Wohnungslose Menschen - "Berlin gibt viel Geld für Wohnformen aus, die nicht menschenwürdig sind"

Mi 11.09.24 | 06:24 Uhr
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Symbolbild: Eine Frau sitzt in einem Zimmer einer Notunterkunft. (Quelle: dpa/Stephanie Pilick)
Video: rbb|24 | 11.09.2024 | Anja Herr | Bild: dpa/Stephanie Pilick

Elfriede Brüning leitet die Caritas-Beratungsstelle für wohnungslose Menschen in Berlin-Moabit. Sie beobachtet, dass immer mehr Familien betroffen sind - und bezeichnet das System der Wohnungslosenhilfe im Interview als reformbedürftig.

rbb|24: Frau Brüning, Sie beraten seit 35 Jahren wohnungslose Menschen. Wie viele haben sich gestern in der Sprechstunde in Ihrer Einrichtung gemeldet?

Elfriede Brüning: Ungefähr 70. Mittlerweile sind es bei uns durchschnittlich 74 Kontakte pro Tag: Menschen, die direkt in der Sprechstunde kommen, aber auch verzweifelte Anrufe und Mails. Es ist immer schwer für Leute, die einen Sack voller Probleme haben und kurz davor sind, ihre Wohnung zu verlieren oder sie schon verloren haben, den Weg zu fremden Menschen zu finden, um über die Probleme zu sprechen. Manche rufen dann lieber an. Über Telefon- oder Email-Kontakt erreichen uns in letzter Zeit auch immer mehr Frauen. Es sind zunehmend Haushalte mit Kindern, die sich an uns wenden. Wir hatten im letzten Jahr 612 betroffene Kinder. Das ist unvorstellbar! Das hat uns sehr erstaunt, wie sehr diese Zahlen gestiegen sind.

Zur Person

Elfriede Brüning, Leiterin der Caritas-Beratungsstelle für wohnungslose Menschen in Berlin-Moabit, bei einem Interview Anfang September 2024 (Quelle: rbb)
rbb

Caritas-Beratungsstelle - Elfriede Brüning

Brüning leitet seit mehr als 20 Jahren die Zentrale Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot in der Lewetzowstraße 12a in Berlin-Moabit. Seit 1980 gibt es die Beratung dort, vorher hatten wohnungslose Menschen kaum Stellen, an die sie sich wenden konnten. Seit 1997 ist die Berliner Stadtmission neben dem Caritasverband für das Erzbistum Berlin Träger der Beratungsstelle. Jährlich werden dort nach Angaben der Caritas etwa 3.300 Menschen beraten. Die Stelle verwaltet auch etwa 2.200 Postadressen für Wohnungslose.

Inwiefern konnten Sie den Menschen helfen?

Die Menschen sind total froh, dass sie überhaupt mal über ihre Probleme sprechen können. Wir gehen mit ihnen durch: Was haben sie für Ansprüche, gibt es eventuell noch Kompromisse mit dem Vermieter? Wir überlegen: Gibt es Möglichkeiten, dass die Kinder weiterhin zur gleichen Schule gehen können? Ich merke: Es geht bei ihnen auf die Psyche. Es geht ihnen immer schlechter, wenn sie immer wieder scheitern und nicht mal eingeladen werden zu Wohnungsbesichtigungen. Einem Klienten habe ich mal eine Woche Urlaub von der Wohnungssuche verordnet. Da war er total froh - weil er einfach so einen Druck hatte: immer wieder zu suchen, zu suchen.

Was hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert?

Nach der Wende hatten wir ein Paradies. Es gab Wohnungsleerstand in Ostberlin, weil viele weggegangen sind, und man konnte mit Vermietern tolle Sachen aushandeln. Dann wurden teilweise Blöcke abgerissen, günstige Wohnungen vernichtet, und die Politik ging dazu über, weniger zu steuern. Förderungen liefen aus, und so gab es immer weniger günstige Wohnungen.

Mittlerweile ist Berlin eine Metropole. Aus allen Bundesländern, aus ganz Europa und aus der ganzen Welt kommen Menschen hierher - in den letzten Jahren ja massiv. Ich finde es gut, dass Berlin sagt: Wir machen hier keinen Stopp, die Geflüchteten brauchen einfach Unterstützung. Aber es gibt einfach viel zu wenige Unterkünfte für diese vielen Menschen. Von Wohnraum ganz zu schweigen. Wir spüren einen deutlichen Rückstau auf die Straße. Ein Drittel unserer Klienten wohnt bei Bekannten oder Verwandten auf dem Sofa. Da wohnen dann manchmal zwei Familien in einer Zweizimmer-Wohnung. Die Stadt muss unbedingt wieder in die Steuerung des Wohnungsmarkts eingreifen.

Die Menschen verbleiben über Jahre in diesen Wohnheimen, kommen nicht raus, und leben in Verhältnissen, die teilweise nicht menschenwürdig sind und auch keine Privatsphäre bieten.

Elfriede Brüning über die Unterbringung von wohnungslosen Menschen

Zum Teil versucht Berlin das ja, etwa mit der Sozialen Wohnraumförderung.

Das ist zu wenig. Es muss mehr gebaut werden. Das ist teuer, aber es gibt auch Möglichkeiten, in anderen Varianten zu bauen, damit es bezahlbar bleibt. Und das System der Unterbringung von Wohnungslosen muss total verändert werden. Es ist viel zu teuer. Die Menschen haben nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) einen rechtlichen Anspruch auf Unterbringung. Eigentlich sind diese Unterkünfte ausgelegt als Gefahrenabwehr. Die Wohnheime sollen einen Schutz bieten und sind als kurzzeitige, vorübergehende Lösung gedacht. Das funktioniert schon lange nicht mehr. Die Menschen verbleiben über Jahre in diesen Wohnheimen, kommen nicht raus, und leben in Verhältnissen, die teilweise nicht menschenwürdig sind und auch keine Privatsphäre bieten.

Zudem kosten diese Unterkünfte irre viel Geld: 35 bis 50 Euro pro Nacht mit einem Gemeinschaftsbad, einer Gemeinschaftsküche, nicht selten im Zweibettzimmer. Man kann sich ausrechnen, was das alles kostet. Wenn die Betroffenen arbeiten, müssen sie einen Großteil des Einkommens einsetzen für so eine Unterkunft - das ist nicht nachvollziehbar. Dass dieses Wohnungslosenhilfe-System nicht mehr up to date ist, führt zum Schaden der Menschen, die von der Situation betroffen sind.

Wo würden Sie das Geld, das Berlin derzeit in das Wohnungslosenhilfe-System steckt, besser aufgehoben sehen?

Es muss attraktiv werden, Wohnungen an benachteiligte Menschen zu vermieten. Gerade gibt die Stadt Berlin unwahrscheinlich viel Geld aus für Wohnformen, die nicht angemessen und nicht menschenwürdig sind, wo man keine Privatsphäre hat. Stattdessen müsste die Stadt jetzt mehr Geld in die Hand nehmen, um zu fördern, dass Menschen in Wohnungen kommen, um die hohen Kosten in den Unterkünften zu reduzieren.

So frustrierend die Situation manchmal ist - würden Sie sagen, dass Sie Ihren Job trotzdem gerne machen?

Schon als ich mein erstes Praktikum bei der Wohnungslosenhilfe gemacht habe, dachte ich mir: Genau dafür hast du studiert! Das sind die Menschen, die durch die Raster fallen, und aus eigener Kraft nicht mehr hochkommen. Dass es mir weiterhin Spaß macht, liegt einfach daran, dass es sehr herausfordernd ist. Man muss sehr kreativ arbeiten. Denn die Situationen der Menschen, die zu uns kommen, passen in kein Gesetzbuch. Und da muss man anfangen, kreativ zu schauen: Wie schaffen wir es, dass wir ihnen trotzdem eine Hilfe bieten können?

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Anja Herr.

Sendung: rbb24, 11.09.2024, 13:00 Uhr

 

24 Kommentare

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  1. 23.

    Ihne Zweifel. Woran macht sich Armut fest? In Nicaragua oder Angola kostet eine Wohnung über 50 qm auch keine 800 € kalt.

    Es gibt statistische Berechnungen darüber die sich am Durchschnittseinkommen orientieren, was sie machen ist Äpfel mit Birnen vergleichen. Deshalb gibt es bereits in der EU Unterschiede.

    Im reichen aber teueren Deutschland sieht das natürlich anders aus als z.B. in Rumänien.

  2. 22.

    Neidisch auf Transferlestungen? Sie sind ja gut. Ich verdiene mein eigenes gutes Geld.

  3. 21.

    Völlig richtig und so soll es auch sein. Trotzdem sind Transferleistungsempfänger in D nicht arm. Diese Menschen haben nur weniger Geld für den Konsum als andere Menschen. Arm sind Kinder in Nicaragua oder Angola.

  4. 19.

    Das immer gleiche Märchen. Wer arbeitet hat grundsätzlich IMMER mehr Geld zur Verfügung als Transferleistungsempfänger.

  5. 18.

    Ne, es geht um die, die an der Armut verdienen, das ist wie Verteilung von unten nach oben. Menschenunwürdig steht da, nix mit Neidgehabe. Wahrscheinlich interessiert Sie die Ungerechtigkeit nicht, mich schon, ich kann aber auch Ihren unsachlichen Sozialneid nicht nachvollziehen. Damit ist den Menschen nicht geholfen, es ist zutiefst ungerecht und unsozial.

  6. 17.

    Das immer gleiche Märchen. Wer arbeitet hat grundsätzlich IMMER mehr Geld zur Verfügung als Transferleistungsempfänger.

  7. 16.

    Sie haben offenbar Angst, dass man Ihnen etwas weg nimmt. Gleichzeitig glänzen Sie mit Unkenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten. Das Interview mit Frau Brüning bezieht sich auf einen Umbau des Wohnungshilfesystems, zu größerer Effizienz, bei möglichst geringen Kosten. Wenn sie das polemisch lächerlich machen wollen, dann ist Ihr Kommentar schon auf den richtigen Weg. Mal sehen, wo Sie sich Hilfe suchen, falls Sie selbst einmal eine Räumungsklage im Briefkasten haben sollten. Mir tut Frau Brüning leid, die seit 35 Jahren dem Sozialstaat hinterher räumt und dann womöglich Ihren unterkomplexen Kommentar genießen darf. Vielleicht dochmal einen Blick auf die Tabellen im Artikel riskieren und versuchen zu verstehen.

  8. 15.

    Das Geld ist nicht bei den Erwerbstätigen, alle Kapital-Verteilungs-Daten zeigen das.
    Die Erwerbstätigen sollten dieses Märchen nicht aufsaugen und wiederholen. Das bringt die Gesellschaft gegeneinander auf, auf Basis eines Fakes.

  9. 14.

    Nein, es gilt den übertrieben profitorientierten Investoren durch staatliche Regulierung Grenzen zu setzen.

  10. 13.

    Ne, Kasi, es geht um die, die an der Armut verdienen, das ist wie Verteilung von unten nach oben. Menschenunwürdig steht da, nix mit Neidgehabe. Wahrscheinlich interessiert Sie die Ungerechtigkeit nicht, mich schon, ich kann aber auch Ihren unsachlichen Sozialneid nicht nachvollziehen. Damit ist den Menschen nicht geholfen, es ist zutiefst ungerecht und unsozial.

  11. 12.

    "also werden die Armen arm gehalten und zusätzlich zur Kasse gebeten"

    Halten sie mal bitte den Ball flach. "De Armen" bekommen Miete + Heizkosten bezahlt + 600 Euro monatlich aufs Konto. Plus diverse andere Vergünstigungen des Sozialstaates, die andere Menschen, trotz Arbeit, nicht erhalten.

  12. 11.

    Wogegen soll der Betroffene da bitte klagen? Gegen die geltenden Gesetzeslage?

    Dann dürfte der Kläger das gesamte Verfahren nebst Anwaltskosten selbst finanzieren, da mangels Erfolgsaussicht keine Prozesskostenhilfe genehmigt würde (für den Arbeitnehmer, der die Unterbringung selbst zahlen darf, sowieso nicht, weil er zuviel verdient um PKH zu bekommen).

  13. 10.

    Bauen allein wird nicht die Lösung bringen. Die komplette Infrastruktur von Berlin ist über die Grenzen ausgereizt. Ärztliche Versorgung, Kitas, Schulen, volle Bahnen, keine Parkplätze, Wasser, Abwasser, Strom. Um ein menschenwürdiges Leben zu haben, sollten auch nicht sämtliche, letzten Grünflächen zugebaut werden, da sich die Stadt jetzt schon übermäßig aufheizt und Regen zu Überschwemmungen führt. Es sollte geschaut werden, wie man sinnvoll hilft, wo man Wohn- und Arbeitsplätze schaffen kann, damit die Menschen sich wieder selbst versorgen können und vernünftig Leben. Aber es muss nicht zwingend Berlin sein.

  14. 9.

    An der Frankfurter Allee steht ein ganzer Wohnblock leer ... seit Jahrzehnten und es ist längst nicht der Einzige. Es gibt genügend Wohnungen,wenn man will ohne neu zu bauen, aber das würde ja die Wirtschaftseinnahmen gefährden.
    35€ * 30 Tage = 900,-€ ... für Notunterkünfte, also werden die Armen arm gehalten und zusätzlich zur Kasse gebeten
    Das ist unsere Gesellschaft heutzutage und niemanden interessiert das ... zur Not sind Migranten Schuld, aber nicht unsere fehlgeleitete Politik. AirBnB nimmt die Wohnungen weg, während die Hotels immer schlechter dastehen und inzwischen zu Flüchtlingsunterkünften umgebaut werden. Was für ein absurde Zeit ...

  15. 8.

    Schlimm, wenn auch das noch auf die Schultern des Mittellosen/Wohnungslosen gebürdet wird, aber vllt. sollte er/sie Hilfe suchen und klagen, denn eine Mietspiegel- (wenigstens Sozial-)Whg wäre weit günstiger. Diskriminierung? Nötigung? Menschenwürde?

    Warum muss ein Mensch, der für 12€ schuftet, 35€ pro Nacht für eine menschenunwürdige Wohnform hinblättern? Ist das tatsächlich eine Hilfe oder eher Abzocke?

  16. 7.

    Ich zahle als Arbeitnehmer knapp über 1.000€ im Monat für ein Bett im Zweibettzimmer einer solchen Unterkunft. Rein kommt man nur mit Zuweisung des Sozialamtes, kann sich also auch nicht selbst eine etwaig günstigere suchen - und kann damit problemlos weniger zur Verfügung haben als wenn man nicht arbeiten geht.

    Nun bekommt man von Sozialamt durchaus gesagt, man solle doch am besten den Job kündigen, denn dann würde das Amt alles zahlen und man hätte die theoretische Möglichkeit über den "besonders geförderten Wohnungsmarkt" irgendwann vielleicht eine Wohnung zu bekommen.

    Der Großteil der Bewohner in dem Heim geht nicht arbeiten, das Amt zahlt dort über 200 Einwohnern die Unterkunft plus das Bürgergeld.

    Also gehen für 2 Personen in einem 20qm Zimmer vom Amt monatlich 2000€ an den Träger, das würde für mehr als 2 Wohnungen reichen...

  17. 6.

    Es gibt modulares Bauen, Betonwände aus 3-D-Drucker &&& Der Staat muss wieder selbst bauen, die Menschenrechtskonvention, EU-Sozialpakt usw. sichern jedem entsprechenden Wohnraum zu.

    Würde des Menschen+GG Art 20 garantieren menschenwürdige (Wohn-)Verhältnisse, das betrifft auch die Miete, die leistbar bleiben muss. Gleichwertige Lebensverhältnisse!

  18. 5.

    Warum so, wenn ein Hotel mit 1-P.-Zi. m. eigenem kl. Bad gleich viel kostet?

    Zudem kosten diese Unterkünfte irre viel Geld: 35 bis 50 Euro pro Nacht mit einem Gemeinschaftsbad, einer Gemeinschaftsküche, nicht selten im Zweibettzimmer. Man kann sich ausrechnen, was das alles kostet. Wenn die Betroffenen arbeiten, müssen sie einen Großteil des Einkommens einsetzen für so eine Unterkunft - das ist nicht nachvollziehbar.

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