WM-Tagebuch aus Katar - Zwischen Schwarz, Grell und Grau
Am Sonntag wird in Katar die Fußball-WM eröffnet. Viel wurde im Vorfeld über das Turnier gesprochen und debattiert. Der Leiter der rbb-Sportredaktion, Dirk Walsdorff, ist seit einer knappen Woche vor Ort und berichtet im rbb|24-WM-Tagebuch von seinen Eindrücken.
Sie haben tatsächlich wegen Überfüllung geschlossen. Als ich am Samstagabend am offiziellen "Fifa Fan Fest"-Gelände in Doha ankomme, bewahrheitet sich, was manche der Hunderten von Ordnern, Helferinnen und Polizisten auf dem Weg vom U-Bahnhof über frisch angelegte und begründete Parkanlagen durch ihre Megafone in einer Endlosschleife schon angesagt haben: "Fifa Fan Fest is full."
Und so stehen Hunderte, wenn nicht Tausende vor verschlossenen Einlasskontrollen. Ich bin mit meinem Kollegen Holger Dahl unterwegs. Er wird in vier Wochen das Endspiel für alle Radiosender der ARD übertragen. Wir beide haben inzwischen einiges gesehen und erlebt, waren bei mehreren Fußball-Welt- und Europameisterschaften. Aber damit haben wir hier in Doha nicht gerechnet.
Feuerwerk, Lichtshow - und Bier
Es ist ein Trubel, der in uns sofort die Assoziation an die deutschen Innenstädte und vor allem an Berlin im Sommer 2006 auslöst. Tausende Menschen sind unterwegs, in unterschiedlichsten Fußballtrikots. Viele von Ihnen sind Katarer oder Menschen, die hier wohnen. Aber längst nicht alle.
Vor allem Südamerikaner sind in Scharen da, erst recht auf dem Fan Fest, wo der kolumbianische Superstar Maluma auf der imposanten Bühne die Massen zum Mitsingen, Tanzen und Feiern animiert. Die Lichtshow ist State of the Art. Das Feuerwerk zuvor war eines der besseren, was man so gesehen hat. Und Bier gibt es auch. Für 50 Riyal, das sind etwa 13,50 Euro.
Eine ganz besondere WM?
Es ist die große Erkenntnis nach einer knappen Woche in dieser fremden Welt. Nach allem, was wir sagen können, wird dies tatsächlich die stimmungsvolle und durch die Nähe aller Stadien, Mannschaften und Fans, auf der atmosphärischen Ebene ganz besondere WM.
Also das, was der zunehmend entrückt wirkende FIFA-Chef Gianni Infantino uns immer verkaufen möchte. Hell bis grell erleuchtet - denn auch in Katar geht die Sonne im Winter um 16:30 Uhr unter. Alle Fassaden sind LED-bunt - die beeindruckenden Wolkenkratzer der Skyline. Baumwoll-bunt ist der Auftritt der Fans, die in Trikots und in Fahnen gehüllt über den Souq, den zentralen Markt, drängeln.
Gekaufte Fans? Ja, gibt es, jedenfalls gesponserte. Am Sonntagabend werden wir etwa 1.300 von Ihnen bei der Eröffnungsfeier sehen. Durchgesponsert von der Fifa mit Tickets und Hotel werden wohl knapp 450 Stimmungsmacher aus allen Ländern. Das ist seltsam, aber bei 3,1 Millionen verkauften Tickets keine relevante Größe.
Eintauchen in eine fremde Welt
Da ich noch nie in der arabischen Welt war, versuche ich zumindest hier in Doha in den vergangenen Tagen einigermaßen tief einzutauchen. Die nagelneue Milliarden-U-Bahn ist technisch faszinierend und für einen Berliner mit ihren drei Linien genauso einfach zu verstehen, wie sie praktisch ist. Ansonsten laufe ich so oft es geht herum. 25.000 Schritte zeigt das Smartphone für Samstag an.
Gelegentlich filme ich interessante Szenen mit dem Handy, an einem Abend habe ich für die rbb24 Abendschau ins Fernsehen geschaltet. Dabei bleibe ich völlig unbehelligt. Ein dänischer Kollege wurde Anfang der Woche von Sicherheitskräften bei einer Live-Schalte bedrängt. Pressefreiheit für einheimische Journalisten gibt es de facto nicht und normalerweise ist die Bewegungsfreiheit der internationalen Presse in Katar dramatisch eingeschränkt. Fragen Sie mal unsere ARD-Kolleginnen und Kollegen, die seit Jahren in Katar recherchieren und so viele tolle Dokus und Podcasts produziert haben. Während der WM ist auch das anders. Ich sehe jeden Tag dutzende Reporter bei Schalten in die ganze Welt, alle live, mitten im Trubel der Stadt.
Angst vor Kamera und Mikro
Mit einem Katerer zu sprechen, ist gar nicht so leicht, die allermeisten Menschen hier kommen ja aus dem Ausland. Ob Einheimischer oder hier lebender Ausländer: Wir können mit ihnen reden, bis die Kamera oder das Mikro dazu kommt. Dann werden die Menschen scheu. Man spürt eine diffuse Angst, wie ich sie so bei all den Fußballturnieren und Olympischen Spielen nirgendwo auf der Welt angetroffen habe. Aber was die Taxifahrer ohne Mikro erzählen, lässt auch aufhorchen.
Viele sind froh hier zu sein, in den anderen arabischen Ländern sei die Situation der Gastarbeiter oft viel schlimmer. Das passt zu Erkenntnissen aus Gesprächen mit Menschenrechtlerinnen, Politikern und Korrespondenten, die ich in meiner Vorbereitung auf diese WM führen konnte. Tenor: Vieles in Katar ist nach unseren Maßstäben völlig inakzeptabel, manches schockierend. Aber eine ganze Menge ist deutlich weniger schlecht als in anderen arabischen Ländern. Nachdem ich mir den Amnesty International Report über die Vereinigten Arabischen Emirate durchgelesen habe - Spoiler: kein schöner Text - , stellt sich mir die Frage, wie viele Deutsche im Zuge der berechtigten Katar-Kritik mal darüber nachgedacht haben, ihren nächsten Dubai-Urlaub zu stornieren.
Katar ist grau
Katar und alles, was mit dieser WM zu tun hat, wurde in Teilen der deutschen Öffentlichkeit in den vergangenen Wochen und Monaten ausschließlich in tiefschwarz gemalt. Meine vergangene Woche war geprägt von gleißender Sonne, hellen Scheinwerfern, farbigen Illuminationen und Impressionen einer täglich bunter-werdenden Metropole, Doha. Bei der im für mich Verborgenen täglich ganz bestimmt Menschenrechte missachtet werden, in der eine Energie verschleudert wird, dass sich angesichts der Debatten in der Heimat der Kopf dreht und in der für diese WM Summen ausgegeben wurden, die außerhalb jeder Vorstellungskraft liegen.
Zum Start dieser WM ist die Welt in Katar aus der Nähe betrachtet noch weniger schwarz oder weiß als vorher gedacht. Katar ist grau. Und heiß. Aber das ist ein anderes Thema.
Sendung: rbb24 Abendschau, 20.11.22, 19:30 Uhr