Interview | Verena Bentele vom Sozialverband VdK - "Wir brauchen mehr Verpflichtungen, dass die Arbeitswelt barrierefreier wird"
Verena Bentele war erfolgreiche Profisportlerin und ist heute Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK mit Sitz in Berlin. Von Geburt an ist sie blind. Im Interview spricht sie über Inklusion in Schule und Arbeit sowie über Hürden im Alltag.
Ingo Hoppe: Frau Bentele, Sie sind auf einem Bauernhof in Baden-Württemberg aufgewachsen. Ihr Bruder war ebenfalls sehbehindert. War das eine romantische Kindheit?
Verena Bentele: Ich weiß nicht, ob romantisch das richtige Wort ist, aber auf jeden Fall war es eine sehr freie und unbeschwerte Kindheit. Wir durften uns viel bewegen, viel Sport machen. Wir hatten Ponys zu Hause, weil ich mir die sehr gewünscht habe und meine Eltern gesagt haben: "Du kriegst die, wenn du dich auch selbst darum kümmerst." Das war für mich einfach immer ganz toll, dass meine Eltern meinen blinden Bruder und mich genauso gefördert und gefordert haben wie auch unseren sehenden Bruder. Wir mussten genauso den Pferdestall ausmisten und den Tisch decken. Natürlich gab es Aufgaben, die wir nicht gemacht haben, die der sehende Bruder übernommen hat, aber wir haben andere Dinge gemacht. Das fand ich immer gut.
Sie waren auf Deutschlands einziger Blindenschule. Mittlerweile reden wir viel über Inklusion in Regelschulen. Was ist besser?
Ich war auf einem Gymnasium für Blinde, aber auch zuvor auf einer Grundschule und weiterführenden Schule für blinde Schülerinnen und Schüler. Dort hatte ich tolle Möglichkeiten, Sport zu machen. Deswegen fand ich diese Schule gut für mich. Das große Aber ist, dass ich mit sechs Jahren schon im Internat war. Das war natürlich nicht schön. Ich hätte gerne mit meinem sehenden Bruder und den Freunden zu Hause die Schule besucht, aber eben dann auch mit allen Möglichkeiten, die ich heute in der Inklusion sehe. In Deutschland ist das schon ein großes Problem, dass viele Kinder inklusiv beschult werden, aber zum Beispiel vom Sport- oder Musikunterricht befreit sind. Das muss nicht sein. Dafür müsste das Schulsystem geändert werden: kleinere Klassen, mehr Lehrpersonal, mehr Unterstützung durch Pädagogen und Pädagoginnen. Solange unser Schulsystem so bleibt, wie es heute ist, wird Inklusion immer schwierig sein.
Sie sind Leistungssportlerin, wofür Sie sicherlich auch Assistenz benötigt haben. Wie haben Sie diese gefunden oder haben sich Menschen gemeldet?
Noch ein Nachsatz zum Thema Schule: Es wäre besser, zusammen zu lernen, weil das später auch das Arbeitsleben viel einfacher machen würde. Im Sport hatte ich einen Begleitläufer, jemand, der beim Joggen neben mir läuft und klare Ansagen macht, wenn eine Stufe kommt. Beim Langlaufen haben wir die Stimme, die uns führt und leitet. So kann man gemeinsam Sport machen. Manchmal nutze ich auch andere Mittel wie zum Beispiel ein Laufband, auf dem ich selbst trainieren kann.
Mein Großvater war ebenfalls blind und hatte Hilfsmittel, wie zum Beispiel eine sprechende Waage oder Uhr. Heute gibt es noch viel mehr. Wie bewerten Sie das?
Sie machen das Leben einfacher, wie zum Beispiel Navigationssysteme auf dem Handy oder dass man sich Bilder beschreiben lassen kann. Das sind alles großartige Hilfsmittel. Dass wir heute am Laptop arbeiten können, ist für mich ein großer Gewinn, weil ich niemanden mehr brauche, dem ich Briefe diktieren muss. Ich kann die Korrespondenz selbst erledigen. Aber nicht alle Menschen, die nicht sehen oder andere Behinderungen haben, haben Zugriff auf diese Hilfsmittel. Der Markt ist oft zu klein, um neue Technologien kostengünstig zu entwickeln. Trotzdem hoffe ich, dass die Technik weiter fortschreitet und die Hilfsmittel erschwinglicher werden.
Ihr Arbeitsalltag ist als Chefin des Sozialverbads VdK vielleicht ein bisschen anders, als wenn man einfach Teil eines großen Unternehmens ist. Was wünschen Sie sich für alle?
Ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderungen Arbeitsplätze haben, die barrierefrei sind. Gebäude sollten gut zugänglich sein, Intranet- und Internet-Systeme bedienbar, technische Arbeitsschritte machbar. Zum Beispiel sollte eine elektronische Akte barrierefrei sein. Wenn blinde Menschen in Programmiersprachen arbeiten, die nicht barrierefrei sind, ist das natürlich schwierig. Wir brauchen mehr Verpflichtungen, dass die Arbeitswelt barrierefreier wird.
Zudem brauchen Menschen mit Behinderungen die richtigen Hilfsmittel und Arbeitsassistenz. Ich habe Unterstützung von meiner Assistentin und Referentin, die mir Briefe vorliest oder mich auf Veranstaltungen begleitet. Neulich war ich auf einem Empfang zu 75 Jahren deutsches Grundgesetz. Da war es wichtig, dass mir jemand hilft, die richtigen Personen zu finden oder mich zu orientieren.
Was wären Ihre Hauptforderungen? Was sollte am schnellsten umgesetzt werden?
Am schnellsten sollte es einfacher werden, die richtige Unterstützung zu bekommen. Menschen mit Behinderungen und Arbeitgeber sollten schnell und genau wissen, an wen sie sich wenden müssen. Es gibt viele Angebote, aber die sind oft an unterschiedlichen Stellen im Sozialsystem verteilt, was die Beantragung schwierig macht.
Wünschen Sie sich Hilfe im Alltag von Fremden?
Ich finde es gut, wenn man fragt: "Hallo, kann ich Ihnen helfen?" Bei mir passiert es oft, dass ich einfach am Arm angefasst werde von Menschen, die helfen wollen, ohne zu fragen. Das mag ich nicht. Ich weiß oft, wohin ich will, und brauche nicht immer Hilfe. Also lieber fragen als einfach helfen. Das wäre mir lieber.
Verstehe ich. Insgesamt sollten wir harmonisch und freundlich miteinander umgehen.
Das tun wir leider nicht immer. Neulich bin ich über einen Roller gestolpert, der mitten auf dem Platz stand. Man könnte ihn doch wenigstens an den Rand stellen. Da merkt man, dass die Menschen oft nicht rücksichtsvoll sind. Wenn wir alle ein bisschen achtsamer wären, könnten wir schon viel erreichen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Verena Bentele führte Ingo Hoppe, rbb 88,8.
Sendung: rbb 88,8, 28.05.2024, 16:10 Uhr