Interview | Jens Voigt über Bergwertung - "Das einzige Trikot, das nicht allein an Superstars geht"
Radsport-Experte Jens Voigt erklärt, warum es für den Berliner Simon Geschke bei der Tour de France am Ende nicht fürs Bergtrikot gereicht hat - und erläutert, wie man es gegen die dominierenden Fahrer Pogacar und Vingegaard gewinnen könnte.
rbb|24: Herr Voigt, welche Überschrift würden Sie der abgelaufenen Tour de France verleihen?
Jens Voigt: Aus deutscher Sicht würde ich sagen: Die Tour der verpassten Chancen.
Erklären Sie uns das bitte.
Wir waren besser als das Ergebnis es darstellt. Die deutschen Fahrer waren immer Teil des Rennens, haben attackiert. Lennard Kämna war knapp dran, Simon Geschke war mehrmals in den Spitzengruppen um den Etappensieg vertreten, Nils Politt war vorne mit dabei. Nur ein messbarer Erfolg fehlt am Ende.
Sie nennen Lennard Kämna, dem bei der Tour zwischenzeitlich elf Sekunden fürs Gelbe Trikot fehlten - der später allerdings erkältet aufgeben musste. Welche Rolle trauen Sie dem 25-Jährigen künftig zu?
Am besten scheint er in der Rolle des freien Elektrons zu funktionieren. Er braucht die Freiheit, so zu fahren, wie er es mag. Oder eben als Edelhelfer, auf den Verlass ist, wenn das Rennen schwer wird. Ich weiß ja: Viele träumen hierzulande von einem deutschen Toursieg. Aber ich glaube, wir tun Lennard Kämna oder auch jemandem wie Emanuel Buchmann keinen Gefallen mit diesen Anforderungen. In Deutschland gibt es aktuell keinen, der um den Gesamtsieg mitfahren kann. Sowohl Kämna als auch Buchmann sind aber sehr gut, wenn um den Etappensieg geht.
Der gebürtige Berliner Simon Geschke hat mit seinen Erfolgen in der Bergwertung hierzulande einen regelrechten Hype ums gepunktete Trikot ausgelöst. Wie haben Sie seine Leistung erlebt?
Ich war als TV-Experte ja jeden Tag live dabei. Ich habe früh festgestellt, dass er die Mitbewerber um das gepunktete Trikot, also die bergfesten Ausreißer, recht gut im Griff hat. Seine größte Gefahr waren die Klassement-Fahrer: Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard kämpfen jeden Tag um Sekunden und Etappensiege. Dadurch liegen sie bei den letzten ein oder zwei Bergen zwangsläufig vorne. Und das sind oft die großen Berge, bei denen es viele Punkte gibt. Das heißt: Diese Stars fahren automatisch mit ums Bergtrikot.
Was heißt das für die Herausforderer um das gepunktete Trikot?
Die letzten drei Jahre hat der Gewinner des Gelben Trikots jeweils auch das Bergtrikot geholt. Dieses Jahr Vingegaard, die zwei Jahre davor Pogacar. Wenn man das weiß, muss man so fahren, dass man früh genügend Vorsprung hat vor diesen Fahrern. Oder: In den schweren Bergetappen müsste man selber die ersten zwei Berge gewinnen, weil logischerweise kaum jemand in der Lage ist, am Schlussanstieg mit Pogacar oder Vingegaard mitzuhalten. Wenn man die Punkte braucht, muss man die also vorher einsammeln. Ich persönlich hoffe, dass Simon Geschke es in diesem Jahr gelernt hat, wie es geht und was gefehlt hat und dass er im nächsten Jahr noch mal ganz frisch angreifen kann ums Bergtrikot.
Sie selbst haben in ihrer aktiven Zeit immer wieder um das Bergtrikot gekämpft und es manche Male überstreifen können. Inwiefern hat sich der Stellenwert dieses Trikots verändert?
Jedes Trikot ist eine Riesentrophäe. Außer dem Gelben Trikot gibt es davon aber nur drei. Und beim Weißen Trikot scheiden die meisten von Vornherein aus, weil sie zu alt sind (Anm.: es wird dem besten Fahrer unter 25 Jahre verliehen). Das Grüne Trikot (Anm.: wird dem Führenden der Punktewertung verliehen) geht ganz klar an Superstar Wout van Aert. Das einzige Trikot, das man mit einer aktiven, mutigen, risikobereiten Fahrweise noch holen kann, ist das Bergtrikot. Ich würde schätzen, dass im Peleton rund 80 Fahrer die Fähigkeit hätten, zumindest am Anfang um das Bergtrikot zu fahren. Damit ist es das einzige verbliebene Trikot, das nicht allein an Superstars geht.
Obwohl Geschke in der letzten Bergetappe in den Pyrenäen das gepunktete Trikot an Vingegaard verlor, sollte er es bis zum Ende der Tour überstreifen - weil Vingegaard bereits das Gelbe Trikot trug. Darüber äußerte Geschke seinen Unmut, sagte, er habe darauf "keinen Bock". Hätte der aktive Fahrer Jens Voigt ebenso reagiert?
Ja klar. Ich kann Simon Geschke total verstehen. Stellen Sie sich vor, Sie kriegen im Büro einen neuen Vorgesetzten und müssen nun in die Besenkammer umziehen. Aber für eine Woche dürfen Sie noch den Schreibtisch des neuen Chefs warmhalten. Wie fühlt man sich da? Klar, das Trikot bleibt eine Auszeichnung, aber eine bittersüße. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er sich darüber gefreut hat, dass ihn die Fahrer bei der letzten Etappe haben vorfahren lassen, um die letzte Bergwertung zu holen.
Die diesjährige Tour galt als eine der schnellsten der Geschichte. Gleichzeitig war eine Zweiklassen-Gesellschaft zu beobachten: Es herrschte eine drückende Dominanz des niederländischen Teams Jumbo-Visma, an die höchstens noch UAE Team Emirates herankam.
Die Verhältnisse lassen sich gut mit denen im Fußball vergleichen: Der Erfolg steht in direkter Relation zum Team-Budget. Paris St. Germain in Frankreich, mit den Milliarden aus Katar – ja klar, gewinnen die in den allermeisten Fällen die französische Meisterschaft, weil sie das doppelte Budget haben von allen anderen. Auch im Radsport sind die ersten drei Mannschaften nicht zufälligerweise die Teams mit dem größten Budget. UAE, Jumbo-Visma, und auch Ineos Grenadiers. Dann tut sich ein Loch auf, erst danach kommen die restlichen Mannschaften. Das bringt mich zurück zu Lennard Kämna: Wenn er einmal die Tour auf dem Podium beenden will, müsste er zu einer der drei genannten Mannschaften wechseln. Bei Bora kann er zwar ein toller Fahrer werden – aber aufs Podium am Ende der Tour wird er es dort nicht schaffen.
Die unvorstellbaren Leistungen insbesondere der Fahrer von Jumbo-Visma werden teilweise von Skepsis begleitet. Können Sie das nachvollziehen?
Ja klar. Wir sind im Radsport. Wir alle kennen die Geschichte. Diese Skepsis wird vermutlich noch ganz lange so bleiben und vielleicht auch niemals weggehen, wenn es zu solchen spektakulären Leistungen kommt.
Die Deutschen sind bei der Tour ohne Etappensieg geblieben. Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?
Es gilt, einen Sprinter mitzunehmen. Aber abgesehen von Pascal Ackermann haben wir keinen Sprinter, der da vorne siegfähig ist. Wir hatten eine großartige Zeit mit André Greipel, mit dem jungen John Degenkolb und mit Marcel Kittel. Ähnlich beim Zeitfahren: Auf Tony Martin konntest du immer setzen. Auch da gibt es keinen im Moment. Wir haben gute Allrounder, gute Ausreißer, aber keinen Topsprinter oder Topzeitfahrer.
Was erwarten Sie sich von der anstehenden Deutschlandtour vom 24. bis 28. August?
Wer ein schönes Radrennen sehen will, sollte sich die Etappe rund um Freiburg anschauen. Da gibt es mit dem Schauinsland einen komplizierter Berg, bei dem man als Zuschauer wahrscheinlich im Schritttempo mit den Fahrern mitkommt. Es gibt ja auch eine berechtigte Chance, dass der Titelverteidiger Nils Politt mit am Start ist. Und vielleicht auch Simon Geschke, wenn er sich richtig erholt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Shea Westhoff, rbb Sport.
Sendung: rbb|24 Inforadio, 25.07.2022, 14:15 Uhr