichtet werden, die einer Kommunalverwaltung vergleichbar sind?

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