Seit Hamas-Überfall auf Israel - Bundesweit meiste antisemitische Übergriffe in Berlin
Seit dem Hamas-Überfall auf Israel kam es in Berlin zu Dutzenden Fällen antisemitisch motivierter Straftaten. Auch eine jüdische Einrichtung war Ziel der Attacken. Deutschlandweit ist die Hauptstadt mit diesen Fällen traurige Spitze. Von J. Goll, D. Laufer und T. Mandalka
Seit dem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober kam es in Deutschland zu mindestens 80 Fällen von Sachbeschädigungen, die Ermittlungsbehörden als antisemitische Straftaten werten. Das ergab eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Martina Renner, die dem ARD-Politikmagazin Kontraste und rbb24-Recherche vorliegt. Die Daten stammen aus einer Auswertung des Bundeskriminalamts (BKA) und decken den Zeitraum bis zum vorigen Freitag, 3. November ab.
In mindestens drei Fällen richteten sich die Straftaten demnach unmittelbar gegen religiöse Einrichtungen. In Berlin versuchten Unbekannte, einen Brandanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in der Brunnenstraße zu verüben. Am 18. Oktober warfen sie Molotow-Cocktails auf das Gebäude, in dem sich zudem eine Grundschule und eine Kita befinden. Ein Mitarbeiter des Objektschutzes hatte das auf dem Gehweg entstandene Feuer rechtzeitig löschen können.
Renner: "Nachbarschaften müssen zusammenstehen"
Einen ähnlichen Fall hat die Auswertung des BKA in Aachen erfasst. In Westerstede bei Oldenburg wurde auf dem jüdischen Friedhof ein Grabstein umgestoßen – die Polizei konnte noch keinen Tatverdächtigen ermitteln.
Vielfach richteten sich die Angriffe offenbar gegen Wohnhäuser. Dabei wurden Haus- und Wohnungstüren, hinter denen jüdische Familien vermutet werden, mit Davidsternen beschmiert. Renner fordert daher, die Nachbarschaften müssten angesichts der antisemitischen Angriffe zusammenstehen und Solidarität zeigen. Auf Betroffene zuzugehen und konkret danach zu fragen, wie der Schutz verbessert werden kann, sei mehr als Symbolik.
Brennpunkt Berlin
Auffällig ist die ungleichmäßige Verteilung der erfassten Fälle. In der ersten Woche nach dem Terrorangriff erfolgten die Sachbeschädigungen laut BKA-Auswertung vor allem in Berlin. Erst ab Mitte Oktober verteilten sich die Taten demnach gleichmäßiger über die Bundesrepublik. Brennpunkt war bis zum Zeitpunkt der BKA-Auswertung, dem 3. November, die Hauptstadt mit 35 von insgesamt 80 erfassten Fällen.
Eine weitere Statistik der Berliner Polizei zum Stichtag Montag, 6. November, die dem rbb vorliegt, ergibt 57 antisemitisch motivierte Fälle von Sachbeschädigung sowie von 76 weiteren antisemitisch motivierten Straftaten seit dem Terrorangriff auf Israel. Darunter fallen auch Delikte wie Beleidigung, Bedrohung und Volksverhetzung. Auf rbb-Anfrage teilte die Berliner Polizei mit, dass bislang 44 Tatverdächtige ermittelt werden konnten.
Die Differenz zeigt, dass die BKA-Auswertung nur einen ersten Eindruck über das Ausmaß antisemitisch motivierter Angriffe vermittelt. Das Bundesinnenministerium weist explizit in der Antwort auf Renners Anfrage darauf hin, dass die Zahlen lediglich vorläufigen Charakter hätten.
Das Dunkelfeld aufhellen
Dennoch ermöglichen die Angaben erste Rückschlüsse. Direkt hinter Berlin rangiert Baden-Württemberg mit der höchsten Anzahl antisemitischer Sachbeschädigungen seit dem 7. Oktober, wo jeder vierte erfasste Vorfall antisemitisch motivierter Sachbeschädigung laut BKA-Auswertung stattfand.
Für den Antisemitismusbeauftragten von Baden-Württemberg, Michael Blume, haben die Zahlen mit der hohen Dunkelziffer zu tun. "Es mag paradox klingen, aber die hohen Fallzahlen in Baden-Württemberg sind ein gutes Zeichen. Denn wir wissen, dass nur ein Bruchteil der Taten in Deutschland überhaupt erfasst und ermittelt wird“, sagte Blume auf rbb-Anfrage. Man habe daher Beauftragte in den Staatsanwaltschaften berufen, die jedem Fall nachgingen und das sogenannte Dunkelfeld aufhellten. "Für die nächsten Jahre rechne ich daher mit hohen Steigerungen in jedem Land, das sich ehrlich macht."
Aus Thüringen und Sachsen-Anhalt wurde nach der BKA-Auswertung bislang kein einziger Fall einer antisemitischen Sachbeschädigung gemeldet. Aus Brandenburg drei Fälle, aus Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern je einer.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09.11.2023, 19:00 Uhr