Reichenberg in der Märkischen Schweiz - Ein Dorf auf dem Weg vom Leerstand zum Lebenszentrum
Kitas, Arztpraxen, Dorfläden: Für viele Bewohner auf dem Land sind das Orte, die es schon lange nicht mehr vor der Haustür gibt. Reichenberg hat für seine 285 Einwohner alles - und inzwischen sogar internationale Gäste, die sich etwas abgucken wollen. Von Franziska Ritter
Eine Dorfkirche aus Feldstein, eine freiwillige Feuerwehr, zwei Bushaltestellen: Auf den ersten Blick wirkt Reichenberg in der Märkischen Schweiz wie ein verschlafenes Nest. Es liegt auf halber Strecke zwischen Berlin und der polnischen Grenze und ist so klein, dass es im Jahr 2001 unter dem Namen Märkische Höhe mit zwei benachbarten Dörfern zu einer Gemeinde zusammengelegt worden ist. Die letzte Volkszählung vor ein paar Jahren ergab 285 Einwohner. Und dennoch: So wenig hier auf den ersten Blick passiert, so sehr blicken andere Dörfer und ländliche Regionen inzwischen auf Reichenberg.
Dorfzentrum mit überregionalem Modellcharakter
"Wir sind als Modell in ganz Deutschland bekannt", erklärt die 74-jährige Käte Roos, die mit anderen Bürgern das so genannte "Lebenszentrum Thomas Müntzer" ins Leben gerufen hat. In dem zweigeschossigen Bau mit Spitzdach gibt es eine Kita, eine Tagespflege, einen Dorfladen und Arztpraxen. 40 Arbeitsplätze sind durch das Haus entstanden. Die Robert-Bosch-Stiftung, die das Projekt fördert, lobt das Lebenszentrum als Vorbild für Infrastrukturentwicklung im ländlichen Raum.
Nach der Wende machten die Geschäfte dicht
Vor einigen Jahren noch sah es in Reichenberg anders aus. Sandra Schurke, die seit 1980 hier wohnt, hat den Wandel des Dorfes miterlebt. "Als meine Eltern mit mir und meinen Brüdern hierhergezogen sind, war das noch toll", erinnert sie sich. Die Familie kam aus einer rein landwirtschaftlich geprägten Region. In Reichenberg gab es eine Schule, eine Kita, einen Zahnarzt. Selbst ein Friseur und Einkaufsmöglichkeiten waren vor Ort.
Doch in der Wendezeit brach alles weg. Aus der Polytechnischen Oberschule, in der Sandra Schurke lesen und schreiben gelernt hatte, wurde nach dem Mauerfall eine Grundschule. Ende der 1990er Jahre schloss sie, weil es nicht mehr genug Kinder im Dorf gab. Das Schulgebäude stand in den folgenden Jahren leer. Die verbleibenden Kinder aus Reichenberg mussten ins zehn Kilometer entfernte Neuhardenberg oder noch weiter entfernt zur Schule fahren.
Viele junge Menschen hatten die Region verlassen und sind dorthin gegangen, wo es Arbeit gab. Und so schloss ein Geschäft nach dem anderen, gaben Ärzte ihre Praxen auf, erinnert sich Sandra Schurke. Sie selbst habe damals gedacht, dass sie in Reichenberg nicht alt werden wolle.
Bürger taten sich zusammen und packten an
Käte Roos wollte den Niedergang ihres Heimatdorfes nicht tatenlos mit ansehen. Die ausgebildete Krankenschwester tat sich vor knapp 15 Jahren mit weiteren Bürgern zusammen. Gemeinsam überlegten sie, wie sich das stillgelegte Schulgebäude weiternutzen lässt: "Wir sagten uns, es kann doch wohl nicht wahr sein, dass solch ein großes Gebäude leerstehen bleibt."
Der Bürgerverein ließ im Rahmen einer durch das Regionalmanagement geförderten Machbarkeitsstudie untersuchen, welchen Bedarf es in Reichenberg und den umliegenden Ortschaften gibt. 2015 kaufte er der Kommune die alte Schule ab, um sie zu aufwendig sanieren zu lassen, warb Landes- und EU-Mittel für den ersten Bauabschnitt ein.
Parallel dazu organisierte der Bürgerverein Eigenmittel für die Förderung. Die Evangelische Bank war bereit, das Projekt mit einem Kredit über 400.000 Euro zu unterstützen. 2017 konnten die Bauarbeiten beginnen. Schritt für Schritt wurde aus dem einstigen Schulgebäude das "Lebenszentrum Thomas Müntzer" - der neue Mittelpunkt des Dorfes, ein geplanter Begegnungsort für Jung und Alt.
Zusammenarbeit mit Deutschem Roten Kreuz
Unterricht findet in Reichenberg keiner mehr statt, doch das Gebäude beherbergt wieder Kinder. Im südlichen Flügel des Lebenszentrums befindet sich eine Kindertagesstätte, eine Tür weiter sitzt die Tagespflege des Diakonischen Werks. Beide Einrichtungen arbeiten eng miteinander zusammen. "Die Älteren blühen richtig auf, wenn wir drüben sind und die Kleinen singen oder tanzen", erklärt Kita-Erzieherin Michelle Lüben.
Der Kindergarten ist der erste Teil des Lebenszentrums, der nach der Fertigstellung des ersten Bauabschnittes bezugsfertig war. Der Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes, der 2019 die Trägerschaft für die Kita übernahm, wurde auf diesem Weg auf das Konzept des gesamten Hauses aufmerksam und war davon so angetan, dass sich für den Bürgerverein die Möglichkeit ergab unter das Dach des Wohlfahrtsverbands zu schlüpfen.
Durch den Zusammenschluss bekam die Bürgerinitiative ein anderes Image, erklärt Projektleiterin Käte Roos: "Wir waren kein kleiner Verein mehr, sondern haben das Deutsche Rote Kreuz im Rücken gehabt, was uns bei der Suche nach weiteren Finanzmitteln durchaus zugute kam."
Medizinisches Versorgungszentrum
Seitdem firmiert das Lebenszentrum Thomas Müntzer unter dem Logo des Roten Kreuzes. Mit Hilfe des Wohlfahrtsverbands warb das Lebenszentrum weitere Gelder ein, um auch das Obergeschoss zu sanieren. Bis zum Jahr 2020 entstand dort Raum für Arzt-, Ergo- und Physiotherapiepraxen, dazu kamen fünf barrierefreie Wohnungen - alles von Anfang an Teil des Konzepts.
Inzwischen gibt es in Reichenberg auch wieder eine Hausärztin. Heike Belian kommt aus Berlin, wohnt aber schon seit 30 Jahren im Brandenburgischen. Lange ist sie zur Arbeit nach Berlin gependelt, bis sie sich entschloss ihre Praxis in die märkische Provinz zu verlegen. Die Anonymität der Großstadt habe ihr nicht mehr gefallen, sagt sie: "Ich hab’s einfach gewagt und mir gesagt: Dorfarzt war schon immer das, was du machen wolltest."
Ähnlich wie in Polikliniken zu DDR-Zeiten sollen verschiedene Gesundheitsprofessionen unter einem Dach arbeiten. So könnten die Belians auch Kollegen aus anderen Fachbereichen anstellen, die sich nicht selbständig machen und mit Kassensitz in eigener Praxis niederlassen wollen. Die Hausärztin hofft auf diesem Weg mehr Fachärzte für die Arbeit auf dem Land zu gewinnen, denn die fehlen hier draußen akut.
Anlaufstelle für 28.000 Menschen in der Region
Dreh- und Angelpunkt des Lebenszentrums ist der Dorfladen. Er hat hauptsächlich Produkte aus der Region im Angebot. "Wir beziehen saisonales Obst und Gemüse von einer Biogärtnerei in Liebenhof nur ein paar Kilometer entfernt", erklärt Heidi Leppin, die das Geschäft leitet. Sie und ihre Kollegen bieten auch einen Imbiss an. Morgens gibt es belegte Brötchen, mittags stehen zwei frisch gekochte Gerichte aus der Küche des Lebenszentrums zur Wahl.
Das Lebenszentrum, so wie es heute in Reichenberg steht, versorgt nicht nur das Dorf mit seinen nicht einmal 300 Einwohnern. Mit seinen Angeboten ist es ein Anlaufpunkt für 28.000 Menschen, die im Umkreis von 15 Kilometern wohnen. In dieser engen Verzahnung, an einem Fleck irgendwo im Nirgendwo, gibt es das bisher nirgends sonst im Land. Reichenberg dient daher inzwischen als Vorbild für andere Regionen im ländlichen Raum.
Internationale Vorbildfunktion
Die Robert-Bosch-Stiftung fördert das Haus als eines von bundesweit zwölf Projekten, die mit innovativen Ansätzen die Gesundheitsversorgung in ihrer Region verbessern. Die Reichenberger empfangen immer wieder Delegationen aus dem In- und Ausland, die sich vor Ort anschauen, was der Bürgerverein in seinem märkischen Dorf aufgebaut hat. "Wir sind nur manchmal erstaunt, dass wir im eigenen Bundesland noch nicht so bekannt sind", sagt Käte Roos augenzwinkernd. 2022 wurde sie für ihr Engagement in Reichenberg mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet.
Sandra Schurke, die seit über 40 Jahren in Reichenberg lebt, arbeitet inzwischen selbst im Lebenszentrum mit. Sie koordiniert das Miteinander der verschiedenen Einrichtungen im Haus und sagt: "Für uns als Familie ist Reichenberg wieder lebenswert geworden."
Sendung: rbb24 Inforadio, 22.07.2023, 6:25 Uhr