Reportage | Aggressive Eltern im Berliner Jugendfußball - "Der größte Ehrgeiz kommt von den Eltern"
Pöbeleien, Bedrohungen und Gewalt im Jugendfußball gehören nicht erst seit dieser Saison zum Alltag auf Berlins Sportplätzen. Vermehrt stehen in dieser Gewaltdebatte die Eltern der Spieler im Fokus. Eine Ursachenforschung. Von Fabian Friedmann
Es ist Samstag, der 28. Mai 2022. Ein ungewohnt frischer Wind weht an diesem Frühlingsmorgen durch Berlin-Moabit. Auf dem George-Floyd-Sportplatz am Poststadion treffen die C-Junioren des Berliner AK und des SC Staaken aufeinander.
Es ist 11:20 Uhr, als ein Spieler des BAK gefoult wird. Im Anschluss daran kommt es zu einem weiteren Tritt des foulenden SC-Spielers. Der Schiedsrichter pfeift. Es wird laut. Plötzlich rennt ein 47-Jähriger, Vater des Gefoulten, aufs Spielfeld, ringt den 14-jährigen Staakener zu Boden und würgt ihn.
Eltern und Betreuer eilen zur Hilfe. Es entsteht ein Tumult, bis der Vater ein Messer zieht. Laut Zeugenaussagen ruft der Mann: "Ich stech‘ dich ab!" Anschließend macht er mit der Waffe Hiebbewegungen in Richtung der Helfenden. Die Trainer beider Teams gehen dazwischen und verhindern Schlimmeres.
Sind aggressive Eltern zu einem Problem geworden?
Die eilig herbeigerufene Polizei nimmt den Mann fest. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter gefährlicher Körperverletzung. Zwei Wochen später zieht der Berliner AK Konsequenzen.
Der Vater wird mit einem lebenslangen Stadionverbot belegt. Sein Sohn muss den Verein verlassen. "Es ist schade, aber wir wollen zukünftig Konfrontationen vermeiden und die Kinder schützen", wird BAK-Jugendleiter Burak Isikdaglioglu in der B.Z. zitiert. Besagter Vater sei zum ersten Mal bei einem Spiel gewesen. Später treffen sich die Vorstände beider Vereine und arbeiten den Vorfall auf.
Der Fall ist ein erschreckendes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Eltern bei Jugendfußballspielen die Kontrolle verlieren, zu Gewalttätern werden und es am Ende nur noch Verlierer gibt. Aber ist dieser extreme Kontrollverlust eines Spielervaters die absolute Ausnahme oder hat sich jenes Gewaltphänomen auf Berlins Sportplätzen zu einem größeren Problem ausgeweitet?
Ein bis zwei Gewaltvorfälle pro Spieltag
"Das Thema ist kein neues. Das Phänomen gibt es schon sehr lange", sagt Theresa Hoffmann, seit zwei Jahren Referentin für das Schiedsrichterwesen mit dem Fokus auf Gewaltprävention beim Berliner Fußball-Verband (BFV). Eine zentrale Aufgabe der 28-jährigen Sportpsychologin: Sie betreut Berliner Schiedsrichter. Nach jedem Spieltags-Wochenende telefoniert Hoffmann im Schnitt mit drei bis fünf Schiedsrichtern, die kürzlich Erfahrungen mit Bedrohungen oder körperlicher Gewalt im Berliner Jugend- und Amateurbereich gemacht haben. Sie hört zu und gibt Hilfestellungen, um das Erlebte zu verarbeiten.
Bei Jugendspielen seien es häufig die Trainer, die völlig überreagieren, sagt Hoffmann. Vor ein paar Monaten würgte ein Übungsleiter bei einem Spiel einen jungen Schiedsrichter. Der Mann wurde strafrechtlich belangt und gesperrt. "Dass Eltern gewalttätig werden, ist wirklich die Ausnahme. Bei Spielern und Trainern haben wir schon jede Woche ein bis zwei Vorfälle", so Hoffmann.
Gerade wenn Vereinsverantwortliche mit schlechtem Beispiel vorangehen, könne sich schnell eine gewisse Dynamik entwickeln. Die Stimmung von Spielern und Zuschauern werde dann hitziger, Emotionen kochten leichter hoch, die sich dann in Aggressionen gegen Spieler und Schiedsrichter entladen, erklärt Hoffmann: "Ich sitze oft vor meinem Schreibtisch und frage mich: Was ist denn hier schon wieder passiert?"
Drei Erwachsene bedrängen einen 14-jährigen Schiedsrichter
Fakt ist, der Fußball wird von vielen Akteuren allzu sehr emotionalisiert. Aber Emotionsregulation ist laut der Sportpsychologin von vielen nicht gelernt worden, weil es im Umfeld des Fußballs nicht gefordert werde. Es sei sozial anerkannt und geduldet, dass man sich in diesem Rahmen sehr emotional verhalte. "Und man sticht schon heraus, wenn man in diesem Kontext andere Eltern auf ihr Fehlverhalten aufmerksam macht."
Im Grunde wollten Eltern ihre Kinder nur schützen. Viele hätten den Drang, den Foulenden ihres Kindes zu bestrafen, obwohl das der Job des Schiedsrichters wäre: "Der Vorfall bei BAK gegen Staaken ist mit Sicherheit das Heftigste, was wir in den letzten Monaten erlebt haben", so Hoffmann.
Emil Pauls ist ein junger Berliner Schiedsrichter, der häufig im Junioren-Bereich pfeift. Was die Problematik mit den Eltern betrifft, kann der 18-Jährige vom FV Wannsee keine negativen Veränderungen feststellen. "Zum Glück sind die extremen Sachen selten", sagt Pauls.
Negative Erfahrungen hat aber auch er gemacht. Zu Beginn seiner Laufbahn pfiff er ein D-Jugendspiel. Nach der Partie kamen drei Erwachsene, mutmaßliche Eltern der Gästespieler auf ihn zu, bedrängten den damals 14-Jährigen mit lautstarken Vorwürfen zu seiner Leistung. Ein heimischer Platzwart reagierte geistesgegenwärtig und eskortierte den jungen Schiri in die Kabine.
Wenn die Kinder den Spaß am Fußball verlieren
Bei der Verarbeitung solcher Erlebnisse helfen Emil Pauls die Lehrgemeinschaften des Berliner Fußballverbandes. Dort treffen sich Schiedsrichter und tauschen sich aus, ältere Kollegen geben den jungen Tipps, wie sie sich in kritischen Momenten verhalten können. "Die Betreuung drumherum, dass man aktiv Unterstützung bekommt, in diesem Bereich ist viel passiert", sagt Pauls. "Dass man einen Anruf bekommt, wenn etwas passiert ist, gefragt wird, ob alles in Ordnung sei, ist ein gutes Angebot", findet der 18-jährige Nachwuchs-Schiedsrichter, der auch schon Spiele in der Männer-Bezirksliga pfeift.
Bei Vereinen und Trainern hat Pauls eine gewisse Machtlosigkeit im Umgang mit pöbelnden und aggressiven Eltern beobachtet. "Viele würden es gerne ändern", sagt er. Doch ein Teil der Vereinsverantwortlichen hat offenbar resigniert, weil sie auf die Eltern angewiesen sind.
Das Dilemma: Es gibt rund 2.400 Kinder- und Jugendfußballteams in Berlin, die am Spielbetrieb teilnehmen, aber nur circa 1.500 lizensierte Jugendtrainer. Viele Mannschaften werden hauptamtlich oder als Co-Trainer von Vätern betreut, die einspringen, weil kein ausgebildeter Trainer verfügbar ist – manchmal mit negativen Auswirkungen. "Man merkt schon, dass es bei manchen Spielen so weit geht, dass die Kinder den Spaß am Fußball verlieren", sagt Emil Pauls.
"Die Fußball-Infrastruktur in Berlin ist katastrophal"
Wer mit den Strukturen des Berliner Jugendvereinsfußballs bestens vertraut ist und die Problematik rund um Trainer und Eltern kennt, ist Gerd Thomas, Vorsitzender des FC Internationale Berlin. Der wegen seines sozialen Engagements vielfach ausgezeichnete Tempelhofer Verein hat eine Jugendabteilung, in der circa 650 Kinder und Jugendliche aktiv Fußball spielen.
Gerd Thomas war lange Zeit Mitglied im Jugendbeirat des Berliner Fußballverbandes. Jeder Vereinsverantwortliche hätte dort schnell irgendwelche Geschichten über Eltern parat, meint er. Das Problem läge aber viel tiefer. Man müsse Ursachenforschung betreiben: "Wir sind der Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Alles, was Familie und Schule nicht mehr hinkriegen, sollen wir im Sportverein lösen." Das viel zitierte Bild des Fußballs als Spiegelbild der Gesellschaft.
Darum fordert Thomas von der Berliner Sportpolitik schon lange, mehr Verantwortung zu übernehmen. "Die Bedingungen in Berlin, gerade was die Fußball-Infrastruktur angeht, sind katastrophal. Alles wurde kaputtgespart. Es gibt zu wenig Sportplätze." Und viele Eltern seien unzufrieden mit den Rahmenbedingungen in den Vereinen. "Grundsätzlich versuchen wir den Eltern zu erklären, dass sie Nachsicht haben und Rücksicht nehmen müssten", sagt Thomas.
Daneben animiere man Väter und Mütter, sich selbst einzubringen. Ein Vorfall wie beim C-Jugendspiel Berliner AK gegen Staaken könne laut Thomas aber in jedem Klub passieren, "egal wie viel Präventionsarbeit sie machen."
Das "Funino"-Konzept gegen den Leistungsdruck
Ein großes Problem in den Augen des Internationale-Vorstands: Leistungsdruck, der bereits bei den Kleinsten anfängt. Selbstkritisch merkt Thomas an, dass auch er in seiner 15-jährigen Laufbahn als Jugendtrainer vieles zu ernst genommen habe, weil zu großer Ehrgeiz und Erfolgsdenken letztlich die Wurzel vieler Konflikte auf Sportplätzen seien.
Der DFB hat das Problem vor einigen Jahren erkannt und eine Kinderspiel-Initiative ins Leben gerufen. Die Kleinsten spielen seit 2021 verpflichtend nur noch im Rahmen von Spielfesten auf vier Mini-Tore ohne Torhüter und ohne Schiedsrichter im Drei-gegen-Drei-Format. Das sogenannte "Funino-Konzept" wird ab der G-Jugend teils bis in die E-Jugend (dort im Fünf-gegen-Fünf) praktiziert. Der Spaß, den Ball zu dribbeln und Tore zu erzielen, steht hier im Vordergrund. Es gibt keine Meisterschaft, keinen Turniersieger. Die Eltern bleiben räumlich auf Distanz. "Das ist der richtige Ansatz", findet auch Gerd Thomas.
Ein Trainer, der mit "Funino" sehr gute Erfahrungen gemacht hat, ist Moritz Künne von Lichtenberg 47. Seit drei Jahren trainiert der 24-Jährige eine G- und eine E-Jugend. Künne sagt: "Ich finde das Format sehr gut, weil es die breite Masse an Kindern anspricht. Alle werden gefordert, keiner steht rum und hat über 30 Minuten gefühlt nur drei Ballkontakte." Die Vorteile liegen auf der Hand: Die schwächeren Kinder bleiben dabei, den stärkeren Kindern schadet es nicht und die Last, dass die Kinder gewinnen müssen, entfällt. "Dadurch, dass die Eltern am Ende keine Tabelle sehen, ist viel Druck rausgenommen worden", sagt der Trainer. Der größte Ehrgeiz beim Kinderfußball komme laut Künne ohnehin von den Eltern. "Die Kinder freuen sich natürlich, wenn sie gewinnen, aber im Grunde wollen die nur kicken."
Vor den Turnieren ein Briefing für die Eltern
Aber wie geht der junge Trainer mit den Eltern seiner jungen Spieler um? "Vor den ersten Turnieren der Saison machen wir eine Ansprache, ein Briefing, damit alle Eltern wissen, wie es läuft." Danach wüssten die Eltern, dass am Platz niemand coacht - außer die Trainer. Bei seiner E-Jugend müsste er schon gar nichts mehr sagen, da wüssten alle Bescheid. Die Zusammenarbeit bei Lichtenberg 47 mit den Eltern hält der 24-Jährige für sehr gelungen. Viele würden ihn beim Training und seiner Arbeit unterstützen.
Martin ist einer von ihnen. Der 40-Jährige engagiert sich seit vier Jahren als Betreuer bei Lichtenberg 47, zwei Söhne spielen im Verein. Ohne das ehrenamtliche Engagement der Eltern wäre aus seiner Sicht ein Training in diesem Umfang kaum mehr möglich, sagt er, was aber auch an der Größe des Vereins liege. Als Vater und Co-Trainer merke er oft selbst, wie während der Spiele Emotionen in ihm hochkommen. Er nehme sich dann bewusst zurück und versuche, andere zu ehrgeizige Eltern am Spielfeldrand zu bremsen. "Das funktioniert meistens ganz gut", sagt er.
Besonders engagierte Eltern können über den Verein Lehrgänge besuchen und eine Breitensport-Lizenz erwerben. Lichtenberg 47 trägt die Kosten. Für viele Eltern, auch für Martin, ist diese Weiterbildung aber ein zeitlicher Aufwand, den die wenigsten stemmen können. In der Theorie ist die zusätzliche Ausbildung der betreuenden Eltern also ein schöner und sinnvoller Gedanke, in der Praxis ist er oft nicht umsetzbar.
Da aber bei den 47ern ein Konzept verfolgt wird, in das alle Eltern eingebunden sind, laufen die Spiele fast durchweg friedlich ab. Kommt es dennoch zu Problemen in Spielen mit am Spielfeldrand aggressiv coachenden Eltern, dann werden diese nach dem Spiel sofort von den 47er-Betreuern angesprochen. Zusammen analysiert man das Erlebte. Ein Selbstreflektierungsprozess, der alle weiterbringt.
"Soziale Verantwortung ernster nehmen"
Dass die Ehrenamt-Thematik mit den Eltern als Trainer auf den Prüfstand kommen müsse, um die Strukturen im Amateur- und Jugendbereich besser und professioneller zu machen, davon ist Internationale-Vorstand Gerd Thomas überzeugt. "Doch leider fehlt an der Spitze der Innovationswille." Denn Väter als nicht ausgebildete Trainer stellten eher eine Notlösung dar, weil zu häufig zwei Herzen in der Brust der Coaches schlagen würden und diese allzu oft ihre Emotionen nicht im Griff hätten. Verallgemeinern könne man dies aber nicht. Es gebe Trainerväter, die hervorragende Arbeit leisteten – ganz ohne Lizenz.
Gerd Thomas sieht hier aber ein grundsätzliche Problem im Berliner Fußball. Zu häufig würden die Vereine von Verbänden und der Politik allein gelassen - nicht nur bei den Sportstätten, sondern eben auch in der Gewalt- und der Trainerproblematik. "Die Verbände müssen den Bereich soziale Verantwortung einfach viel ernster nehmen", sagt Thomas.
Kooperationen mit Schulen könnten eine Teil-Lösung des Problems sein und die Vereine zusätzlich unterstützten, wenn beispielsweise pädagogisch geschulte Sportlehrer als Trainer integriert oder die Ganztagsschule auf den Trainingbetrieb abgestimmt werden könnte. Aber bislang passiert in diesem Bereich laut Gerd Thomas viel zu wenig.
Sportpolitik und Verbände sind also gefordert, genauer hinzusehen und gegenzusteuern. Denn letzten Endes ist es eine einfache Rechnung: In konzeptionell gut organisierten und sozial engagierten Vereinen mit einer hohen Anzahl an gut ausgebildeten Trainern wird langfristig besser und professioneller gearbeitet. In diesen Klubs kommt es auch zu weniger Konflikten mit Eltern, die ihren persönlichen Ehrgeiz, Beschützerinstinkte oder den angestauten Frust - etwa über schlechte Rahmenbedingungen - bei den Spielen lautstark abladen. Dass Emotionen hochkochen können, ist jedoch nie ganz auszuschließen. Am Ende ist es Fußball.
Stetige Kommunikation auf Augenhöhe
Die Beispiele FC Internationale und Lichtenberg 47 zeigen allerdings, in welche positive Richtung es gehen kann, wenn Vereinsverantwortliche ein Konzept verfolgen, mit Eltern stetig auf Augenhöhe kommunizieren und somit eine sich gegenseitig helfende Einheit bilden. Gerd Thomas sagt: "Wir müssen neue Modelle finden und wir brauchen die Diskussion, damit wir Dinge verändern können – zum Guten."
Damit extreme Gewaltvorfälle durch Eltern auch in Zukunft erst gar nicht passieren oder zumindest, wie beim Berliner AK, die absolute Ausnahme bleiben.
Sendung: rbb24|Inforadio, 21.12.2022, 12:15 Uhr