Interview | Verena Bentele vom Sozialverband VdK - "Wir brauchen mehr Verpflichtungen, dass die Arbeitswelt barrierefreier wird"

So 02.06.24 | 20:20 Uhr
  23
Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK Deutschland e.V. (Quelle: imago images/Funke Foto Services)
Bild: imago images/Funke Foto Services

Verena Bentele war erfolgreiche Profisportlerin und ist heute Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK mit Sitz in Berlin. Von Geburt an ist sie blind. Im Interview spricht sie über Inklusion in Schule und Arbeit sowie über Hürden im Alltag.

Ingo Hoppe: Frau Bentele, Sie sind auf einem Bauernhof in Baden-Württemberg aufgewachsen. Ihr Bruder war ebenfalls sehbehindert. War das eine romantische Kindheit?

Verena Bentele: Ich weiß nicht, ob romantisch das richtige Wort ist, aber auf jeden Fall war es eine sehr freie und unbeschwerte Kindheit. Wir durften uns viel bewegen, viel Sport machen. Wir hatten Ponys zu Hause, weil ich mir die sehr gewünscht habe und meine Eltern gesagt haben: "Du kriegst die, wenn du dich auch selbst darum kümmerst." Das war für mich einfach immer ganz toll, dass meine Eltern meinen blinden Bruder und mich genauso gefördert und gefordert haben wie auch unseren sehenden Bruder. Wir mussten genauso den Pferdestall ausmisten und den Tisch decken. Natürlich gab es Aufgaben, die wir nicht gemacht haben, die der sehende Bruder übernommen hat, aber wir haben andere Dinge gemacht. Das fand ich immer gut.

Zur Person

Verena Bentele freut sich am 15.03.2010 über den Gewinn der Goldmedaille bei den Paralympics in Vancouver (Quelle: dpa/Julian Stratenschulte)
dpa/Julian Stratenschulte

Verena Bentele (geboren 1982 in Lindau) ist eine ehemalige Biathletin und Skilangläuferin. Zwischen 1995 und 2011 wurde sie viermal Weltmeisterin und 12 mal Paralymics-Siegerin.

Nach dem Ende der Profikarriere war Bentele von Januar 2014 bis Mai 2018 Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Seit Mai 2018 leitet sie als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK.

Seit 2012 ist Bentele Mitglied der SPD.

Sie waren auf Deutschlands einziger Blindenschule. Mittlerweile reden wir viel über Inklusion in Regelschulen. Was ist besser?

Ich war auf einem Gymnasium für Blinde, aber auch zuvor auf einer Grundschule und weiterführenden Schule für blinde Schülerinnen und Schüler. Dort hatte ich tolle Möglichkeiten, Sport zu machen. Deswegen fand ich diese Schule gut für mich. Das große Aber ist, dass ich mit sechs Jahren schon im Internat war. Das war natürlich nicht schön. Ich hätte gerne mit meinem sehenden Bruder und den Freunden zu Hause die Schule besucht, aber eben dann auch mit allen Möglichkeiten, die ich heute in der Inklusion sehe. In Deutschland ist das schon ein großes Problem, dass viele Kinder inklusiv beschult werden, aber zum Beispiel vom Sport- oder Musikunterricht befreit sind. Das muss nicht sein. Dafür müsste das Schulsystem geändert werden: kleinere Klassen, mehr Lehrpersonal, mehr Unterstützung durch Pädagogen und Pädagoginnen. Solange unser Schulsystem so bleibt, wie es heute ist, wird Inklusion immer schwierig sein.

Sie sind Leistungssportlerin, wofür Sie sicherlich auch Assistenz benötigt haben. Wie haben Sie diese gefunden oder haben sich Menschen gemeldet?

Noch ein Nachsatz zum Thema Schule: Es wäre besser, zusammen zu lernen, weil das später auch das Arbeitsleben viel einfacher machen würde. Im Sport hatte ich einen Begleitläufer, jemand, der beim Joggen neben mir läuft und klare Ansagen macht, wenn eine Stufe kommt. Beim Langlaufen haben wir die Stimme, die uns führt und leitet. So kann man gemeinsam Sport machen. Manchmal nutze ich auch andere Mittel wie zum Beispiel ein Laufband, auf dem ich selbst trainieren kann.

Mein Großvater war ebenfalls blind und hatte Hilfsmittel, wie zum Beispiel eine sprechende Waage oder Uhr. Heute gibt es noch viel mehr. Wie bewerten Sie das?

Sie machen das Leben einfacher, wie zum Beispiel Navigationssysteme auf dem Handy oder dass man sich Bilder beschreiben lassen kann. Das sind alles großartige Hilfsmittel. Dass wir heute am Laptop arbeiten können, ist für mich ein großer Gewinn, weil ich niemanden mehr brauche, dem ich Briefe diktieren muss. Ich kann die Korrespondenz selbst erledigen. Aber nicht alle Menschen, die nicht sehen oder andere Behinderungen haben, haben Zugriff auf diese Hilfsmittel. Der Markt ist oft zu klein, um neue Technologien kostengünstig zu entwickeln. Trotzdem hoffe ich, dass die Technik weiter fortschreitet und die Hilfsmittel erschwinglicher werden.

Wenn wir alle ein bisschen achtsamer wären, könnten wir schon viel erreichen.

Verena Bentele

Ihr Arbeitsalltag ist als Chefin des Sozialverbads VdK vielleicht ein bisschen anders, als wenn man einfach Teil eines großen Unternehmens ist. Was wünschen Sie sich für alle?

Ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderungen Arbeitsplätze haben, die barrierefrei sind. Gebäude sollten gut zugänglich sein, Intranet- und Internet-Systeme bedienbar, technische Arbeitsschritte machbar. Zum Beispiel sollte eine elektronische Akte barrierefrei sein. Wenn blinde Menschen in Programmiersprachen arbeiten, die nicht barrierefrei sind, ist das natürlich schwierig. Wir brauchen mehr Verpflichtungen, dass die Arbeitswelt barrierefreier wird.

Zudem brauchen Menschen mit Behinderungen die richtigen Hilfsmittel und Arbeitsassistenz. Ich habe Unterstützung von meiner Assistentin und Referentin, die mir Briefe vorliest oder mich auf Veranstaltungen begleitet. Neulich war ich auf einem Empfang zu 75 Jahren deutsches Grundgesetz. Da war es wichtig, dass mir jemand hilft, die richtigen Personen zu finden oder mich zu orientieren.

Was wären Ihre Hauptforderungen? Was sollte am schnellsten umgesetzt werden?

Am schnellsten sollte es einfacher werden, die richtige Unterstützung zu bekommen. Menschen mit Behinderungen und Arbeitgeber sollten schnell und genau wissen, an wen sie sich wenden müssen. Es gibt viele Angebote, aber die sind oft an unterschiedlichen Stellen im Sozialsystem verteilt, was die Beantragung schwierig macht.

Wünschen Sie sich Hilfe im Alltag von Fremden?

Ich finde es gut, wenn man fragt: "Hallo, kann ich Ihnen helfen?" Bei mir passiert es oft, dass ich einfach am Arm angefasst werde von Menschen, die helfen wollen, ohne zu fragen. Das mag ich nicht. Ich weiß oft, wohin ich will, und brauche nicht immer Hilfe. Also lieber fragen als einfach helfen. Das wäre mir lieber.

Verstehe ich. Insgesamt sollten wir harmonisch und freundlich miteinander umgehen.

Das tun wir leider nicht immer. Neulich bin ich über einen Roller gestolpert, der mitten auf dem Platz stand. Man könnte ihn doch wenigstens an den Rand stellen. Da merkt man, dass die Menschen oft nicht rücksichtsvoll sind. Wenn wir alle ein bisschen achtsamer wären, könnten wir schon viel erreichen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Verena Bentele führte Ingo Hoppe, rbb 88,8.

Sendung: rbb 88,8, 28.05.2024, 16:10 Uhr

23 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 23.

    Wir brauchen WENIGER, nicht mehr Verpflichtungen in Deutschland, nur so kann die Arbeitswelt überleben. Bitte Augen aufmachen, die fetten Jahre in Deutschland, in denen man immer nur fordern kann, sind vorbei!. Alle umlagefinanzierten Sozialsysteme haben Probleme, das Arbeits- und Sozialministerium verschließt hier die Augen und nimmt weiter Kurs auf den Untergang anstatt endlich im Interesse der Menschen dringend überfällige Reformen anzupacken - ein Beispiel: Rentenpaket II.

  2. 22.

    Arbeitskräfte fehlen, aber wem ist mit einem Blinden als Wagenschieber, in der Autowaschstrasse, im Kosmetiksalon usw. usw. geholfen? Richtig, Niemandem!

  3. 21.

    Stimme Ihnen zu. Wir können, wenn wir wettbewerbsfähig als Standort (bleiben) wollen, nicht auf jeden und jede Gruppe in Deutschland Rücksicht nehmen. Sonst macht bald der Letzte das Licht aus in der deutschen Wirtschaft, weil Unternehmen und Unternehmer zu Recht einen Bogen um Deutschland im vereinten Europa machen.

  4. 20.

    Bei Polizei, Feuerweht, in kleinsten Unternehmen... Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Es muss einfach passen und kann nicht gesetzlich vorgeschrieben werden.

  5. 18.

    Stimmt. Deutschland muss Unternehmerfreundlchkeit voran stellen. Nicht immer mehr Bürokratie und Anforderungen. Kann jetzt schon fast keiner mehr erfüllen. Man sollte Kleinst-Unternehmen bis 10 Personen grundsätzlich raus nehmen aus dem Bürokratie- und Abgaben-Irrsinn!

  6. 17.

    Wir haben Fachkräftemangel. Also holen wir uns qualifizierte Menschen ins Land. Das ist allemal günstiger als die hier aufgestellten Forderungen. Deutschland muss aufpassen, international sich selbst nicht noch weiter abzuhängen. Der Fokus muss auf Attraktivität des Wirtschaftsstandort Deutschland liegen, nicht auf "wir nehmen jeden mit.".

  7. 16.

    Das können Sie bestimmen? Sie sind ahnungslos oder selbst betroffen. Ansonsten lassen Sie die Leute, welche sich in dem Metier auskennen machen!

  8. 15.

    "Die Bedürfnisse von Schwerbehinderten sind erfüllt."

    Dem widerspreche ich vehement und sehe es vollkommen anders. Die Bedürfnisse von Schwerbehinderten sind noch lange nicht erfüllt. Das fängt ja schon mit "Kleinigkeiten" wie einer Stufe oder ähnlichem an. Für Schwerbehinderte kann man gar nicht genug tun und sie werden trotzdem noch in den meisten Situationen benachteiligt bleiben.

    Danke an Verena Bentele und Ingo Hoppe für dieses Interview

  9. 14.

    Ich kann Sie beruhigen, darum geht es hier gar nicht. Hätten Sie aber selbst wissen können.

  10. 13.

    Und Ihnen ist sicherlich entgangen, dass da ein Arbeitskräftemangel herrscht.

  11. 12.

    Welche Forderungen? Teilhabe ist eine Selbstverständlichkeit und nur, weil Sie das nicht verstehen und die Teilhabe dieser Menschen ablehnen, so wie die AfD es wohl auch tut, ist es sehr wichtig, allen Menschen gleiche Chancen zu bieten. Es geht um Menschen, die teilhaben wollen und können, Arbeitgeber viel Geld dafür bekommen, aber schon heute auf dem Amt gesagt wird, wenn sie eine Behinderung haben stellt sie keiner ein, weil sie dann keiner mehr los wird.
    Stellen Sie sich nur einmal vor, das hätten Sie erleben müssen, wie würde es sie empören.

  12. 11.

    Die Bedürfnisse von Schwerbehinderten sind erfüllt. Soll heißen, das letzte Bisschen was noch fehlt wird unbezahlbar. Was Frau Bentele noch fehlt ist, dass richtige Maß zu finden.

  13. 10.

    Ein Hoch auf den menschenverachtend en Manchester-Kapitalismus?

    Darf ich Sie so verstehen? Körperlich eingeschränkte Menschen sollen Verzicht üben damit andere hohe Gewinne scheffeln können?

    Die Aussage, das es allen gut geht wenn die oberen nur genügend Gewinne machen ist mehrfach durch Studien widerlegt.

  14. 9.

    "Die interviewte Frau scheint noch nicht mitbekommen zu haben wie es um den schwächelnden Wirtschaftsstandort Deutschland aktuell steht. Da kann sie sich mit unserem Arbeitsminister die Hand reichen. Immer nur mehr fordern ist nich nur in Krisenzeiten ein uncleverer Move. Deutschland muss wieder attraktiver für Investoren werden!"

    .....und was wollen Sie wirklich mit Ihrem Kommentar sagen? Dass die Bedürfnisse von Schwerbehinderten weniger berücksichtigt werden sollen oder wie ist Ihr Kommentar zu verstehen?

  15. 8.

    Nein, dass sehe ich anders. Fr.Bentele hat bis jetzt immer nur Forderungen gestellt ( meistens die richtigen!), aber leider von alldem bis jetzt nichts durchsetzen können. Schade. Drücke weiterhin die Daumen!

  16. 7.

    Verena Bentele ist goldrichtig (kleines Wortspiel ;-)) an dieser Stelle und wenn ich jemandem zutraue, dort etwas Positives bewirken zu können, dann ist sie das. Ein toller Mensch. Danke für dieses Interview.

  17. 6.

    Genau da liegt tatsächlich das Problem. Insbesondere für kleine Unternehmen ist die Einstellung eines Schwerbehinderten und die damit oft notwendige zusätzliche Investition ein nicht kalkulierbares wirtschaftliches Risiko. Es ist ja nicht damit getan, eine Rampe zu bauen. Der Arbeitsplatz, die Sanitärräume und vor allem die Fluchtwege müssen entsprechend umgestaltet werden. Da die Anforderungen schwerbehinderter Menschen außerdem extrem unterschiedlich ist, muss im Zweifel mehrfach investiert werden. Es gibt Betroffene, die sind relativ leicht in den Arbeitsalltag integrierbar, es gibt aber eben auch die, wo das kaum möglich ist. Und dann bleibt da immer noch die Frage, ob ein schwerbehinderter Mitarbeiter eine vergleichbare Leistung, wie der Durchschnitt der restlichen Belegschaft, erbringen kann. Manchmal ist das absolut der Fall, aber manchmal eben nicht und dann stellt sich für den Arbeitgeber die Frage der Lohngerechtigkeit. Das Thema hat eben mehr Facetten, als der VdK sagt.

  18. 5.

    Nach neuem EuGH Urteil genießen Schwerbehinderte auch während der Probezeit einen besonderen Kündigungsschutz.
    So werden viele AG lieber die Ausgleichsabgabe (die man einfach mal ab 2024 verdoppelt hat) als mal auszuprobieren ob man eine Stelle vielleicht doch mit einem Behinderten zu besetzen.
    Der besondere Kündigungsschutz schützt die Schwerbehinderten wohl eher vor Beschäftigung.
    Und wenn man die AG zu mehr Barrierefreiheit verpflichtet, wird die nicht für mehr Beschäftigung sorgen.
    Wenn die Rahmenbedingungen sich nicht ändert werden auch die Verpflichtungen und die Forderungen nichts verbessern … aber vielleicht befragt man mal die AG was passieren müsste damit die mehr Behinderte einstellen…

  19. 4.

    Schwieriges Thema.
    Wo es passt, ist Inklusion ok. Einen blinden Stahlblauer kann ich mir leider nicht vorstellen.

Nächster Artikel