Kleidung für Kinder mit Beeinträchtigung - "In der deutschen Modebranche wird Inklusion nicht umgesetzt"
Inklusion bedeutet nicht nur Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten. Inklusion kann sich auch in Kleidung zeigen. Nämlich dann, wenn T-Shirts und Bodys nicht nur praktisch sind für Sonden und Windeln, sondern auch schön. Von Christina Rubarth
Ein etwa anderthalb Meter langer Schlauch führt von Muriels Nase bis zu einer klobigen Maschine, die die Dreijährige mit Sauerstoff versorgt. Muriel ist kleiner und leichter als Gleichaltrige, ihre Hände und Füße schimmern hellblau. Sie hat einen angeborenen Herzfehler. Auf ihrem Bauch trägt sie eine Sonde, mit der ihr ihre Eltern Medikamente verabreichen oder sie künstlich ernähren können. Mit dem Schlauch und der Sonde an ihrem Körper, ist es schwer, Muriel klassisch geschnittene Kinderkleidung an- und auszuziehen – und es kann auch gefährlich werden. Denn wenn Muriels Mutter ihr ein T-Shirt oder einen Pullover über den Kopf streifen muss, löst sie kurz den Schlauch von der Maschine, die Sauerstoffzufuhr wird unterbrochen.
Mode mit Knöpfen, Klett- oder Magnetverschlüssen
Anders ist das bei adaptiver Mode. Das ist Kleidung, die mit Knöpfen, Klett- oder Magnetverschlüssen ausgestattet ist, die das Umziehen leichter machen. Für die Eltern, für das Kind, für alle. Cristina Mojem, Muriels Mutter, öffnet Druckknöpfe auf der Mitte eines Bodys und kommt so an die Sonde, ohne Muriel halb ausziehen zu müssen, sie kann ganze Ärmel aufknöpfen oder einen Pulli von den Füßen herauf anziehen, statt über den Kopf. "Das ist für uns total entscheidend, weil wir dadurch die Möglichkeit haben, sie auch sicher umzuziehen, denn jede Unterbrechung der Beatmung kann bei uns kritisch sein."
Cristina Mojem möchte, dass Muriel nicht nur praktische Kleidung trägt, sondern auch bunte Sachen wie Muriels beide etwas älteren Geschwister. Das vorherrschende Angebot - vieles in weiß, beige oder dunklen Farben - reicht ihr nicht,
Fokus liegt auf Nutzen
Nach Zahlen des Paritätischen Gesamtverbands leben in Deutschland etwa 240.000 Kinder unter 20 Jahren mit einer Behinderung und/oder sie sind chronisch krank. Viele von ihnen tragen Windeln, auch wenn sie keine Kleinkinder mehr sind, haben einen Rollstuhl oder, wie Muriel, Sonden für die Nahrungsaufnahme, Schläuche für Sensoren, die ihre Vitalwerte messen.
Doch die Bekleidungsbranche berücksichtigt diese Kinder kaum. Es gibt Unternehmen, die zum Beispiel praktische Bodys anbieten - meist liegt der Fokus aber auf dem Nutzen der Kleidung, nicht darauf, ob das Kind dann auch kinderecht gekleidet ist oder so farbenfroh wie Gleichaltrige.
Berliner Unternehmen im Austausch mit Eltern
Das Berliner Unternehmen "Wombly" möchte diese Lücke füllen und Mode anbieten für Kinder mit besonderen Bedarfen, die nicht nur funktional ist. Dafür steht es seit Beginn im Austausch mit pflegenden Eltern und Kindern, passt Designs an, wenn sie sich als nicht alltagstauglich herausstellen. Die Gründerinnen hatten selbst Frühchen und Kinder mit anderen Beeinträchtigungen im engsten Familienkreis, kamen aus der Modebranche und wollten sich der Herausforderung stellen. "Wenn Eltern sagen, dass sie ihre Kinder mit unserer Kleidung risikolos anziehen können, dann ist das ein tolles Gefühl", sagt Mitgründerin Lina Phyllis Falkner.
Seit einem Jahr gibt es die Kleidung jetzt online zu kaufen, bald sollen auch größere Größen ins Sortiment. Jetzt gibt es neben Bodys für Frühchen ab Größe 38 auch Kinderkleidung bis Größe 140, zum Beispiel Cordkleider mit Flügelärmeln oder Langarmshirts in knalligen Farben, Pullis mit auffälligen Krägen und Bündchen. Alles leicht anzuziehen, wenig Dezentes.
"Inklusion wird in deutscher Modebranche nicht umgesetzt"
In den USA oder in Großbritannien seien die Themen Behinderung und Inklusion viel normaler als in Deutschland., sagt Lina Phyllis Falkner. Dort gebe es mehrere Anbieter für praktische und zugleich ansprechende Kleidung und der Begriff "adaptive Mode" sei viel etablierter.
"In der deutschen Modebranche gibt es diese Inklusion nicht, sie wird nicht umgesetzt oder gelebt." Sie wünscht sich weniger Berührungsangst und spürt auch bei der Suche nach Investoren und Investorinnen, dass das Thema Behinderung blockiert. Meist seien es dann Menschen, die selbst ein Kind mit einer Behinderung haben oder in ihrem Umfeld kennen, die sich für die Kleidung begeistern können. Es fehle an Berührungspunkten mit Menschen mit Behinderungen, damit diese in Deutschland mitgedacht werden – auch in der Mode.
Dabei ist adaptive Kleidung eine große Erleichterung für betroffene Kinder und ihre Eltern. Pflegende Eltern tauschen sich in Internetforen darüber aus, viele nähen selbst, wenn sie es in ihrem vollen Alltag zeitlich schaffen. Oder, so sagt auch Muriels Mutter, Cristina Mojem, sie kaufen Mode von der Stange, schneiden dann Löcher oder nähen Bündchen rein, damit Schläuche oder Sensoren zur Kleidung passen.
Adaptive Kleidung schafft "Normalität"
Cristina Mojem öffnet eine ganze Reihe Druckknöpfe am rechten Arm eines Pullovers aus Batikstoff. Muriel kann ihn problemlos anziehen und fühlt sich ganz offensichtlich wohl in dem besonderen Kleidungsstück in Rosa, Pink und Orange. "Schöne Kleidung ist total wichtig und schafft ganz viel Normalität", sagt Muriels Mutter. So wurde auch schon auf die auffallende Kleidung angesprochen von anderen Eltern – ob mit Kindern mit Behinderungen oder ohne. Auch Muriels Geschwister können mit ihr im Partnerlook unterwegs sein. Mit Mode, die allen passt, ob mit Behinderung oder ohne.
Sendung: rbb24 Abendschau, 28.05.2024, 19:30 Uhr