Kampf gegen Antisemitismus - Warum sitzt Berlins Kultursenator auf zehn Millionen Euro?
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel und dem Gaza-Krieg werden Berliner Projekte gegen Antisemitismus mit Anfragen überrannt. Geld für mehr Unterstützung ist da, ausgegeben wurde bisher aber nur ein Bruchteil. Und es gibt weitere Kritik. Von Sabine Müller und Leonie Schwarzer
Als die Fraktionen von CDU und SPD nach dem Hamas-Angriff auf Israel im vergangenen Herbst kurzfristig 20 Millionen Euro für den Kampf gegen Antisemitismus in den nächsten Berliner Doppelhaushalt einstellten, ließen sie keinen Zweifel daran, dass dieses zusätzliche Geld dringend gebraucht wird. Das bestätigten später auch Zahlen von Projekten wie der Beratungsstelle OFEK, die Ansprechpartnerin für Betroffene von antisemitischen Übergriffen ist und auch Schulen, Kitas oder Vereine inhaltlich und psychologisch berät. Nach der Hamas-Attacke liefen bei OFEK bundesweit in sechs Monaten mehr Anfragen auf als in den sechs Jahren davor, 60 Prozent davon in Berlin.
Seit dem Angriff am 7. Oktober ist ein Dreivierteljahr vergangen – und von den zehn Millionen Euro, die in diesem Jahr verfügbar sind, wurden bisher gerade einmal 260.000 Euro ausgegeben. Unter anderem bekamen verschiedene Bezirksämter Geld für ihre Freiwilligenagenturen, die ehrenamtliches Engagement unterstützen. Die zuständige Kulturverwaltung weist aber darauf hin, insgesamt seien bereits Fördermittel in Höhe von rund 1,6 Millionen Euro bewilligt und müssten von den Projekten nur noch abgerufen werden. Ein jüdisches Jugendzentrum werde ebenso unterstützt wie Angebote der Landeszentrale für politische Bildung, heißt es.
Grüne sehen die falsche Verwaltung beauftragt
Aber auch diese Summe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Geldausgabe schleppend läuft, was nicht nur bei der Opposition, sondern auch innerhalb der Regierungskoalition für Ungeduld sorgt. "Wir haben die ganze Zeit darauf gewartet, dass etwas umgesetzt wird und uns gewundert, dass in den letzten neun Monaten kaum etwas passiert ist", sagt Orkan Özdemir, Sprecher Antidiskriminierung, Integration und Kampf gegen Rechtsextremismus in der SPD-Fraktion. Kultursenator Joe Chialo (CDU) verweist gegenüber dem rbb darauf, dass seine Verwaltung eine "neue Abteilung" dazubekommen habe und erstmal "Strukturen" aufbauen musste, inklusive längerer Suche nach zusätzlichem Personal.
Der 20-Millionen-Topf für dieses und nächstes Jahr war auf Druck der CDU bei der Kulturverwaltung angedockt worden. Die Grünen sehen das als Fehler. "Die Kulturverwaltung hat nicht die Kenntnis über die Szene und die Träger in der Stadt, die Antisemitismusarbeit machen. Das Geld ist dort schlicht an der falschen Stelle", kritisiert Susanna Kahlefeld, in der Grünen-Fraktion unter anderem Sprecherin für Engagement und Religionspolitik. Bisher kümmerte sich vor allem die Senatsverwaltung für Soziales um die Verteilung von Geldern gegen Antisemitismus, denn dort ist auch die Landesantidiskriminierungsstelle angesiedelt.
Orkan Özdemir räumt ein, die Kulturverwaltung habe "keine große Erfahrung mit Projektfinanzierung" und zunächst auch nicht das nötige Personal gehabt. Der SPD-Mann betont aber: "Zehn Millionen zu vergeben, ist nicht einfach. Das denkt man, aber da gibt es viele Regeln und Regelungen."
Bald kommt der Förderaufruf
Inzwischen weiß Kultursenator Joe Chialo, was er mit dem Geld in diesem Jahr vorhat. Unter anderem soll bis zum Jahresende eine neue Antisemitismus-Anlaufstelle speziell für Kulturschaffende aufgebaut werden. Gut drei Millionen gehen an ausgewählte Kultureinrichtungen, Chialo nennt unter anderem die Topographie des Terrors und das Haus der Wannseekonferenz. "Das Geld dafür haben wir normalerweise gemeinsam mit dem Bund aufgebracht", so der Senator. "Dieses Jahr kam vom Bund wegen der schwierigen Haushaltslage aber keine Kofinanzierung. Also decken wir das ab."
Bei Orkan Özdemir löst diese Ankündigung keine Begeisterung aus. "Ich bin nicht davon ausgegangen, dass die Topographie des Terrors ein Ziel für dieses Geld ist", sagt er dem rbb. Demokratiebildung sei sinnvoll. "Aber mir ist wichtig, dass Organisationen Geld bekommen, die wirklich überlaufen sind, die aus dem letzten Loch pfeifen."
Laut der Kulturverwaltung soll in den nächsten Tagen eine Ausschreibung starten, bei der sich Projekte um "mindestens zwei Millionen" Euro aus einem "Aktionsfonds" bewerben können. "Das kann nicht funktionieren. Wer von den Trägern soll sich denn während der Ferien hinsetzen und Anträge schreiben?", fragt die Grüne Susanna Kahlefeld. Nachdem es von Senator Chialo zunächst hieß, Einreichungsfrist sei Anfang September, ist nun von Ende des Monats die Rede und davon, dass danach rasch Geld ausgereicht werden solle.
Für viele Projekte dürfte das ganze Verfahren aber zu spät kommen, so wie für Tikkun, einem Wertebildungsprogramm, das Carl Chung beim "Jüdischen Bildungswerk für Demokratie - gegen Antisemitismus" leitet. "Wir könnten mit dem Personal, das wir jetzt haben, im Moment nicht viel mehr machen", sagt Chung dem rbb. Für zusätzliche Projekte brauche es mehr Vorlaufzeit. "Mit einem kurzen Anlauf einfach nur Geld ausgeben? Ich weiß nicht, ob das wirklich sinnvoll ist."
Der Koalitionspartner macht Druck auf die CDU-geführte Kulturverwaltung. Es müsse jetzt "schnell gehen", fordert der SPD-Abgeordnete Özdemir. Seiner Ansicht nach müsste spätestens Ende September Geld ausgezahlt werden. Die Grünen befürchten, der Senat nutze den Antisemitismus-Topf als "Spardose" und werde mit ungenutztem Geld Haushaltslöcher stopfen. Kultursenator Chialo weist das zurück, er werde nicht haushalterisch "rumtricksen".
"Es ist beabsichtigt, dass dieses Geld exakt so fließt."
2025 soll es "ein sehr geordnetes Verfahren" geben
Dass es in diesem Jahr nicht optimal läuft, räumt der Senator indirekt selbst ein, wenn er betont, 2025 solle es ein "stabiles Förderprogramm mit entsprechenden Richtlinien und Kriterien" geben, das in einem "sehr geordneten Verfahren aufgegleist" werde. Das Programm wird vermutlich den Namen "Berliner Demokratiefonds" tragen. Damit würde dann offiziell festgeschrieben, was die Kulturverwaltung schon in diesem Jahr praktiziert hat: Nämlich den Fokus des Millionentopfs zu erweitern beziehungsweise zu verschieben.
Die Fraktionen von CDU und SPD, die das Geld in den Haushalt eingestellt hatten, scheinen da mitzugehen, von den Grünen kommt scharfe Kritik. "Eigentlich müssen Mittel von der Verwaltung für die Zwecke ausgeben werden, für die sie in den Haushalt eingestellt sind", unterstreicht Susanna Kahlefeld. Der eigentliche Titel des Haushaltspostens habe "Projekte gegen Antisemitismus und zur Förderung des interreligiösen Dialogs" gelautet. "Da steht nichts von Demokratieförderung drin", so Kahlefeld. Ob die Kulturverwaltung diesen Posten einfach umbenennen beziehungsweise umwidmen durfte, will sie juristisch klären lassen.
Sendung: rbb24 Abendschau, 11.07.2024, 19:30 Uhr