Analyse Hertha BSC | Verdienter Punktgewinn in Freiburg - Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Sa 01.04.23 | 20:27 Uhr
  6
Hertha-Spieler Jessic Ngankam jubelt über seinen Treffer zum 1:1-Ausgleich gegen Freiburg (Quelle: IMAGO / Jan Huebner)
Audio: rbb24 Inforadio | 01.04.2023 | Nikolaus Hillmann | Bild: IMAGO / Jan Huebner

Hertha BSC hat die beste Auswärtsleistung seit Monaten mit einem Punktgewinn belohnt. Waren die Berliner zunächst defensiv so stabil wie selten, zeigten sie später trotz Rückschlag unbedingten Willen. Im Fokus dabei: Herthaner zweier Generationen. Von Marc Schwitzky

Vor fast genau einem Jahr holte Felix Magath, seit einem Monat bei Hertha BSC im Amt, zu einer vernichtenden Analyse aus. Er stellte im Interview mit "Sky" ein Vakuum an Führungsspielern fest: "Ein weiteres Problem in unserem Kader ist, dass wir davon eigentlich keine haben." Der einzige, der Magath einfiele, sei Kevin-Prince Boateng. Nachdem die vorherigen Partien herbe Enttäuschungen waren und die Alte Dame einmal mehr in den Krisenmodus geschaltet hatte, sorgte Herthas Trainer für das Startelf-Comeback Boatengs. 196 Tage hatte der "Prince" nicht mehr von Anfang an auf dem Feld gestanden. Am 30. Spieltag gegen den FC Augsburg war Boateng der zentrale Mann und führte seinen Verein zu einem immens wichtigen 1:0-Sieg.

Einen ähnlichen Effekt wird sich auch Sandro Schwarz am 26. Spieltag der laufenden Spielzeit von der Startelfnominierung Boatengs erträumt haben. Dieses Mal sind es sogar 238 Tage, die den mittlerweile 36-Jährigen von seinem letzten Startelfeinsatz trennen: Zuletzt spielte Boateng am 1. Spieltag gegen Union Berlin von Anfang an. Danach kamen nur noch zehn Kurzeinsätze hinzu. Gegen den SC Freiburg aber durfte der Routinier wieder von Beginn an spielen. Es ist ein klarer Indikator: Bedient sich der Klub der Dienste Boatengs, ist die Lage bei Hertha BSC ernst.

Auswärtsschwäche als klarer Ansatzpunkt

Und ja, die Lage der Blau-Weißen ist im vierten Jahr in Folge extrem ernst. Nach 25 Spieltagen belegten die Berliner mit nur 21 Punkten Tabellenrang 16 – umringt von drei beinahe punktgleichen Konkurrenten. Zeigte sich Hertha in den letzten Heimspielen konkurrenzfähig, waren es vor allem die Auswärtsauftritte, die enorme Sorgen machten. Im Jahr 2023 hatten die Hauptstädter noch keinen einzigen Punkt in der Fremde geholt. Die Tordifferenz aus eben jenen fünf Begegnungen beträgt erschreckende vier zu 17. In der Auswärtstabelle der Bundesliga ist Hertha das Schlusslicht. "Es ist doch sonnenklar, dass wir in den Heimspielen ein anderes Gesicht zeigen", so Trainer Schwarz. "Diese Diskrepanz ist Woche für Woche ein Thema. Das ist der Grund dafür, warum wir in dieser Tabellenregion sind."

Die dramatische Auswärtsschwäche Herthas, sie ist ein Kopfproblem. Die Hereinnahme Boatengs als erfahrenen Ankerspieler, an dem sich die Mitspieler orientieren können, war der Versuch des Trainers, in die Köpfe seiner Mannschaft zu kommen und ihr Sicherheit zu schenken. Der Spielertrainer auf dem Feld: Es klappte mit Boateng bereits im Vorjahr und mit Sami Khedira in der Saison davor.

Eine Dardai-eske erste Halbzeit

Ist die Startelfnominierung Boatengs ein Stilmittel, das Hertha-Fans bereits von Magath kennen, erinnert die Art und Weise, wie die Berliner gegen Freiburg im ersten Durchgang auftraten, an einen weiteren Schwarz-Vorgänger: Pal Dardai. Die oberste Devise des ungarischen Fußballehrers war stets die Risikominimierung – mit und gegen den Ball. Hurra-Fußball gab es unter Dardai selten zu sehen, die Klasse hielt er mit jener Arbeitsweise jedoch immer. Im Breisgau ließ Schwarz seine Mannschaft so pragmatisch-humorlos spielen wie noch nie zu vor.

Gegen den Ball stand Hertha im Saisonvergleich auffällig tief, die aggressiven Pressing-Elemente unter Schwarz wurden für eine dichtere Kompaktheit und klarere Struktur geopfert. Die Berliner achteten penibel auf die korrekten Abstände zwischen den einzelnen Ketten wie auch auf die wohltemperierte Feldhöhe, auf der sie sich bewegte. Freiburg hatte große Probleme, Lösungen gegen Herthas Abwehrbollwerk zu finden. Im gesamten ersten Durchgang verzeichnete der Gastgeber nicht eine wirklich gefährliche Torchance – ein Verdienst der diszipliniert verteidigenden Hauptstädter, die Mut gegen Stabilität eingetauscht haben.

Auch mit dem Ball erinnerte Herthas Spiel sehr an die erste Amtszeit Dardais. Die stadtbekannte "Hintenrumscheiße" – das sicherheitsbedachte wie tempoarme Hin- und Herpassen des Defensivverbundes ohne erkennbaren Raumgewinn – feierte in Freiburg ihre Renaissance. Dirigiert von Tolga Cigerci und Boateng machte Hertha gar keine Anstalten, den Gegner durch unüberlegte, steile Zuspiele zu Ballgewinnen einzuladen. Stattdessen wurde die Kugel sehr kontrolliert in den eigenen Reihen gehalten, auch wenn Offensivszenen dadurch nicht zustande kamen. So plätscherte das Duell in den ersten 45 Minuten nahezu ohne Höhepunkt dahin. Das 0:0 zur Halbzeitpause stellte für Hertha nach all den Systemausfällen in der Fremde allerdings eine klare Verbesserung dar. "Ich denke, die erste Hälfte war unsere beste auswärts in dieser Saison", so Boateng.

Ngankam wird einmal mehr zum wichtigsten Akteur

Die zweite Halbzeit begann mit dem Gegentor in der 52. Minute denkbar schlecht und machte den Defensivplan Herthas mit einer Aktion zunichte. "Wie wird Hertha auf den Rückstand reagieren?", stand nun über der Begegnung. Schließlich prüfte das Gegentor die wackelige mentale Verfassung der Mannschaft. "Wir haben nicht aufgesteckt und haben mit Brust raus weitergekämpft", stellte Boateng nach Abpfiff fest. Tatsächlich weckte der Rückstand eher Herthas Hunger als eine tiefe Verunsicherung. Bereits in der 56. und 59. Minute hätte Hertha durch Lucas Tousart und Dodi Lukebakio zum verdienten Ausgleich kommen müssen. Doch auch die vergebenen Torchancen ließen die Berliner nicht verzagen. Mit Jessic Ngankam und Suat Serdar kamen in der 67. Minute neue Offensivkräfte, die Herthas Spiel noch einmal anheizten.

Hertha – mittlerweile im sehr offensiven 4-2-2-2 angeordnet – drückte auf den Ausgleich und belohnte sich in der 77. Minute. Ngankam rannte einem bereits verloren geglaubten Ball hinterher, behauptete sich leidenschaftlich im Zweikampf mit Freiburgs Schmid und schob alleinstehend vor SC-Schlussmann Flekken eiskalt zum 1:1 ein. Ein Tor, welches gänzlich durch Willenskraft entstanden ist. Einmal mehr war es Hertha-Eigengewächs Ngankam, der seiner Mannschaft – wie schon gegen Gladbach und Mainz - durch eine unnachahmliche Energieleistung auf die Beine half und das so wichtige Tor erzielte. Der 22-Jährige setzt damit seine erstklassige Form weiter fort.

Hertha behält im Abstiegskampf die Nerven

Im Anschluss bemühte Hertha sich sogar noch, den Siegtreffer zu erzielen, wobei auch Freiburg aufgrund der wilden Schlussphase noch zu ein paar Offensivszenen kam. So endete die Partie insgesamt durchaus leistungsgerecht mit 1:1, wobei ein Auswärtssieg sogar möglich gewesen wäre. Der Punktgewinn bei Champions-League-Kandidat Freiburg ist ein überaus wichtiges Zeichen Herthas im Abstiegskampf. Sowohl die Reaktion innerhalb der Partie auf den Rückstand als auch die löbliche Gesamtleistung als Reaktion auf die katastrophale 1:3-Niederlage gegen Hoffenheim zeigen, dass die Alte Dame im Abstiegskampf die Nerven behält und konkurrenzfähig agiert.

Im Ersten Durchgang von der Erfahrung eines Boatengs und in der Schlussphase vom Feuer eines Ngankams getragen, hat Hertha ein erneutes Tief abgewehrt und Hoffnung für die kommenden Wochen geschöpft. "Ich verspreche, dass das in Freiburg – mit den Fans in unserem Rücken – Hertha BSC war, so wie es die nächsten acht Spiele auch auftreten wird. Denn wir haben acht Finals vor uns", so Boateng leidenschaftlich. Finals kann der "Prince" – das hat er vergangene Saison eindrucksvoll bewiesen. Und auch der deutlich jüngere Ngankam hat bereits vor ziemlich genau zwei Jahren bewiesen, dass er einen entscheidenden Anteil am Klassenerhalt haben kann. Der Hertha-Weg – ein Generationenprojekt.

6 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 6.

    Ich sehe bei einem Abstieg in Liga 2 immer Kaiserslautern vor mir, auch da war damals die Idee einen wirklichen Neuanfang zu starten und das Ergebnis ....

  2. 5.

    Wenn es in der 2.Liga Unmengen an Geld braucht, dann ist HERTHA dort genau richtig. Dort freut man sich bestimmt über einen Verein mit Vorbildcharakter, der sich mit dem Vernichten von fremden Kapital und mangelnder Spielkultur auskennt. Was die Arbeitsplätze anbetrifft, brauchen sich die Lizenz-Spieler relativ wenig Sorgen machen. Leidtragende sind wie immer die Unschuldigen kleinen Mitarbeiter.

  3. 4.

    Genauso sehe ich das auch. Abzusteigen heißt doch nicht plötzlich Ruhe im Verein zu haben. Außerdem verlassen dann wichtige Spieler die Mannschaft. Schnell mal wieder gestärkt aufsteigen ist nicht so einfach. Kann klappen. Muss aber nicht. Geht auch gerne mal noch tiefer. Nein es kann nur heißen weiter zu kämpfen und die Klasse zu halten. Auf sich schauen und nicht auf andere hoffen.
    Also auf geht's Hertha.

  4. 3.

    Hertha wurde schon immer vollkommen überbewertet. Auch in der 2. Liga würden sie ihre Probleme haben.

  5. 2.

    Mich würde mal interessieren, woher das Märchen kommt, dass Fußballvereine in der zweiten Liga zur Ruhe kommen und sich neu orientieren können. Das kostet Unmengen an Geld, gefährdet Arbeitsplätze und wie man immer wieder sieht, führt es keinesfalls zur Stabilisierung. Hertha hat in der Vergangenheit zwar zweimal den direkten Wiederaufstieg geschafft. Dass das auch daneben gehen kann, zeigt der HSV seit Jahren eindrucksvoll.

  6. 1.

    Heute hat der Kommentator den von mir in vielen Leserbriefen gelobten und geschätztrn Fussball Lehrer und Vollblutherthaner,der Fussball als Mannschaftssport und Kampf um jeden Meter gepredigt und als Spieler auch gelebt hat Der Rhetorik nach dem Spiel mit klären Aussagen ersetzt hat.Leider habe ich vermisst,dass der Kommentator den 2.Dardai nicht erwähnt hat, aber das wäre auch zu viel gewesen.Desgleichen hatte ich mich schon oft gefragt warum Schwarz den Haudegen und sehr erfahrenen ,mit seiner immer noch vorhandenen Klasse ,Boateng nicht öfters hat spielen lassen,aber das passt zu Schwarz, für mich warer immer ein Schnacker.

Nächster Artikel