Weltalphabetisierungstag - "Eine E-Mail verfassen? Das ist ein großes Problem!"

Fr 08.09.23 | 09:16 Uhr | Von Stefan Ruwoldt
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Symbolbild: Handbuch für leichte Sprache. (Quelle: dpa/F. Gentsch)
Bild: dpa/F. Gentsch

Computer, Handys und Apps helfen, das Leben zu organisieren. Aber sie können auch Hürden sein - etwa für Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten. Weiterbildungsangebote und Kurse sollen helfen. Von Stefan Ruwoldt

Die Internet-Startseite der Agentur für Arbeit ist leicht zu finden: arbeitsagentur.de. Sie meldet sich mit einem Fenster zu den Cookie-Einstellungen. Rot blinkt der Knopf zum Akzeptieren. Dann ist man auf der Homepage. Rechts oben verkündet ein Button: "Leichte Sprache". Wer hier klickt, kommt auf eine Seite, die den "Chat-Bot" erklärt. Jobsuche ist im Jahr 2023 eine Internet-Routine. Für alle. Ohne Unterschied. Statt der Bot-Kommunikation aber kann man auch eine E-Mail verfassen. Wenn man es kann.

"E-Mail? - Das ist ein großes Problem", sagt Nikola Amrhein. Sie ist an der Volkshochschule (VHS) Neukölln verantwortlich für den Bereich Grundbildung und damit auch für die Analphabetismus-Angebote, also für Menschen mit eingeschränkter Literalität. "'Oh, mein Gott' – das ist oft die erste Reaktion von Menschen mit geringen Fähigkeiten beim Lesen und Schreiben, wenn man sie an den Computer setzt."

Lesen, Auswählen, Einschätzen und Sich-Entscheiden - ein Problem

Wer nur eingeschränkt lesen und schreiben kann, weiß im Internet meist nicht, wo er oder sie hinklicken soll, kommt mit dem Entziffern aller möglichen Wörter nicht hinterher - etwa wenn irgendwo ein Laufband läuft, hat vielleicht schon von Chat-Bots gehört, aber liest vielleicht "Chaatboht" und kann nichts damit anfangen. Computernutzung ist Lesen, Aussortieren, mehr Lesen, Auswählen, Einschätzen und Sich-Entscheiden, um zu einem Ergebnis oder einer Verbindung zu kommen. Doch genau dazu, also zu einem Ergebnis oder zu einer Verbindung, kommen viele nicht.

"Digitalisierung - das wurde für uns zum Thema vor allem mit Corona", sagt Nikola Amrhein. "Menschen mit Problemen oder großen Defiziten beim Lesen und Schreiben haben meist kein W-Lan, wenige nur haben einen Computer." Die VHS habe dafür gesorgt, dass die Lernenden dort Home-Spots für den Internet-Zugang bekamen, denn viele hätten damals und oft auch heute kein Internet und konnten darum auch die Lernplattform der Schule überhaupt nicht erreichen.

Das Auswählen aus vielen Buchungsverlockungen überfordert sie. Das Ergebnis ist dann: Als Urlaubsmöglichkeit bleibt oft nur das Zelt.

Anke Grotlüschen, Mitautorin "Leo"-Studie zu Literalität

Wenn die Urlaubsplanung überfordert

Im Jahr 2021 erschien die aktuellste Ergänzung der Studie "Leo – Leben mit geringer Literalität" [bildungsserver.de] und diese weist aus, dass der Anteil gering literalisierter Erwachsener bei 12,1 Prozent der Menschen im berufsfähigen Alter liegt. Bundesweit sind das rund 6,2 Millionen. Jeder achte Erwachsene zwischen 18 und 64. Regional runtergerechnet hieße das: Etwa 250.000 von ihnen leben in Berlin, rund 180.000 in Brandenburg. Auch wenn die Bildungsverwaltung in Berlin zu Bedenken gibt, dass eine Hochrechnung der Bundeszahlen nicht so einfach möglich sei. Obwohl diese Zahlen für Berlin und Brandenburg also nur grob [pardok-parlement-berlin.de] sind, lassen sie erahnen, wieviele Menschen Probleme beim Lesen und Schreiben haben.

Anke Grotlüschen, federführende Mitautorin der "Leo"-Studie und Professorin für lebenslanges Lernen an der Uni Hamburg, gibt ein einfaches Beispiel, wie solch eine Einschränkung auf das Alltagsleben Einfluss nimmt: "Urlaubsreisen - da wählen Menschen mit Einschränkung die Pauschalreise - wenn sie es sich leisten können. Oft sind eben Menschen mit Leseschwierigkeiten auch finanziell sehr eingeschränkt." Und Anke Grotlüschen ergänzt: Selbst informieren, abwägen, tauschen, vergleichen, anfragen oder etwas im Netz suchen, all das gehe für viele mit dieser Einschränkung eben nicht. "Sie sind auch benachteiligt, wenn es um günstige, oft versteckte Möglichkeiten geht. Und das Auswählen aus vielen Buchungsverlockungen überfordert sie. Das Ergebnis ist dann: Als Urlaubsmöglichkeit bleibt oft nur das Zelt."

Chatten ist eben immer nur ein Gespräch

Und auch wenn etwa Whatsapp mit digitaler Spracherkennung zu bedienen sei, helfe das für die Kommunikation mit einem Reiseanbieter kaum, so Grotlüschen: "Der Mensch hat verschiedene Sprachregister und wenn man für seine Kommunikation eben nur die Spracherkennung nutzt, dann sind die Schreiben dieser Menschen eben auch nur verschriftliche Äußerungen. Eine Bewerbung, auch wenn sie online eingereicht wird, erfolgt schriftlich und hat einen anderen Tonfall. Chatten aber ist immer nur ein Gespräch."

Darum brauche es eben für die Nutzung digitaler Angebote Hilfen für Menschen mit geringer Literalität, so Grotlüschen. Zwar würden Chat-Bots, wie sie das Arbeitsamt nutzt, helfen, doch müssten auch hier die genutzten Stichwörter geklärt sein: "Unter Umständen wird es dort bei diesen Bots auch gefährlich, weil Bot-Agenten die falschen Nachrichten generieren." Grundsätzlich gelte eben für die Nutzung von Netzangeboten: "Wer Lösungen finden will, muss das Kleingedruckte lesen, muss Quellenchecks machen, aber diese Quellenchecks sind für Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibkompetenzen nicht möglich."

Die Bedeutung von Präsenzangeboten

Julia Naji verantwortet im Alpha-Bündnis Spandau die Angebote für Menschen mit geringer Literalität und sagt: "Klar ist: Das Heranführen an digitale Inhalte und an die digitale Nutzung ist wichtig. Aber man muss auch sagen: Die Grundlage für die digitale Nutzung ist Lesen und Schreiben. Google ist voll mit Text und wenn man Text eingibt, bekommt man noch mehr Text und Angebote, aus denen man auswählen muss. Es geht auch hier ums Lesen und Schreiben. Punkt. Digital - das braucht man, aber auch dafür ist Lesen und Schreiben eben die Voraussetzung." Julia Naji nennt als Beispiele die digitale Bestellung einer BVG-Monatskarte, die Bedienung eines Flaschenautomaten oder Zuginfos, die auf einer Anzeige durchlaufen.

Digitale Inhalte passgenauer in ihre Angebote der VHS und die mit Bundes- und Senatsmitteln finanzierten Lernangebote einzubinden, sei das Ziel der mehr als zehn berlinweit agierenden Initiativen, so Martin Klesmann, Pressesprecher des Bildungssenats. Doch er betont auch die Bedeutung von Präsenzangeboten: "Der soziale Kontakt vor Ort in der Lerngruppe ist wesentlich bedeutsamer für den Lernerfolg als bei anderen Zielgruppen. Ebenso die Beratungsangebote, wie die sozialpädagogische Begleitung, sollten in Präsenz stattfinden."

"Leo"-Mitautorin Anke Grotlüschen lobt als eine Art Beispiel für Hilfe und Unterstützung bei digitalen Angeboten die Ärzte: "Meist gibt es hier weniger Probleme. Meist wird man hier eben immer noch gefragt." Auch wenn digitale Angebote besser ausgerichtet würden auf die Einschränkungen von Menschen mit geringerer Literalität, brauche es möglichst immer auch die mündliche Lösung für Nachfragen. Diese würden allen helfen und müssten nicht ausgewiesen werden. Denn eben das sei für Menschen mit Leseschwierigkeit die größte Hürde, wenn sie begründen müssten, warum sie - und eben nur sie - nachfragen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 08.09.2023, 10 Uhr

Beitrag von Stefan Ruwoldt

10 Kommentare

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  1. 10.

    Bitte die wichtigen Themen nicht gegeneinander ausspielen. Jetzt und noch mehr in Zukunft werden sog. Klimaflüchtlinge kommen, eben weil mit fossilen Energien geheizt wird.

  2. 9.

    Leichte Sprache muss nach Behindertenrechts-Konvention für alle Verwaltungstexte angeboten werden.
    Sie können darauf bestehen.

  3. 8.

    Warum sollte man den Grünen denn keine Stimme geben dürfen? Ich mag diese Partei auch nicht, aber Anderen Vorschriften machen? Das ginge mir dann doch zu weit.
    Leider kommt es hier sehr oft vor, dass Menschen für kleinste Fehler persönlich angegangen werden, weil es schlicht an Gegenargumenten fehlt.

  4. 7.

    Aber für ein gutes Gefühl von ein paar Hundert(!) Leuten sollen wir alle gendern.

    Das es sehr viele Menschen dadurch unnötig schwerer haben Texte überhaupt zu verstehen, interessiert diese laute Gruppe nicht. Hauptsache man fühlt sich gut und wichtig und nicht nur "mitgemeint".

    Gut, dass sich wenigstens die Verwaltung nun da rais hält. Vielleicht kommt "die Verwaltung" ja auf die Idee leichte Sprache immer anzubieten, wie es mal gefordert wurde.

    Schadet niemandem!

  5. 6.

    "Ich bin auch Legastheniker und wurde hier angefeindet..."

    Dafür, dass Sie Legastheniker sind, schreiben Sie doch recht gut, wenn man das weiß. Dafür sollte keiner angefeindet werden.
    Etwas anders sieht es aus, wenn jemand krude Theorien verbreitet und/oder einer Partei seine Stimme gibt, die nichts, aber auch gar nichts Vernünftiges zu bieten hat...
    Aber das ist ja hier jetzt nicht das Thema...

  6. 5.

    Ich bin auch Legastheniker und wurde hier angefeindet.
    Ich würde mir schon wünschen wenn unsere Mitmenschen andere akzeptieren auch wenn Sie mal was falsch schreiben oder Komma etc. vergessen!
    Ich arbeite trotzalledem fleißig und engagiert und freue mich das Kunden 40 Jahre zufrieden mit meiner Arbeit sind ,auch meine falsche Aussprache für manches nicht mir übel nehmen.
    Ich lebe heute nach vielen Umzügen in Marzahn wo die Menschen much so akzeptieren mit meiner ausländischen Frau.

  7. 4.

    Warum lenken Sie bei dem Thema auf Migranten und Flüchtlinge hin? Ich lese nichts davon im Artikel. Eingeschränkte Lese- und Schreibschwierigkeit können alle Länder beim Volk aufweisen. Sogar da, wo noch die Monarchie herrscht in EU.
    Und trotzdem werden sie als König, als Königin gekrönt. Auch sie werden sich Hilfe zum besseren lese und schreiben eingeholt haben.

  8. 3.

    Wenn man sich die aktuellen, absolut gravierenden Bildungsdefizite anschaut (der RBB berichtete neulich erst dazu), dann wird sich das Problem sogar noch massiv verschärfen.

  9. 2.

    Mich würde interessieren, wie die Quote an/nach Waldorfschulen ist. Ich nehme an, weitaus geringer oder gegen Null tendierend, im Vergleich zum staatl. Standardsystem.

    Das Aussieb-Verfahren von frühester Kindheit an führt zu "Analphabetismus" u. ä. Auch, dass es eine Standard-Lehrmethode gibt, "friss oder stirb". Das ist sehr schade und zeigt, was längst hätte geändert werden müssen, wir leben in D, nicht mehr in Preußen.

    Wir haben sogar Lern- und Lehrmethoden-Forschung, mit Ergebnissen. Die man umsetzen kann ; )

  10. 1.

    Dieser Bericht,ein Armutszeugnis ohne Gleichen.Wenn der Staat nicht in der Lage ist,Migranten,Flüchtlinge u.a.zu integrieren dann stimmt in unserem Staat und in unserer Gesellschaft etwas nicht.Immer sich nur als Gutgesellschaft aufzuspielen reicht dann dann wohl doch nicht.Es gab mal Bundeskanzler,die bei âhnlichen Brennpunkten,es zur Chefsache erklärt haben.Irgendwie ist in unserem Land der Heizkessel wohl wichtiger als effektive Integration.Der Unfrieden hat Ursachen.

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