Fragen und Antworten nach bundesweiter Razzia - So gefährlich sind "Reichsbürger" für die Demokratie
Sogenannte "Reichsbürger" dominieren nach einer Razzia unter der Woche die Schlagzeilen. Aber was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff und inwiefern ist die Szene gefährlich für die Demokratie in Deutschland? Fragen und Antworten von Laura Kingston
Worin haben "Reichsbürger" ihren Ursprung?
1871. Das ist das Jahr, auf das sich sogenannte "Reichsbürger" beziehen - denn in diesem Jahr wurde das deutsche Kaiserreich begründet, das 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs endete.
Aber: Der Begriff stammt aus der jüngeren Vergangenheit. In den 1980er Jahre betrat Wolfgang Gerhard Günter Ebel laut der Antonio-Amadeu-Stiftung die Bildfläche der Reichsideologie. Er habe behauptet, von den Alliierten den Auftrag erhalten zu haben, die Führung des weiterhin existierenden "Deutschen Reiches" kommissarisch zu übernehmen. Bei dem Begriff der "Reichsbürger" handelt es sich um eine Eigenbezeichnung. Menschen, die den deutschen Staat in seiner jetzigen Form als nicht legitim ansehen, sich aber nicht auf ein bestimmtes Reich beziehen werden als "Souveränisten" oder "Selbstverwalter" bezeichnet.
Sind alle "Reichsbürger" rechtsextrem oder Neonazis?
Nach dem Rechtsextremismusbegriff der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin" (MBR) fallen alle Menschen in der "Reichsbürgerszene" unter den Oberbegriff "rechtsextrem". Darunter fallen laut Mathias Wörsching von der MBR auch "Neonazis". Und diese Milieus hätten wiederum Überschneidungen in bestimmten Teilen der Ideologie.
Der Verfassungsschutz hingegen geht bei etwa fünf Prozent der "Reichsbürgerszene", also rund 1.150 Menschen aus dem Milieu, von Rechtsextremisten aus.
Wer sind Reichsbürger?
Das eher vorangeschrittene Alter sei neben der Ideologie ein gemeinsames Merkmal der „Reichsbürger“ - sagt Mathias Wörsching, Politologe und Mitarbeiter der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin" (MBR): Offenbar ziehe die Szene keine jungen Menschen an. Ansonsten ließe sich das Milieu sehr schlecht über einen Kamm scheren: "Gerade die Razzien in den vergangenen Tagen haben gezeigt, dass das auch Menschen aus dem
Bürgertum sind, Unternehmer, Selbstständige, Staatsdiener.“ So seien eine Richterin und Offiziere dabei gewesen. Das Milieu umfasse entgegen einer verbreiteten Vorstellung nicht nur "gescheiterte Existenzen" oder Randgruppen. Dieses Phänomen könne die MBR "insgesamt für den Rechtsextremismus feststellen. Es hat in den letzten zehn bis 15 Jahren eine Verschiebung dahin gegeben, dass sich zunehmend auch Menschen aus
gehobenen bürgerlichen Milieus nach rechts radikalisieren", sagt Wörsching im Interview mit rbb|24.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zählt (Stand 2018) deutschlandweit ca. 18.000 Personen zum Milieu der "Reichsbürger" und "Souveränisten". Etwa 450 davon in Berlin. Im Jahr 2016 ging das BfV noch von deutschlandweit 10.000 Milieu-Anhängern aus.
Echte Gefahr oder "ein Haufen Spinner"?
Politikwissenschaftler und Soziologen bemängeln die Verharmlosung des "Reichsbürger"-Milieus. Nach Mathias Wörsching (MBR) werde das vor allem vom rechten politischen Spektrum wie der AfD unterstützt. "Die Verharmlosung finde ich erschütternd", sagt Wörsching im Interview mit rbb|24. "Ich frage mich, wann die Leute anfangen wollen, das ernst zu nehmen." Es werde übersehen, dass in der Szene auch Menschen seien, "die Zugänge zu wichtigen Institutionen und zu Waffen haben." Das sei brandgefährlich.
Was auch übersehen werde: Dass es in den vergangenen Jahren schon Angriffe aus der Szene gegeben habe. So zum Beispiel im Jahr 2016, als im bayerischen Georgensgmünd bei Nürnberg ein "Reichsbürger" einen SEK-Polizisten angeschossen und tödlich verletzt hatte.
Nach Wörsching würden auch Kommunalpolitiker zunehmend von Rechtsextremen bedroht. In seiner Beratungs- und Bildungsarbeit erzählten ihm auch Mitarbeitende der Berliner Verwaltung von negativen Erfahrungen mit "Reichsbürgern". Da sei ein hohes Aggressionspotenzial.
"Personen und Gruppen der Szene sind tickende Zeitbomben," sagt Wörsching - das mache sie für ihre Feindbilder – Juden, Migranten, Linke, demokratische Politiker und Journalisten - zur Gefahr.
Was haben Reichsbürger mit "Querdenkern" und "Corona-Gegnern" zu tun?
Die Proteste, die sich in den letzten Jahren gegen die Corona-Bestimmungen formiert haben, zogen Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus an. Die "Querdenker"-Bewegung habe, Mathias Wörsching zufolge, nie eine Abgrenzung zu "Reichsbürgern" oder anderen Rechtsextremen angestrebt. Damit seien diese von Anfang an "zu Demos und Kundgebungen eingeladen" worden, sagt der Politologe. Dementsprechend seien Menschen durch die Reichsbürger-Ideologie beeinflusst worden.
"Die Reichsbürger gaben eine Antwort auf die Frage: Wie kann es sein, dass eine Politik betrieben wird, die nach Auffassung der Querdenker von einem Großteil des Volkes abgelehnt wird? Wer ist der Schuldige, wer ist der Feind?", sagt Wörsching. Dementsprechend hätte das Milieu der Corona-Proteste teilweise Verschwörungserzählungen und Schlagwörter der "Reichsbürger" übernommen. "Da hat eine diffuse Proteststimmung mit Verschwörungsideologie zusammengefunden."
Was haben "Reichsbürger" mit der AfD zu tun?
Bei der Razzia am Mittwoch wurde auch die Berliner Richterin Birgit Malsack-Winkemann festgenommen. Sie trat 2013 in die AfD ein und saß für die Partei von 2017 bis 2021 im Bundestag. Malsack-Winkemann gehört zum Rechtsaußenflügel der AfD. Auf dem Listenparteitag 2017 wiegelte sie nach rbb-Informationen mit einer radikalen Rede auf. Sie gilt als Anhängerin von Verschwörungsmythen.
Gleichzusetzen sind die AfD und das "Reichsbürger"-Milieu jedoch nicht.
Nach dem Politologen Mathias Wörsching wolle die AfD zumindest vorerst die "politische Macht innerhalb des politischen Systems" erobern. Es bestehe allerdings eine ideologische Nähe in puncto Rassismus und Nationalismus. Aber die Partei beschreite bislang noch den
"parlamentarischen Weg" und nicht den des Staatsstreichs.
Wie können Behörden gegen "Reichsbürger" vorgehen?
Besonders gefährlich sind Menschen aus dem "Reichsbürgermilieu", die im Staatsdienst stehen, also in der Justiz oder bei der Polizei arbeiten. Deshalb fordern Soziolog:innen und Politolog:innen, dass rechtsextreme Umtriebe in Behörden konsequenter verfolgt werden. Das sieht auch Mathias Wörsching von der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin" (MBR) ähnlich: "Dass eine Richterin wie Malsack-Winkemann so lange im Amt war, obwohl ihre Gesinnung so lange bekannt war, ist ein fatales Zeichen." Es müsse schneller und härter reagiert werden, wenn Menschen aus dem Staatsdienst eine rechtsextreme Gesinnung an den Tag legten.
Sendung: rbb24 Radioeins, 09.12.2022, 13:20 Uhr