Weltalphabetisierungstag - "Eine E-Mail verfassen? Das ist ein großes Problem!"
Computer, Handys und Apps helfen, das Leben zu organisieren. Aber sie können auch Hürden sein - etwa für Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten. Weiterbildungsangebote und Kurse sollen helfen. Von Stefan Ruwoldt
Die Internet-Startseite der Agentur für Arbeit ist leicht zu finden: arbeitsagentur.de. Sie meldet sich mit einem Fenster zu den Cookie-Einstellungen. Rot blinkt der Knopf zum Akzeptieren. Dann ist man auf der Homepage. Rechts oben verkündet ein Button: "Leichte Sprache". Wer hier klickt, kommt auf eine Seite, die den "Chat-Bot" erklärt. Jobsuche ist im Jahr 2023 eine Internet-Routine. Für alle. Ohne Unterschied. Statt der Bot-Kommunikation aber kann man auch eine E-Mail verfassen. Wenn man es kann.
"E-Mail? - Das ist ein großes Problem", sagt Nikola Amrhein. Sie ist an der Volkshochschule (VHS) Neukölln verantwortlich für den Bereich Grundbildung und damit auch für die Analphabetismus-Angebote, also für Menschen mit eingeschränkter Literalität. "'Oh, mein Gott' – das ist oft die erste Reaktion von Menschen mit geringen Fähigkeiten beim Lesen und Schreiben, wenn man sie an den Computer setzt."
Lesen, Auswählen, Einschätzen und Sich-Entscheiden - ein Problem
Wer nur eingeschränkt lesen und schreiben kann, weiß im Internet meist nicht, wo er oder sie hinklicken soll, kommt mit dem Entziffern aller möglichen Wörter nicht hinterher - etwa wenn irgendwo ein Laufband läuft, hat vielleicht schon von Chat-Bots gehört, aber liest vielleicht "Chaatboht" und kann nichts damit anfangen. Computernutzung ist Lesen, Aussortieren, mehr Lesen, Auswählen, Einschätzen und Sich-Entscheiden, um zu einem Ergebnis oder einer Verbindung zu kommen. Doch genau dazu, also zu einem Ergebnis oder zu einer Verbindung, kommen viele nicht.
"Digitalisierung - das wurde für uns zum Thema vor allem mit Corona", sagt Nikola Amrhein. "Menschen mit Problemen oder großen Defiziten beim Lesen und Schreiben haben meist kein W-Lan, wenige nur haben einen Computer." Die VHS habe dafür gesorgt, dass die Lernenden dort Home-Spots für den Internet-Zugang bekamen, denn viele hätten damals und oft auch heute kein Internet und konnten darum auch die Lernplattform der Schule überhaupt nicht erreichen.
Wenn die Urlaubsplanung überfordert
Im Jahr 2021 erschien die aktuellste Ergänzung der Studie "Leo – Leben mit geringer Literalität" [bildungsserver.de] und diese weist aus, dass der Anteil gering literalisierter Erwachsener bei 12,1 Prozent der Menschen im berufsfähigen Alter liegt. Bundesweit sind das rund 6,2 Millionen. Jeder achte Erwachsene zwischen 18 und 64. Regional runtergerechnet hieße das: Etwa 250.000 von ihnen leben in Berlin, rund 180.000 in Brandenburg. Auch wenn die Bildungsverwaltung in Berlin zu Bedenken gibt, dass eine Hochrechnung der Bundeszahlen nicht so einfach möglich sei. Obwohl diese Zahlen für Berlin und Brandenburg also nur grob [pardok-parlement-berlin.de] sind, lassen sie erahnen, wieviele Menschen Probleme beim Lesen und Schreiben haben.
Anke Grotlüschen, federführende Mitautorin der "Leo"-Studie und Professorin für lebenslanges Lernen an der Uni Hamburg, gibt ein einfaches Beispiel, wie solch eine Einschränkung auf das Alltagsleben Einfluss nimmt: "Urlaubsreisen - da wählen Menschen mit Einschränkung die Pauschalreise - wenn sie es sich leisten können. Oft sind eben Menschen mit Leseschwierigkeiten auch finanziell sehr eingeschränkt." Und Anke Grotlüschen ergänzt: Selbst informieren, abwägen, tauschen, vergleichen, anfragen oder etwas im Netz suchen, all das gehe für viele mit dieser Einschränkung eben nicht. "Sie sind auch benachteiligt, wenn es um günstige, oft versteckte Möglichkeiten geht. Und das Auswählen aus vielen Buchungsverlockungen überfordert sie. Das Ergebnis ist dann: Als Urlaubsmöglichkeit bleibt oft nur das Zelt."
Chatten ist eben immer nur ein Gespräch
Und auch wenn etwa Whatsapp mit digitaler Spracherkennung zu bedienen sei, helfe das für die Kommunikation mit einem Reiseanbieter kaum, so Grotlüschen: "Der Mensch hat verschiedene Sprachregister und wenn man für seine Kommunikation eben nur die Spracherkennung nutzt, dann sind die Schreiben dieser Menschen eben auch nur verschriftliche Äußerungen. Eine Bewerbung, auch wenn sie online eingereicht wird, erfolgt schriftlich und hat einen anderen Tonfall. Chatten aber ist immer nur ein Gespräch."
Darum brauche es eben für die Nutzung digitaler Angebote Hilfen für Menschen mit geringer Literalität, so Grotlüschen. Zwar würden Chat-Bots, wie sie das Arbeitsamt nutzt, helfen, doch müssten auch hier die genutzten Stichwörter geklärt sein: "Unter Umständen wird es dort bei diesen Bots auch gefährlich, weil Bot-Agenten die falschen Nachrichten generieren." Grundsätzlich gelte eben für die Nutzung von Netzangeboten: "Wer Lösungen finden will, muss das Kleingedruckte lesen, muss Quellenchecks machen, aber diese Quellenchecks sind für Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibkompetenzen nicht möglich."
Die Bedeutung von Präsenzangeboten
Julia Naji verantwortet im Alpha-Bündnis Spandau die Angebote für Menschen mit geringer Literalität und sagt: "Klar ist: Das Heranführen an digitale Inhalte und an die digitale Nutzung ist wichtig. Aber man muss auch sagen: Die Grundlage für die digitale Nutzung ist Lesen und Schreiben. Google ist voll mit Text und wenn man Text eingibt, bekommt man noch mehr Text und Angebote, aus denen man auswählen muss. Es geht auch hier ums Lesen und Schreiben. Punkt. Digital - das braucht man, aber auch dafür ist Lesen und Schreiben eben die Voraussetzung." Julia Naji nennt als Beispiele die digitale Bestellung einer BVG-Monatskarte, die Bedienung eines Flaschenautomaten oder Zuginfos, die auf einer Anzeige durchlaufen.
Digitale Inhalte passgenauer in ihre Angebote der VHS und die mit Bundes- und Senatsmitteln finanzierten Lernangebote einzubinden, sei das Ziel der mehr als zehn berlinweit agierenden Initiativen, so Martin Klesmann, Pressesprecher des Bildungssenats. Doch er betont auch die Bedeutung von Präsenzangeboten: "Der soziale Kontakt vor Ort in der Lerngruppe ist wesentlich bedeutsamer für den Lernerfolg als bei anderen Zielgruppen. Ebenso die Beratungsangebote, wie die sozialpädagogische Begleitung, sollten in Präsenz stattfinden."
"Leo"-Mitautorin Anke Grotlüschen lobt als eine Art Beispiel für Hilfe und Unterstützung bei digitalen Angeboten die Ärzte: "Meist gibt es hier weniger Probleme. Meist wird man hier eben immer noch gefragt." Auch wenn digitale Angebote besser ausgerichtet würden auf die Einschränkungen von Menschen mit geringerer Literalität, brauche es möglichst immer auch die mündliche Lösung für Nachfragen. Diese würden allen helfen und müssten nicht ausgewiesen werden. Denn eben das sei für Menschen mit Leseschwierigkeit die größte Hürde, wenn sie begründen müssten, warum sie - und eben nur sie - nachfragen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 08.09.2023, 10 Uhr