Kleidung für Kinder mit Beeinträchtigung - "In der deutschen Modebranche wird Inklusion nicht umgesetzt"

Di 28.05.24 | 16:47 Uhr | Von Christina Rubarth
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Muriel und Mutter mit Sonde. (Quelle: rbb
Video: rbb24 Abendschau | 28.05.2024 | Christina Rubarth | Bild: rbb

Inklusion bedeutet nicht nur Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten. Inklusion kann sich auch in Kleidung zeigen. Nämlich dann, wenn T-Shirts und Bodys nicht nur praktisch sind für Sonden und Windeln, sondern auch schön. Von Christina Rubarth

Muriel im Batikpulli. (Quelle: rbb)
| Bild: rbb

Ein etwa anderthalb Meter langer Schlauch führt von Muriels Nase bis zu einer klobigen Maschine, die die Dreijährige mit Sauerstoff versorgt. Muriel ist kleiner und leichter als Gleichaltrige, ihre Hände und Füße schimmern hellblau. Sie hat einen angeborenen Herzfehler. Auf ihrem Bauch trägt sie eine Sonde, mit der ihr ihre Eltern Medikamente verabreichen oder sie künstlich ernähren können. Mit dem Schlauch und der Sonde an ihrem Körper, ist es schwer, Muriel klassisch geschnittene Kinderkleidung an- und auszuziehen – und es kann auch gefährlich werden. Denn wenn Muriels Mutter ihr ein T-Shirt oder einen Pullover über den Kopf streifen muss, löst sie kurz den Schlauch von der Maschine, die Sauerstoffzufuhr wird unterbrochen.

Mode mit Knöpfen, Klett- oder Magnetverschlüssen

Anders ist das bei adaptiver Mode. Das ist Kleidung, die mit Knöpfen, Klett- oder Magnetverschlüssen ausgestattet ist, die das Umziehen leichter machen. Für die Eltern, für das Kind, für alle. Cristina Mojem, Muriels Mutter, öffnet Druckknöpfe auf der Mitte eines Bodys und kommt so an die Sonde, ohne Muriel halb ausziehen zu müssen, sie kann ganze Ärmel aufknöpfen oder einen Pulli von den Füßen herauf anziehen, statt über den Kopf. "Das ist für uns total entscheidend, weil wir dadurch die Möglichkeit haben, sie auch sicher umzuziehen, denn jede Unterbrechung der Beatmung kann bei uns kritisch sein."

Lina Phyllis Falkner, Mit-Gründerin vom Wombly adaptive. (Quelle: rbb)
Bild: rbb

Cristina Mojem möchte, dass Muriel nicht nur praktische Kleidung trägt, sondern auch bunte Sachen wie Muriels beide etwas älteren Geschwister. Das vorherrschende Angebot - vieles in weiß, beige oder dunklen Farben - reicht ihr nicht,

Das ist für uns total entscheidend, weil wir dadurch die Möglichkeit haben, sie auch sicher umzuziehen, denn jede Unterbrechung der Beatmung kann bei uns kritisch sein.

Cristina Mojem, Muriels Mutter

Fokus liegt auf Nutzen

Nach Zahlen des Paritätischen Gesamtverbands leben in Deutschland etwa 240.000 Kinder unter 20 Jahren mit einer Behinderung und/oder sie sind chronisch krank. Viele von ihnen tragen Windeln, auch wenn sie keine Kleinkinder mehr sind, haben einen Rollstuhl oder, wie Muriel, Sonden für die Nahrungsaufnahme, Schläuche für Sensoren, die ihre Vitalwerte messen.

Doch die Bekleidungsbranche berücksichtigt diese Kinder kaum. Es gibt Unternehmen, die zum Beispiel praktische Bodys anbieten - meist liegt der Fokus aber auf dem Nutzen der Kleidung, nicht darauf, ob das Kind dann auch kinderecht gekleidet ist oder so farbenfroh wie Gleichaltrige.

Berliner Unternehmen im Austausch mit Eltern

Das Berliner Unternehmen "Wombly" möchte diese Lücke füllen und Mode anbieten für Kinder mit besonderen Bedarfen, die nicht nur funktional ist. Dafür steht es seit Beginn im Austausch mit pflegenden Eltern und Kindern, passt Designs an, wenn sie sich als nicht alltagstauglich herausstellen. Die Gründerinnen hatten selbst Frühchen und Kinder mit anderen Beeinträchtigungen im engsten Familienkreis, kamen aus der Modebranche und wollten sich der Herausforderung stellen. "Wenn Eltern sagen, dass sie ihre Kinder mit unserer Kleidung risikolos anziehen können, dann ist das ein tolles Gefühl", sagt Mitgründerin Lina Phyllis Falkner.

Seit einem Jahr gibt es die Kleidung jetzt online zu kaufen, bald sollen auch größere Größen ins Sortiment. Jetzt gibt es neben Bodys für Frühchen ab Größe 38 auch Kinderkleidung bis Größe 140, zum Beispiel Cordkleider mit Flügelärmeln oder Langarmshirts in knalligen Farben, Pullis mit auffälligen Krägen und Bündchen. Alles leicht anzuziehen, wenig Dezentes.

Wenn Eltern sagen, dass sie ihre Kinder mit unserer Kleidung risikolos anziehen können, dann ist das ein tolles Gefühl.

Lina Phyllis Falkner, Mitgründerin von "Wombly"

"Inklusion wird in deutscher Modebranche nicht umgesetzt"

In den USA oder in Großbritannien seien die Themen Behinderung und Inklusion viel normaler als in Deutschland., sagt Lina Phyllis Falkner. Dort gebe es mehrere Anbieter für praktische und zugleich ansprechende Kleidung und der Begriff "adaptive Mode" sei viel etablierter.

"In der deutschen Modebranche gibt es diese Inklusion nicht, sie wird nicht umgesetzt oder gelebt." Sie wünscht sich weniger Berührungsangst und spürt auch bei der Suche nach Investoren und Investorinnen, dass das Thema Behinderung blockiert. Meist seien es dann Menschen, die selbst ein Kind mit einer Behinderung haben oder in ihrem Umfeld kennen, die sich für die Kleidung begeistern können. Es fehle an Berührungspunkten mit Menschen mit Behinderungen, damit diese in Deutschland mitgedacht werden – auch in der Mode.

Dabei ist adaptive Kleidung eine große Erleichterung für betroffene Kinder und ihre Eltern. Pflegende Eltern tauschen sich in Internetforen darüber aus, viele nähen selbst, wenn sie es in ihrem vollen Alltag zeitlich schaffen. Oder, so sagt auch Muriels Mutter, Cristina Mojem, sie kaufen Mode von der Stange, schneiden dann Löcher oder nähen Bündchen rein, damit Schläuche oder Sensoren zur Kleidung passen.

Adaptive Kleidung schafft "Normalität"

Cristina Mojem öffnet eine ganze Reihe Druckknöpfe am rechten Arm eines Pullovers aus Batikstoff. Muriel kann ihn problemlos anziehen und fühlt sich ganz offensichtlich wohl in dem besonderen Kleidungsstück in Rosa, Pink und Orange. "Schöne Kleidung ist total wichtig und schafft ganz viel Normalität", sagt Muriels Mutter. So wurde auch schon auf die auffallende Kleidung angesprochen von anderen Eltern – ob mit Kindern mit Behinderungen oder ohne. Auch Muriels Geschwister können mit ihr im Partnerlook unterwegs sein. Mit Mode, die allen passt, ob mit Behinderung oder ohne.

Sendung: rbb24 Abendschau, 28.05.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Christina Rubarth

20 Kommentare

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  1. 20.

    Wir sind ein freies Land und versuchen kann wirtschaftlich jeder, was er will. Das Problem dahinter ist aber, dass es sich entweder gar nicht lohnt oder schlicht Preise aufgerufen werden müssen, die niemand bezahlen will. Das Schöne an der Marktwirtschaft ist, dass sobald ein ausreichender Bedarf besteht, sich immer jemand findet, der diesen Bedarf deckt. Man kann also davon ausgehen, dass der Bedarf bisher einfach nicht groß genug war. Diesen haben dann Spezialherstellern mit Einzelstücken oder die genannten Änderungsschneidereien offenbar ausreichend abgedeckt. Ich habe persönlich auch kein Problem damit, wenn das die Krankenkasse oder der Staat bezuschusst. Aber zu verlangen, dass eine ganze Branche sich anzupassen hätte, wäre dann doch etwas übertrieben.

  2. 19.

    Sorry, aber das Problem ist nur herbeigeschrieben. Im Ausland gibt es wirklich alles, selbst auf amazon zu gehen und das dort vorhandene Angebot nutzen, ist ok, wenn wir auch finden, dass für unsere Tochter in Einzelsuche mehr Auswahl da ist. Und es ist doch sinnvoll, dass für einen größen- und somit rentabilitätsbeschränkten Markt nicht in jedem Land die Firmen vorhanden sind. Es gibt also auch Vorteile der weltweiten Einkaufsmöglichkeiten.

  3. 18.

    ..."keine Ahnung..." und "Waldorfschule" ist wahrscheinlich die Schnittstelle. Warum kann ein Waldorfschüler nähen? Weil ihn diese Schule besser auf das Leben vorbereitet hat? Ich finde daran nichts falsch, denn wer nicht in der Lage ist, einen Knopf anzunähen oder eine Naht auszubessern, schmeißt die Klamotten weg. Wegwerfgesellschaft hat ihren Ursprung im Überfluss. Wenn die Politik möchte, dass mehr repariert, statt weggeschmissen wird dann möchte sie auch dafür sorgen, dass Grundschüler bereits mit der Problematik vertraut sind und etwas für ihr Leben lernen. Zu meiner Schulzeit gab es Nadelarbeit, Werken und Schulgarten in der Schule als Unterrichtsfächer und zwar für alle Schülerinnen und Schüler. Geschadet hat es nicht.

  4. 17.

    Na dann ran und machen. Werden Sie Ihrem Anspruch gerecht. Selber. Nicht andere. Die gute Nachricht ist: In einer Demokratie darf man das entwickeln, herstellen, verkaufen. Genauso wie Jachten auch...
    Noch eine gute Nachricht ist: Es darf niemand gezwungen werden das zu tun.

  5. 16.

    Aber man kann doch versuchen, es für alle besser zu machen. Es gibt bestimmt auch einige neue Errungenschaften, die es älteren Leuten leichter macht am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und das Leben erleichtern. Ich finde diese Ideen toll und wenn die Klamotten schöne sind, kann sie ja auch jeder andere tragen. Dann lohnt es sich auch diese zu produzieren uns sie wird für alle günstiger. Und je mehr man eingeschränkte Personen durch neue Ideen und Technologien am Leben teilzuhaben lässt, desto mehr hat auch die Gesellschaft davon und sie können ihren Beitrag zum Allgemeinwohl beitragen. Win win für alle

  6. 15.

    Ja, Eltern lernen nähen, ich habe für mein Kind auch zu enge (!) Halsausschnitte geöffnet, Hosen weiter oder kürzer gemacht, pipapo. Aber: man hat effektiv kaum ZEIT dafür. Klar, Männer hätten alle Zeit der Welt, die Väter. Die nähen aber nix. Und Mütter von Kindern mit höheren pflegerischen Anforderungen haben noch weniger Zeit! Nähen braucht Zeit.

    Das Schwadronieren älterer männlicher Kommentatoren über "lernt doch selber nähen" zeigt, dass keiner Ahnung davon hat. Ich kenne übrigens nur EINEN Mann ü50, der selber nähen kann, vermutlich, weil er auf der Waldorfschule war....

  7. 14.

    Das Beispiel ist sehr spezifisch. Es gibt auch andere Hilfen: weniger Knöpfe und Reissverschlüsse, mehr Klettverschlüsse und magnetische Knöpfe. Damit können Kinder mit motorischen Schwierigkeiten sich selber anziehen. Bei den Schuhen gibt es viele Modelle. Wieso nicht auch bei Jacken und Hosen?
    Das wäre auch für grössere Ketten kein Problem Kinder mit Behinderung mitzudenken. Auch für Grössen ab 104.

  8. 13.

    Manche Menschen hatten offensichtlich noch nie Berührungspunkte mit Menschen mit Beeinträchtigungen, früher mal "Behinderte" tituliert. Wer 86 Jahre alt wurde (!) und das auch noch halbwegs fit, der sollte sich täglich in Dankbarkeit üben....

  9. 12.

    Ist das Werbung für die kapitalistische Modebranche? Sollen auch hier reiche Kinder von armen Kindern unterschieden werden? Soll wieder das Design das Bewusstsein bestimmen?

    Praktischer Tipp für Eltern, lernt nähen. Es werdeb sich schon Modedesignerinnen finden lassen die dort einen Markt sehen. Wo Gewinne locken findet sich immer ein Kapitalist(in).

  10. 11.

    Eine ganze Branche jetzt wegen solch sicher tragischen Schicksals anzuprangern halte ich persönlich für übertrieben. Sicher gibt’s viel Elend und Problem - nicht alles ist industriell lösbar. Sicher würde sich jemand finden, der für das Mädchen par ordentliche Klamotten nähen kann - die Modebranche? Die haben zwar die alte Dorfschneiderin platt gemacht, die das früher hingekriegt hätte. Mehr kann man denen aber auch nicht vorwerfen.

  11. 10.

    "In den USA oder in Großbritannien seien die Themen Behinderung und Inklusion viel normaler als in Deutschland., sagt Lina Phyllis Falkner. Dort gebe es mehrere Anbieter für praktische und zugleich ansprechende Kleidung und der Begriff "adaptive Mode" sei viel etablierter."
    Solche Funktionskleidung für diese Altersgruppe gibts dort aber nicht per Gesetz, sondern weil der Markt da ist und weil die Eltern in diesem Markt bereit sind, die höheren Preise für diese Sachen zu bezahlen. Ich habe eine Bekannte mit einem Kleinkind, das eben mit solcher Funktionskleidung auch besser zurecht kommt im Alltag. Sie bestellt bei amazon und woher wohl... aus GB. Weil es kein so passenden Anbieter in Deutschland gibt oder wenn Anbieter, sind die nicht so online auffindbar. Nach adaptiv hat Sie in amazon noch nie gesucht. In nicht deutschen Ländern ist das Funktionskleidung für Baby oder Kleinkind mit körperlicher Einschränkung.

  12. 9.

    Echt jetzt...na immerhin hatten sie mal ein aktives Leben. Hat nicht jeder soviel Glück bis ins hohe Alter Gesund bzw ohne Behinderung zu bleiben. In ihrem Alter sollte man doch auf mehr Anstand hoffen. Schämen sollten sie sich
    :(

  13. 8.

    Bitte vergessen Sie nicht, dass diese Eltern jede Minute ihrer Freizeit (und oft auch ihrer Schläfenzeit) damit verbringen die Kinder zu versorgen und zu pflegen. Geschweige denn dass pflegende Angehörige finanziell meistens deutlich mehr Herausforderungen haben als durchschnittliche Bürger*innen.
    Dass die Beziehungen/ Ehen noch strapazierter sind als die durchschnittlichen (Trennungsquote 50:50), und häufig trotzdem Arbeitszeiten, Geschwisterkinder oder weitere zu pflegende Angehörige (Eltern, Großeltern, usw.) anstehen

  14. 7.

    Weil ja auch pflegende Eltern so viel Zeit und Geld haben. Wie kann man nur so wenig Mitgefühl mit Familien mit behinderten Kindern haben?

  15. 6.

    Nein, natürlich nicht. Aber für halbwegs geschickte Eltern dürfte es kein Problem sein, Konfektionskleidung einfach umzuändern bez. anzupassen. Ansonsten gibt es in der Regel für wenig Geld Änderungsschneidereien.

  16. 5.

    Bitte vergessen Sie nicht, dass es hier um Kinder geht, die noch ihr Leben ( leider oft verkürzt) vor sich haben. Was ist übertrieben daran, funktionale und kindgerecht-farbenfrohe Kleidung anzubieten? Sollen die betroffenen Kinder alleine "in Sack und Asche" zu Hause sitzen, während die Geschwister in bunter Kleidung unterwegs sind? Auch Kinder mit Beeinträchtigung werden zum Glück heute nicht mehr versteckt, wie es früher einmal war.

  17. 4.

    Man kann es mit der Inklusion auch echt übertreiben. Ich bin 86 Jahre alt und kann aus gesundheitlichen Gründen auch nicht mehr alles machen oder da hingehen wo ich früher hingegangen bin. So ist halt das Leben. Nicht immer schön, aber es geht im Großen und Ganzen.

  18. 3.

    240.000 machen nicht mal 2 Prozent der Kinder unter 20 aus (sind ca. 15 Mio). Das ist somit auch eine arg kleine Zielgruppe. Da werfe ich das den Firmen auch nicht vor. Die Frage ist, wie man trotzdem mehr Mode für die Gruppe hinbekommt. On demand vielleicht.

  19. 2.

    Gezwungen werden nicht, aber freiwilliger Zwang ist ein gutes und probates Mittel !

  20. 1.

    Die gute Nachricht ist: In einer Demokratie darf man das entwickeln, herstellen, verkaufen. Genauso wie Jachten auch...
    Noch eine gute Nachricht ist: Es darf niemand gezwungen werden das zu tun.

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