Wohnungslose Menschen - "Berlin gibt viel Geld für Wohnformen aus, die nicht menschenwürdig sind"
Elfriede Brüning leitet die Caritas-Beratungsstelle für wohnungslose Menschen in Berlin-Moabit. Sie beobachtet, dass immer mehr Familien betroffen sind - und bezeichnet das System der Wohnungslosenhilfe im Interview als reformbedürftig.
rbb|24: Frau Brüning, Sie beraten seit 35 Jahren wohnungslose Menschen. Wie viele haben sich gestern in der Sprechstunde in Ihrer Einrichtung gemeldet?
Elfriede Brüning: Ungefähr 70. Mittlerweile sind es bei uns durchschnittlich 74 Kontakte pro Tag: Menschen, die direkt in der Sprechstunde kommen, aber auch verzweifelte Anrufe und Mails. Es ist immer schwer für Leute, die einen Sack voller Probleme haben und kurz davor sind, ihre Wohnung zu verlieren oder sie schon verloren haben, den Weg zu fremden Menschen zu finden, um über die Probleme zu sprechen. Manche rufen dann lieber an. Über Telefon- oder Email-Kontakt erreichen uns in letzter Zeit auch immer mehr Frauen. Es sind zunehmend Haushalte mit Kindern, die sich an uns wenden. Wir hatten im letzten Jahr 612 betroffene Kinder. Das ist unvorstellbar! Das hat uns sehr erstaunt, wie sehr diese Zahlen gestiegen sind.
Inwiefern konnten Sie den Menschen helfen?
Die Menschen sind total froh, dass sie überhaupt mal über ihre Probleme sprechen können. Wir gehen mit ihnen durch: Was haben sie für Ansprüche, gibt es eventuell noch Kompromisse mit dem Vermieter? Wir überlegen: Gibt es Möglichkeiten, dass die Kinder weiterhin zur gleichen Schule gehen können? Ich merke: Es geht bei ihnen auf die Psyche. Es geht ihnen immer schlechter, wenn sie immer wieder scheitern und nicht mal eingeladen werden zu Wohnungsbesichtigungen. Einem Klienten habe ich mal eine Woche Urlaub von der Wohnungssuche verordnet. Da war er total froh - weil er einfach so einen Druck hatte: immer wieder zu suchen, zu suchen.
Was hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert?
Nach der Wende hatten wir ein Paradies. Es gab Wohnungsleerstand in Ostberlin, weil viele weggegangen sind, und man konnte mit Vermietern tolle Sachen aushandeln. Dann wurden teilweise Blöcke abgerissen, günstige Wohnungen vernichtet, und die Politik ging dazu über, weniger zu steuern. Förderungen liefen aus, und so gab es immer weniger günstige Wohnungen.
Mittlerweile ist Berlin eine Metropole. Aus allen Bundesländern, aus ganz Europa und aus der ganzen Welt kommen Menschen hierher - in den letzten Jahren ja massiv. Ich finde es gut, dass Berlin sagt: Wir machen hier keinen Stopp, die Geflüchteten brauchen einfach Unterstützung. Aber es gibt einfach viel zu wenige Unterkünfte für diese vielen Menschen. Von Wohnraum ganz zu schweigen. Wir spüren einen deutlichen Rückstau auf die Straße. Ein Drittel unserer Klienten wohnt bei Bekannten oder Verwandten auf dem Sofa. Da wohnen dann manchmal zwei Familien in einer Zweizimmer-Wohnung. Die Stadt muss unbedingt wieder in die Steuerung des Wohnungsmarkts eingreifen.
Zum Teil versucht Berlin das ja, etwa mit der Sozialen Wohnraumförderung.
Das ist zu wenig. Es muss mehr gebaut werden. Das ist teuer, aber es gibt auch Möglichkeiten, in anderen Varianten zu bauen, damit es bezahlbar bleibt. Und das System der Unterbringung von Wohnungslosen muss total verändert werden. Es ist viel zu teuer. Die Menschen haben nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) einen rechtlichen Anspruch auf Unterbringung. Eigentlich sind diese Unterkünfte ausgelegt als Gefahrenabwehr. Die Wohnheime sollen einen Schutz bieten und sind als kurzzeitige, vorübergehende Lösung gedacht. Das funktioniert schon lange nicht mehr. Die Menschen verbleiben über Jahre in diesen Wohnheimen, kommen nicht raus, und leben in Verhältnissen, die teilweise nicht menschenwürdig sind und auch keine Privatsphäre bieten.
Zudem kosten diese Unterkünfte irre viel Geld: 35 bis 50 Euro pro Nacht mit einem Gemeinschaftsbad, einer Gemeinschaftsküche, nicht selten im Zweibettzimmer. Man kann sich ausrechnen, was das alles kostet. Wenn die Betroffenen arbeiten, müssen sie einen Großteil des Einkommens einsetzen für so eine Unterkunft - das ist nicht nachvollziehbar. Dass dieses Wohnungslosenhilfe-System nicht mehr up to date ist, führt zum Schaden der Menschen, die von der Situation betroffen sind.
Wo würden Sie das Geld, das Berlin derzeit in das Wohnungslosenhilfe-System steckt, besser aufgehoben sehen?
Es muss attraktiv werden, Wohnungen an benachteiligte Menschen zu vermieten. Gerade gibt die Stadt Berlin unwahrscheinlich viel Geld aus für Wohnformen, die nicht angemessen und nicht menschenwürdig sind, wo man keine Privatsphäre hat. Stattdessen müsste die Stadt jetzt mehr Geld in die Hand nehmen, um zu fördern, dass Menschen in Wohnungen kommen, um die hohen Kosten in den Unterkünften zu reduzieren.
So frustrierend die Situation manchmal ist - würden Sie sagen, dass Sie Ihren Job trotzdem gerne machen?
Schon als ich mein erstes Praktikum bei der Wohnungslosenhilfe gemacht habe, dachte ich mir: Genau dafür hast du studiert! Das sind die Menschen, die durch die Raster fallen, und aus eigener Kraft nicht mehr hochkommen. Dass es mir weiterhin Spaß macht, liegt einfach daran, dass es sehr herausfordernd ist. Man muss sehr kreativ arbeiten. Denn die Situationen der Menschen, die zu uns kommen, passen in kein Gesetzbuch. Und da muss man anfangen, kreativ zu schauen: Wie schaffen wir es, dass wir ihnen trotzdem eine Hilfe bieten können?
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anja Herr.
Sendung: rbb24, 11.09.2024, 13:00 Uhr