Gefühlte Sicherheit - Warum der nächtliche Heimweg vielen Menschen in Berlin Angst macht
Berlin ist so sicher wie seit zehn Jahren nicht mehr - sagt die Kriminalitätsstatistik. Trotzdem fühlen sich viele unsicher in der Stadt, vor allem Frauen. So auch Laura Kingston, die der Frage nachgeht, was für ein größeres Sicherheitsgefühl nötig wäre.
- Nach einer Studie fühlen sich Frauen in Berlin an 70 Prozent der abgefragten Orte unsicher.
- Gefühlte Sicherheit wird durch viele Faktoren wie Beleuchtung beeinflusst.
- Stadtplanerisch könnte man dem entgegenwirken - zumindest in Teilen.
Ich bin nachts auf dem Heimweg, jemand ruft mir "Schlampe" hinterher. Ich bin nachts auf dem Heimweg, ich fühle mich verfolgt. Ich bin nachts auf dem Heimweg, meine Schritte werden schneller. Eine Freundin am Telefon: "Ich bin auf dem Heimweg. Es ist unheimlich. Deswegen rufe ich dich an."
Das alles sind Situationen, die ich in den letzten fünf Jahren in Berlin erlebt habe. In verschiedenen Bezirken zu verschiedenen Zeiten in der Nacht. Berliner Nächte sind dafür bekannt, aufregend zu sein, zuweilen verrückt und ekstatisch. Aber auch beängstigend? Ich würde mich zwar nicht als ängstliche Person beschreiben, letzterem aber - zumindest manchmal - zustimmen. Mit dem Gefühl bin ich nicht alleine.
Studie: Vor allem Frauen fühlen sich an vielen Berliner Orten unsicher
In Berlin fühlen sich gerade nicht-männliche Personen oft unsicher. Das zeigt eine Studie zur gefühlten Sicherheit von Frauen in deutschen Städten des Vereins Plan International e.V., die im Jahr 2020 veröffentlicht wurde [plan.de]. Darin haben Berliner Frauen angegeben, sich an 72 Prozent der abgefragten Orte unsicher zu fühlen. Als Gründe dafür nannten sie in erster Linie "suspekte Personen" (46 Prozent), "schlechte Beleuchtung" (27 Prozent) und die Tatsache, dass es sich um eine "einsame Gegend" gehandelt habe (12 Prozent).
Wenn ich mich an meine Angstmomente zurückerinnere, spielen diese Aspekte tatsächlich auch eine Rolle. "Komischer Typ, ich wechsel mal lieber die Straßenseite" war dabei ein Gedanke, ebenso wie der, dass es schon ganz schön dunkel in bestimmten Unterführungen und Parks ist. Bundesweit hat eine Studie des BKA aus dem Jahr 2020 [bka.de] ergeben, dass sich weniger als zwei Drittel der Frauen nachts alleine sicher fühlen. Im ÖPNV war es nur ein Drittel der Frauen.
Ist Berlin wirklich unsicher?
Die Angst selbst hat sich bei mir in diesen Momenten immer etwas anachronistisch angefühlt, wie das Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Stelle ich mich - bzw. die befragten Frauen in der Studie - zu sehr an? Man könnte argumentieren: Berlin ist so sicher wie seit zehn Jahren nicht mehr - geht doch die Zahl der registrierten begangenen Straftaten zurück. Von 2020 auf 2021 ist sie laut Kriminalitatstatistik um 4,4 Prozent auf 482.127 gesunken. Aber zu diesen Straftaten zählen auch Steuerdelikte, über die sich die wenigsten sorgen, die nachts alleine unterwegs sind.
Was zugenommen hat, sind Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung - und zwar um 32,7 Prozent auf 6.650 Straftaten. Die Polizei nennt als Grund für den eklatanten Anstieg die Tatsache, dass es eine umfassende Strafrechtsänderung und -verschärfung im Jahr 2017 gegeben habe. Der Politiksoziologe Jens Wurtzbacher von der Katholischen Hochschule Berlin weist dagegen darauf hin, dass es trotz allem eine extrem hohe Dunkelziffer in dem Bereich gebe. Deswegen genieße Wurtzbacher den Begriff "objektive Sicherheit" - also nicht subjektive oder gefühlte Sicherheit - mit Vorsicht. "Vorkommnisse, die wir in der Nachbachschaft registrieren, aber nie zur Anzeige kommen", nennt er als Beispiel.
Bezogen auf meine erlebten Nächte: Jemand ruft mir etwas hinterher, jemand folgt mir bis zur Haustür. Ich habe weder den einen noch den anderen angezeigt, weshalb es nicht in der Krimnalstatistik landet, aber es macht etwas mit meinem Sicherheitsgefühl.
Berlin ist an vielen Stellen zu dunkel
Ein entscheidender Faktor, der für mehr gefühlte Unsicherheit bzw. Angst sorgt, ist so simpel, dass ihn alle von Kindesbeinen an kennen: Dunkelheit. Wenn wir nichts sehen, bekommen wir Angst, wenn vielleicht auch nicht vor Monstern unterm Bett.
Mary Dellenbaugh-Losse beschäftigt sich beruflich mit der Dunkelheit auf den Berliner Straßen, genauer gesagt: Sie forscht zur gefühlten Sicherheit in der Stadt und gibt dabei stadtplanerische Empfehlungen ab - also etwa, wie die Stadt Unterführungen bauen kann, die einsichtig und gut beleuchtet und so weniger angsteinflößend sind. Andere bautechnischen Merkmale, die zu einer größeren gefühlten Unsicherheit führen, seien Baufälligkeit von Gebäuden bzw. Müll, Einengung oder fehlende Fluchträume, so wie blinde Ecken oder versteckte Winkel, sagt Dellenbaugh-Losse.
Die Stadt - fast nur von Männern geplant
Dafür, dass die Städte diese verängstigenden Merkmale aufweisen, hat Dellenbaugh-Losse eine simple Erklärung: "Wir leben in historisch gewachsenen Städten und für den Löwenanteil an dieser Geschichte waren Planer zuständig. Bewusst männlich und ungegendert. Das heißt, es ist eigentlich ein Novum in der langen Geschichte von Stadtplanung, dass es Planerinnen gibt und überhaupt, dass die weibliche Sicht auf die Stadt – oder eine andere Sicht auf die Stadt - dann überhaupt in Frage kommt." Ergo: Wer keine Angst hat, nachts sexuell belästigt zu werden, plant Städte anders.
Angst als etwas sehr Individuelles
Diese Merkmale können laut Dellenbaugh-Losse dazu führen, dass öffentliche Orte für manche Menschen zu sogenannten "Angsträumen" werden. Eine Rolle spielten außerdem individuelle Faktoren wie Alter, Geschlecht, Herkunft, sexueller Orientierung und die subjektive Empfindung - manche Menschen spüren mehr Angst als andere.
Dass Frauen sich in der Regel unsicherer fühlen als Männer belegen diverse Studien über das Phänomen der gefühlten Sicherheit. Damit liege ich mit meinen Angsterfahrungen in der Norm. Würde ich aber ein Kopftuch tragen, wäre ich trans* oder hätte eine andere Hautfarbe, würde das mein Sicherheitsempfinden - und wohl auch meine tatsächliche Sicherheit - beeinflussen. Angsträume sind, so Dellenbaugh-Losse, strengstens von tatsächlichen Kriminalitätshotspots zu trennen. Sie könnten auch in vermeintlich sicheren, "geordneten" Kiezen sein.
Von Umwegen und Taxis
Welche Auswirkungen die gefühlte Unsicherheit für die Betroffenen hat, ist ebenso ein Forschungsfeld von Mary Dellenbaugh-Losse: "Da merken wir, dass die Menschen, die Angst haben [...] längere Wege auf sich nehmen und andere Verkehrsmodalitäten. Vielleicht nehmen sie ein Taxi oder ein Uber, anstatt zu gehen oder die Öffis zu nehmen, weil sie sich dann halt nicht wohlfühlen. Und das ist teuer und auch unter Umständen unökologisch." Das könne eine Stadtplanung nicht auf sich sitzen lassen, denn eine Stadt müsse für alle gleich zugänglich sein, in allen Bereichen, sagt die Forscherin.
Was tun gegen Angst in der Stadt?
Neben den stadtplanerischen Mitteln wie eine bessere Beleuchtung und bessere Einsicht in dunkle Ecken gibt es ein paar akute Mittel wie das Heimwegtelefon [Heimwegtelefon.net]. Am anderen Ende begleiten ehrenamtliche Mitarbeitende die anrufende Person nach Hause. Dafür gibt es inzwischen auch Apps, durch die man beispielsweise Standorte teilen und direkt Notrufe aussenden kann.
Das Grundproblem sei aber ein anderes, so Dellenbaugh-Losse - und zwar, "dass Frauen Angst haben nachts in der Stadt. Das ist eher ein gesellschaftliches Problem und ich sage auch zweifellos, dass wir daran arbeiten sollen. Unbedingt."
Sendung: rbb|24 explainer, 26.01.2023